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Die Wildnis wird immer beliebter. Aber was bleibt von der Ruhe und der Stille, wenn die Touristen in Scharen kommen? NORR-Chefredakteur Gabriel Arthur hat sich im „Dalsland-Nordmarken Kanotland“ umgesehen, in den Lieblingsgewässern deutscher Kanu-Urlauber in Skandinavien.
Die Familie, die auf Södra Krokholmen ihr Lager aufgeschlagen hat, genießt den klaren Abend. Eltern und Kinder sitzen auf Isomatten um das Feuer herum. Sie trinken Tee und schauen hinaus auf das glitzernde Wasser des Östra Silen, das der Sonnenuntergang zum Leuchten bringt. Die Zeltplanen sind gespannt, Kochtöpfe und Packbeutel ordentlich aufgereiht. Die Paddeltour könnte perfekt sein, wenn nur eins nicht wäre: „Hier sind zu viele Deutsche“, sagt die Mutter missbilligend. Sie sagt es auf Englisch, aber mit hörbar deutschem Akzent. Sie heißt Reinhilde und ist mit ihren Lieben aus Stuttgart angereist. „Dalsland-Nordmarken Kanotland“ nennt sich das riesige Seensystem im Nordwesten des Vänern. Die meisten der Seen sind lang, schmal und tief und erstrecken sich von Norden nach Süden, wie der Lelång oder der Västra Silen. Zusammen mit dem Östra Silen, der eher rund geformt ist, bilden sie das populärste Kanugewässer in der Region. Die Seen sind umgeben von Gebirge mit hochstämmigem Nadelwald. An den Ufern wachsen Birken, sofern sie nicht von den Bibern gefällt werden, die hier leben. In den Wäldern gibt es viele wilde Tiere, sogar Wölfe und Luchse. Das Wasser ist fischreich und außerdem trinkbar. Die Luft ist frisch. Besonders jetzt, wo der Herbstwind über Dalsland fegt. Und doch — als der Fotograf Fredrik Schlyter und ich, jeder in seinem Kajak, auf den Seen herumpaddeln, bin ich als Schwede anfangs nicht sehr beeindruckt. Es wäre eine Übertreibung, dieses Gebiet als Wildnis zu bezeichnen. Die Landstraße ist nie weit entfernt. Ab und zu kommen wir an einer Lachsfarm oder an einem kleinen Wasserkraftwerk vorbei. Als Schwede habe ich das Gefühl, alles schon zu kennen, obwohl ich noch nie hier war. Große Wälder und tiefe Seen — was soll daran so besonders sein?
Wenn ich deutschen Gästen diese Frage stelle, bekomme ich überraschende Antworten. Viele von ihnen sind in diese Landschaft richtig verliebt. Im vorigen Sommer wurden im „Dalsland- Nordmarken Kanotland“ ungefähr 700 000 so genannte Naturschutzkarten verkauft. Diese Karte beinhaltet die Tagesgebühr für den Service der Lagerplätze, von denen viele mit Toiletten, Abfalltonnen und Feuerholz ausgestattet sind. Wer ein Kanu mieten möchte — es gibt hier 1 100 Kanadier, verteilt auf etwa zwanzig Vermieter — zahlt für die Karte 20 Kronen (ungefähr zwei Euro) pro Tag und Person. Bringt man sein eigenes Kanu mit, kostet sie 30 Kronen. Fast alle Karten werden an ausländische Besucher verkauft, und unter ihnen stellen die Deutschen die klare Mehrheit. Sie kommen zu Tausenden und bleiben mehrere Wochen.
Mit dem Wort „Ruhe“ umschreibt Reinhilde lächelnd, was sie und so viele andere hier suchen. Die Sehnsucht hat eine lange Tradition. Reinhilde zeigt uns das abgegriff ene Exemplar eines deutschen Schweden-Reiseführers aus den siebziger Jahren. Darin wird „Das Dalsland-Seensystem“ als größtes und bestes zusammenhängendes Kanugewässer Europas gerühmt. „Wir waren schon sechs Mal zum Paddeln hier. Aber in Zukunft gehen wir lieber im Sarek wandern. Hier sind inzwischen zu viele Leute“, sagt Reinhilde. Und mit „Leute“ meint sie: Deutsche.
Am nächsten Tag fängt es an zu regnen und zu stürmen. Fredrik und ich paddeln auf dem Östra Silen von einem Rastplatz zum anderen, fasziniert von dem Erlebnis, die einzigen schwedischen Besucher zu sein. In diesen frühen Herbsttagen treff en wir nur drei Landsleute. Eine ältere Dame, die den Kiosk an der Schleuse von Krokfors betreibt, und zwei Naturschutzbeauftragte der Gemeinde, oder auch „Park Rangers“, wie sie sich der Einfachheit halber nennen. Schwedisch ist in diesen Kanugewässern ein überflüssiges Idiom.
ALLEIN UNTER DEUTSCHEN
Am Lagerplatz Hängesten herrscht Betrieb wie auf einem kleineren Campingplatz. Etwa 20 Zelte stehen hier. Die Kanufahrer suchen Zuflucht vor dem Regen unter Windschutzdächern und aufgespannten Persennings. Sie spielen Karten, trinken Kaffee und studieren ihre Landkarten, während sie auf besseres Wetter warten. Als wir unsereThermosflaschen auspacken, werden wir angesprochen, natürlich auf Deutsch. „Oh, zwei Schweden — das ist ja toll!“ ruft ein Paar aus Hamburg. Alexander, ein netter, ruhiger Typ in den Dreißigern, arbeitet als Guide für einen der deutschen Veranstalter, die Reisen in diese Gegend arrangieren. Das Unternehmen bietet zwei- und dreiwöchige Touren an. Außer Dalsland hat man unter anderemauch Reisen zu polnischen Nationalparks oder nach Grönland im Programm. „Aber die Schweden-Reisen sind die beliebtesten, bei den Guides wie bei den Gästen.“ Alexanders Gruppe besteht aus dreißig Teilnehmern, die auf sieben Kanadier verteilt worden sind. Die Reiseagentur hat unlängst eine größere Bootsvermietung in Dalsland aufgekauft, um ihren Gästen den Transport eigener Kanus aus Deutschland zu ersparen. Die Gruppe geht für zwei Wochen auf Paddeltour. Die Konservendosen in den Vorratskisten haben deutsche Etiketten. „Es ist billiger, die Verpflegung mitzubringen, als sie in Schweden zu kaufen“, erklärt Alexander. Zur Zeit verdienen natürlich auch die schwedischen Kanuvermieter der Region an den deutschen Gästen. Aber man kann verstehen, dass die deutschen Reiseveranstalter bei der einheimischen Bevölkerung gewisse Irritationen hervorrufen: Das Personal ist deutsch, die Kanus sind in deutscher Hand, und sogar das Essen stammt aus Deutschland. Die Gäste müssen auf ihrer Dalsland-Reise kaum noch Geld in schwedische Kronen umtauschen. Die deutsche Agentur zahlt weniger Steuern als vergleichbare schwedische Unternehmen, deren Steuergelder außerdem direkt in das Urlaubsgebiet fließen. Mehrere schwedische Kanuvermieter, mit denen wir reden, äußern darüber ihren Unmut.
BILLIGES CAMPING
Andererseits muss man bedenken, dass es schwedischen Veranstaltern freisteht, sich auf dem deutschen Reisemarkt zu präsentieren und ähnliche Pakete anzubieten. Vor der Reise nach Dalsland sprach ich mit schwedischen Forschern, die den deutschen Schweden-Tourismus untersucht haben. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass viele deutsche Reiseveranstalter gern mit schwedischen Firmen vor Ort zusammenarbeiten würden. Aber die Deutschen halten die Schweden für weniger professionell; sie glauben, dass schwedische Unternehmen grundsätzlich kleiner seien und weniger an Wachstum interessiert. Deshalb wird schwedischen Outdoor-Spezialisten dringend empfohlen, deutsche Tourismusmessen zu besuchen und dort Kontakte zu knüpfen. Die Unkosten der Kommunen für Lagerplätze, Toiletten, Plakate und so weiter sind höher als die Einkünfte aus den Gebühren für die Naturschutzkarte. Alexander und andere Deutsche, mit denen ich mich unterhalte, finden die Naturschutzkarte geradezu unglaublich preisgünstig. „Für drei Euro kann man auf diesem schönen Lagerplatz übernachten — das ist ja fast umsonst!“ sagt Alexander. Er meint, die Schweden hätten keine Ahnung, wieviel sie tatsächlich verlangen könnten.
VORBILD MINNESOTA
Vielleicht weiß er nicht, dass solche Lagerplätze in Schweden normalerweise gar nichts kosten. Im „Dalsland-Nordmarken Kanotland“ ist es ausnahmsweise gelungen, von Touristen für den Aufenthalt in der Natur eine Gebühr zu erheben, auch wenn es sich nur um bescheidene Einnahmen handelt. Dahinter steht der Pionier Preben Mortensen, der in den sechziger Jahren den Bootstyp Kanadier in Schweden einführte. Das Familienunternehmen „Nordmarkens Kanot Center“ gehört zu den größten der
Bootsvermieterbranche. Preben ist ein zäher, grauhaariger Bursche mit klaren Grundsätzen. Er erzählt uns, dass er die Idee eines Gebührensystems aus den USA mitgebracht hat. „In Minnesota gibt es ein Seengebiet mit 2 800 Lagerplätzen, in dem der Kanutourismus streng geregelt ist. Nur eine begrenzte Anzahl von Kanufahrern darf sich jeweils in einer bestimmten Gegend aufhalten. Dadurch will man einerseits den Naturverschleiß in Schranken halten, andererseits den Urlaubern ein unverfälschtes Naturerlebnis ermöglichen.“ Preben berichtet, dass er schon in den sechziger Jahren die Behörden drängte, Gebühren einzuführen, und dass er die ersten Rastplätze eingerichtet hat. „Es hat mir viel Kritik eingebracht, dass ich die Menschen für ihren Aufenthalt in der Natur zur Kasse bitten wollte. Die Naturschutzbehörde war der Meinung, das stehe im Widerspruch zum Jedermannsrecht. Aber ich wusste, dass man den Tourismus irgendwie zügeln muss, wenn es nicht zu großen Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung kommen soll.“
Nach Prebens Ansicht funktioniert das System recht gut. Im vorigen Sommer wurden mehr Naturschutzkarten verkauft als jemals zuvor. Der nächste Schritt besteht darin, die Kanufahrer über größere Gebiete zu verteilen. Denn an den meisten Seen wird es noch Jahre dauern, bis sich Warteschlangen bilden. „Aber auf manchen Rastplätzen, zum Beispiel am Östra Silen, drängeln sich schon viel zu viele Leute. Sie hinterlassen eine Menge Abfall, und das Naturerlebnis bleibt auf der Strecke. Dabei ist das Seengebiet doch so groß! Wer bereit ist, sein Kanu auch mal von einem See zum anderen zu tragen, kann ganze Wasserläufe für sich allein haben.“ Der Besuch im Kanuland Dalsland- Nordmarken regt zum Nachdenken an, über den Tourismus im Allgemeinen und über das Jedermannsrecht im Besonderen. Viele der von schwedischen Urlaubern bevorzugten Auslandsziele sind durch die Schattenseiten des Reiseverkehrs viel mehr beschädigt worden als diese Gegend hier. Das krasseste Beispiel bieten die mit Charterflügen erreichbaren Orte an der Mittelmeerküste und in den Alpen. Dort ist die ursprüngliche Natur und Kultur oft schon ausgelöscht; die Einheimischen arbeiten als Zimmermädchen und Kellner, während das große Geld an die Reiseveranstalter fließt.
Als wir zwischen den Rastplätzen umherpaddeln, stelle ich beeindruckt fest, wie sauber die deutschen Gäste dann doch alles hinterlassen. Es hätte viel schlimmer kommen können. Wer einmal französische Kletterreviere besucht hat, weiß ein Lied davon zu singen: Wenn Tausende von Franzosen hier herkämen, würde sich die ganze Umgebung bald in eine Müllkippe verwandeln. Das Jedermannsrecht halte ich für eine der besten schwedischen Traditionen. Aber als es erfunden wurde, gab es noch keinen Massentourismus. Ist die Tradition deshalb überholt? Hoffentlich nicht.
Allerdings sollte man klarstellen, dass sie nicht so großzügig ist, wie manche glauben. Zwar gibt es auch Schweden, die Zweige abbrechen und Feuer auf Klippen anzünden, aber erlaubt ist das keineswegs. Man sollte gleichermaßen von einer Jedermannspflicht sprechen, von der Pflicht, die Natur zu schützen und zu bewahren, zu der man überall in Schweden freien Zugang hat.
ASTRID-LINDGREN-IDYLL
Nachdem wir ein paar Tage gepaddelt sind, finde ich, dass das System von Dalsland-Nordmarken eine gute Lösung ist. Als Tourist bekommt man etwas für sein Geld: Windschutz, Feuerholz, Toiletten. Und ich würde als Besucher nicht protestieren, wenn
der Preis um ein paar Zehner erhöht würde, so dass das System sich selbst finanzieren könnte. Was die vielen tausend Deutschen betrifft, die jeden Sommer hier herkommen,
so vergisst man nur zu leicht einen Aspekt, der mit Geld nichts zu tun hat. Kurz und knapp: Die Deutschen fühlen sich hier wohl.
Wir kommen an einem kleinen Zeltlager vorbei, das vier junge Leute aus Berlin aufgeschlagen haben. Sie sind zum ersten Mal in Schweden, und als wir sie nach ihren Eindrücken fragen, lautet die Antwort: „Die Stille — die Ruhe
— der Friede – es ist fantastisch.“ Ein bärtiger Kajakfahrer aus Bayern — der einzige Deutsche, dem wir begegnen, der nicht im Kanadier paddelt — hat sein Boot mit einem Elch-Aufkleber verziert. „Mein Glückstier“, sagt er mit einem verlegenen Lächeln.
Auf dem Rastplatz Bada am Östra Silen haben sich einige Familien um das Lagerfeuer versammelt. Sie sind mit einem Veranstalter unterwegs, der sich auf Familienreisen spezialisiert hat. Die Erwachsenen trinken Kaffee, und die Kinder essen Blaubeeren, die sie im Wald gepflückt haben. Unter dem Windschutz liest ein Mädchen laut aus „Pippi Langstrumpf“ vor — woraus auch sonst? Obwohl der Qualm des Feuers in den Augen brennt und der Regen rieselt, sehen alle friedlich und glücklich aus.
Während der Tage auf dem Östra Silen und den anderen Seen beginne ich die Landschaft mit neuen, mit deutschen Augen zu sehen. Ganz gewöhnliche schwedische Seen und Wälder sind auf einmal etwas Besonderes. Das Wasser schmeckt unvergleichlich, wenn man seinen Becher einfach in den See tauchen kann. Die Stille ist so erholsam und die Luft so frisch. Ich bin plötzlich stolz darauf, dass ausländische Gäste zu uns kommen, um das alles zu erleben.
Viele andere Länder haben bekanntlich eine andere Auffassung von Gastfreundschaft als Schweden. Sowohl in den USA als auch im Iran laden einen die Menschen gern zu sich nach Hause ein. In Schweden kommt das nicht so häufig vor. Vielleicht ist das hier unsere Art der Gastfreundschaft, denke ich. Und ich sage „Guten Tag!“, als mir ein weiteres Kanu mit glücklichen Deutschen an Bord entgegenkommt.