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Áhkká, der heilige Berg der Samen, liegt an der Grenze zum Nationalpark Sarek. Nur wenige haben im Winter seinen Gipfel bestiegen, und niemand ist auf Skiern heruntergefahren. Das heißt, bevor das NORR-Team dort ankam…
Zwischen den bedrohlichen Wolken auf der anderen Seite des Sees versteckt sich Áhkká, der heilige Berg der Samen, auch »Königin von Lappland« genannt. Ein großartiger, karger Berg mit sieben Gipfeln, die allesamt schöne samische Frauennamen tragen. Die schwedischen Namen sind weniger poetisch; der höchste, 2 015 Meter über dem Meeresspiegel, heißt Stortoppen, was einfach »der große Gipfel« bedeutet. An diesem stürmischen, schneereichen Morgen ist jedoch kein einziger Gipfel zu sehen. Der Höhenunterschied zwischen dem Seeufer und Stortoppen beträgt 1 550 Meter und ist verteilt auf eine Ski- und Kletterstrecke von etwa fünfzehn Kilometern. Die Wolkendecke wird vorübergehend dünner, und wir sehen flüchtig den ausgedehnten Gletscher vor uns.Aber bislang standen nur wenige Menschen im Winter auf Áhkkas höchster Spitze, obwohl sie als einer der besten Aussichtsplätze Schwedens gilt. Von dort oben soll man den ganzen Sarek-Nationalpark überblicken können, Europas größte Wildnis, eine Schneewüste mit kargen Bergen und sanften Tälern. Im Norden, heißt es, seien Kebnekaise und andere hochalpine, einsame Gebirgsregionen zu sehen. Doch dieser Berg ist in der kalten Jahreszeit nur schwer zu bezwingen. Die größten Herausforderungen für jeden, der in der schwedischen Wildnis auf Skiern unterwegs ist, sind nicht etwa große Höhenunterschiede, die Lawinengefahr, die dünne Luft oder Gletscherspalten – auch wenn hier ab und zu Lawinen niedergehen. Die Herausforderung besteht vielmehr in der Entfernung von der Zivilisation, falls einmal etwas schief geht, und in den unberechenbaren, risikoreichen Wetterverhältnissen. Aber es macht kaum Sinn, auf Sonnenschein zu warten, denn sonst wartet man womöglich bis zum Sommer. Bergabenteuer in diesem Teil Schwedens fi nden meistens im Nebel statt.
KEINE AUDIENZ BEI LAPPLANDS KÖNIGIN
Drei erfahrene Bergsteiger begleiten mich. Der Naturfotograf Håkan Hjort hat wohl mehr Zeit im Sarek verbracht als sonst jemand. Die Brüder Mikael und Johan af Ekenstam stammen aus dem Fjälldorf Hemavan. Mikael gilt als einer der besten Extremskiläufer Schwedens und hat in mehreren Skifilmen mitgewirkt. Johan arbeitet als Pistenwart in einem Skigebiet. Unser Plan ist einfach. Wir überqueren den See Áhkkájaure und laufen am Samendorf Änonjalme vorbei zu den Áhkká- Hütten. Das sind zwei einfache Übernachtungshütten, die dem Schwedischen Tourismusverband gehören, dessen Hütten im Abstand von einfachen Tagesetappen über die ganze Länge der Fjällkette verteilt sind. Dort werden wir den eisernen Ofen anheizen, ordentlich essen und auf gutes Wetter warten. Dann wollen wir den Berg besteigen und auf Skiern wieder herunterkommen. Als wir uns am Abend in die knarrenden Holzpritschen legen, ist uns noch nicht klar, ob man überhaupt den ganzen Áhkká auf Skiern befahren kann. Unseres Wissens hat das noch nie jemand probiert. Am nächsten Morgen wird der Plan gekippt. Wir sind zu ungeduldig, um besseres Wetter abzuwarten und beschließen, den Aufstieg trotzdem zu wagen. Laut unserer Karte können wir eine Abkürzung über den See nehmen, um ein Bachbett zu erreichen, das so aussieht, als würde es uns auf einen Gletscher führen.
Wenn wir den Gletscher überquert haben, sind wir am Gipfelgrat. Auf dem See haben einige Familien aus dem Samendorf ihre Zelte aufgebaut. Ringsherum haben sie Löcher ins Eis gebohrt, um Lachsforellen zu angeln. Wir grüßen einander. Oberhalb der Baumgrenze weht ein heftiger, anhaltender Wind, er überflutet den Berg wie brausendes Wasser. Nach kurzer Zeit beginnt es kräftig zu schneien. Das Bachbett führt uns in eine schmale, tiefe Schlucht, ein langes Tal, durch das wir uns gegen Wind und Schneegestöber vorwärts kämpfen. Schließlich geht es nicht mehr. Wir suchen Schutz hinter einer kleinen Anhöhe, essen mit Schnee belegte Butterbrote und trinken Blaubeersuppe, um uns aufzuwärmen. Die Königin von Lappland gewährt uns heute keine Audienz. Mit Hilfe des Kompasses machen wir uns auf den Heimweg zur Hütte. Nachts liege ich wach und höre die anderen schnarchen, und ich frage mich, ob wir den Aufstieg wirklich schaffen werden.
Am nächsten Morgen laufen wir auf Skiern zum Berg zurück, aber schon bald merken wir, dass der Wind noch stärker geworden ist. Als die Wolken für einen Moment aufreißen, sehen wir Stortoppen zum zweiten Mal. Vom Gipfelgrat spritzt eine etwa zehn Meter hohe Schneefontäne. »Wir könnten uns dort oben gar nicht halten«, stellt Johan fest. Trotzdem kommen wir heute schneller voran. In der Gruppe gibt es eine unausgesprochene Erwartung, die gestern noch nicht da war. Die Intuition flüstert uns in ihrer urzeitlichen Sprache etwas zu. Als wir im Schneetreiben in der Schlucht noch eine Kaffeepause machen, sagt Mikael: »Heute riskieren wir es wohl, bis nach oben zu kommen?« Es klingt wie eine Anweisung, nicht wie eine Frage. Dann folgt ein denkwürdiger Tanz mit Lapplands Königin, die genau zu wissen scheint, wie sie uns zu sich locken kann. Die Wolkendecke wird vorübergehend dünner, und wir sehen fl üchtig den ausgedehnten Gletscher vor uns. Einladend genug, um uns neue Kräfte zu verleihen. Wir verlassen das Tal und bewegen uns im Zickzack einen steilen Hang hinauf. Sonnenstrahlen umtanzen uns zwischen den Wolkenschleiern. Wir sind auf dem Gletscher noch nicht weit gekommen, als die Wolken sich lichten und wir den Berg zum ersten Mal aus der Nähe sehen.
GÖTTIN DES SCHÖNEN UND DER WEISHEIT
In der samischen Kultur hat »Áhkká« verschiedene Bedeutungen, je nachdem, wen man gerade fragt. Für manche ist Áhkká die Göttin, die für alles Schöne und Kluge in der Welt steht. Für andere ist sie die Urmutter. Auf jeden Fall ist sie eine sehr beeindruckende Frau. Ein mächtiges, ausladendes Bergmassiv mit Steilhängen, Mit hohem Tempo fahren wir in der Abendsonne über den Gletscher und weiter durch das Tal, durch das wir heute morgen aufgestiegen sind.Felswänden und schmalen Graten zwischen den Gipfeln umgibt uns. Der Puls wird schneller. Zwei schmale Schneerinnen führen zum Gipfel hinauf. Vielleicht sind sie lawinengefährdet. Vielleicht wird der Wind nicht abfl auen. Die Wolkendecke verdichtet sich wieder. Aber wir fühlen uns von dem Anblick gestärkt und gehen weiter. Bald wird es so steil, dass wir die Skier auf den Rucksack schnallen und statt dessen Steigeisen anlegen müssen. Haben wir uns des Aufstiegs würdig erwiesen? Oder spielt uns der Zufall in die Hände? Wir sind noch knapp hundert Meter vom Gipfel entfernt, als die Wolken anfangen, sich aufzulösen und zu verschwinden. Der Wind lässt nach. Innerhalb einer Stunde hat das Wetter sich vollkommen geändert, ein kleines Wunder der Wildnis. Schließlich kann jeder von uns seine Hand auf den schneebedeckten Gipfel legen. Dies ist wirklich einer der schönsten Aussichtsplätze Schwedens. Im Süden sehen wir den Sarek mit seinen spitzen, steilen, fast perfekten Bergen. Die Abendsonne sinkt über der endlosen Weite des Nationalparks Pajdelanta im Westen. Über dem See hängt orangegoldenes, warmes Sonnenlicht, und in einiger Entfernung sieht man Kebnekaise, wie versprochen.
ABFAHRT IN Der ABENDSONNE
Wir vergessen beinahe, weshalb wir hergekommen sind. Aber dann lösen wir die Skier von den Rucksäcken, es ist gleich sieben Uhr, und in ungefähr einer Stunde wird es dunkel. Die Skischuhe werden so fest geschnallt, dass es in den Waden pocht. Die Brustriemen werden justiert, die Skibrillen geputzt. Wir werden einer nach dem anderen vom Gipfel abfahren, einen lawinengefährdeten Abschnitt rasch passieren und uns dann in der weniger steilen Rinne weiter abwärts bewegen. Der Schnee spritzt hoch und fällt auf mich herab. Meine Skier sinken bei jedem Schwung tief ein, der Schnee ist schwer und weich, er zieht alle Kraft aus den Oberschenkeln. Ich kämpfe hart, um nicht zu stürzen. Ob ich es genieße? Ich glaube schon. Dann erreichen wir den Gletscher. Der Schnee ist vom Wind zusammengedrückt und vereist, wir haben eine enorme Gleitfläche vor uns. Mit hohem Tempo fahren wir in der Abendsonne über den Gletscher und weiter durch das Tal, durch das wir heute morgen aufgestiegen sind. Die Fahrt endet auf dem Grund einer kilometerlangen Schlucht, die das Schmelzwasser in tausend Frühjahren ausgewaschen hat. Rechts und links von uns erheben sich zehn Meter hohe Felswände, während wir uns zum Fuß des Berges hinunterschlängeln. Nach zehn Stunden auf dem Berg stehen wir nun wieder am See. Hätten wir Champagner dabei, würden wir ihn kräftig schütteln und in den stillen Abend hinein verspritzen. Stattdessen trinken wir noch ein wenig Blaubeersuppe. Wir sind müde, aber glücklich, und uns wird klar, dass wir mit dem Wetter unglaubliches Glück hatten. Die Wolken sind schon dabei, sich um Áhkká zu schließen. Am nächsten Morgen, als wir uns auf den Rückweg in die Zivilisation machen, ist der Berg wieder unsichtbar.