Hoch oben in einer weglosen Landschaft, auf einer Lichtung, die von Kiefern und dichtem Fichtenwald umgeben ist, singt Lotta ein leises Schlaflied für ihre Tiere. Vier majestätische Fjällkühe, weiß wie Schnee, lassen sich im Hof nieder und furzen geräuschvoll, während es langsam dunkel wird. Aus dem Kuhstall schauen ein paar neugierige Ziegen. Dann senkt sich Ruhe über das Weideland. »Gute Nacht, all ihr Tiere«, hören wir Lotta aus dem Vorraum flüstern, als wir in der Almhütte, die für ein paar Nächte unser Zuhause ist, in unsere Schlafsäcke kriechen.
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Die Kerze wird gelöscht und im Bett neben uns legt Lotta sich vorsichtig neben ihren Sohn Erik, der schon fest schläft. Plötzlich ist auf dem Hof der Schrei einer Ziege zu hören. Ein verzweifeltes, gellendes Meckern, das wie ein scharfes Messer die Luft durchschneidet. »Alex«, seufzt Lotta und steigt widerwillig aus dem warmen Bett. Draußen auf der Weide trampelt die Ziege Alex unglücklich in ihren eigenen Klauenspuren herum und sucht panisch nach ihrem Kitz, das sie bei sich haben möchte, wenn sie schlafen geht. Lotta, die ihre Tiere genauestens kennt, weiß sofort, wo das Kleine zu finden ist, und führt die beiden zusammen. Aber Alex ist noch nicht zufrieden. Das Meckern geht weiter, jetzt in der Kopfstimme. Lotta ahnt schon, woran es fehlt: Die eigensinnige Ziegendame wünscht auch ihre Mama, die Oma des jungen Zickleins, an ihrer Seite. Routiniert fuhrwerkt Lotta zwischen den schläfrigen Ziegen herum. Dann ist das kleine Trio komplett und die geruhsame Stille über den Weidegründen kehrt zurück.
Almkultur mit Caffè Latte
Irgendwann tagsüber, nachdem wir viele Stunden gefahren waren, haben Linda und ich unser Auto auf einem staubigen Schotterweg geparkt. Zu Fuß folgen wir dem Wegweiser, der uns durch den wilden Wald in Richtung des endlosen Fjälls führt. Wir befinden uns im Naturreservat Städjan-Nipfjället im nördlichen Dalarna und unser Ziel ist die Alm Lofjätåsen. Für zwei Tage und Nächte haben wir die Großstadt hinter uns gelassen. Wir möchten ausprobieren, wie es sich fernab der modernen Zivilisation auf einer »Fäbod«, einer traditionell-schwedischen Viehwirtschaft, lebt. Kleinwüchsige Fjällbirken und trockenes Wollgras leiten uns über Moorböden und schüttere Heideflächen, auf Pfaden, die von Paarhufern ausgetreten sind. Nach einer Wanderung von zwei Kilometern öffnet sich plötzlich eine Lichtung im tiefen Wald. Hinter einem Zaun stehen Ziegen und Zicklein in perfekter Reihe und schauen uns neugierig entgegen. Alle in niedlichen, graugesprenkelten Anzügen und mit schönen, langen Bärten. »Willkommen!«, hören wir es aus der Almhütte rufen. Da steht Lotta Rosborg und ihr Sohn Erik, knapp drei Jahre alt, hängt auf ihrer Hüfte.
Die strubbeligen Haare der beiden verraten, dass sie gerade einen Mittagsschlaf gemacht haben. Der Duft von frisch zubereitetem Kaffee breitet sich im Hof aus. Lotta bittet uns in die gemütliche Hütte und serviert uns einen »Alm-Latte«, für den sie starken Kochkaffee, drei Löffel pro Tasse, mit süsser Ziegenmilch verdünnt. Die Alm Lofjätåsen gehört der Provinzregierung von Dalarna, wird aber seit vierzehn Jahren von Lotta bewirtschaftet. Nach alter skandinavischer Tradition kommt sie jeden Sommer mit ihren Tieren herauf, die dann hier oben weiden, während die mheimischen Koppeln unten sich bis zum Herbst erholen können. Zwei Monate verbringt sie hier mit dreizehn Ziegen und acht Kitzen, einem kastrierten Bock und vier Fjällkühen. Und es gibt auch Platz für neugierige Besucher, die mehr über die uralte Almkultur erfahren wollen.
Lockruf des Mittelalters
Lotta erklärt uns die wenigen Verhaltensregeln, die es auf dem Hof zu beachten gilt. Pipi macht man im Freien, gleichmäßig um das Haus herum, um den Bären fernzuhalten. Jedes Mal, wenn man warmes Wasser draußen ausgießt, muss man »Achtung!« rufen, damit die Hausgeister, Zwerge oder Trolle, die da unten wohnen, sich nicht verbrennen. Das ist auf der Alm seit jeher so. Und man darf keine schmutzigen Schuhe auf das Lattenrost vor dem Haus stellen, denn das ist praktisch der einzige Ort, zu dem die Tiere keinen Zutritt haben. Auf dem Weideland stehen die Hütte, in der wir wohnen, und ein schöner alter Kuhstall. In einem größeren Wärmehaus werden Käse und Molkenstreichkäse hergestellt.
Weiter unten, am Bach, liegt das Kühlhaus, durch das normalerweise Wasser aus einer kalten Quelle fließt, um dann in eine Holzkiste geleitet zu werden, die wie ein Kühlschrank funktioniert. In diesem Sommer aber herrscht extreme Trockenheit mit Rekordhitze und rundherum in Dalarna und Härjedalen brennen die Wälder. Man darf kein Feuer anzünden und die kalte Quelle hat nicht mehr genug Wasser, um das Kühlhaus zu füllen. Der Sommer ist eine Herausforderung. Überall in der Hütte sind kleine Kühlvorrichtungen in Form von Töpfen mit kaltem Wasser aufgestellt, um Käse und Milch frisch zu halten. Weil Feuer verboten ist, hängt alles vom Gas ab. »Seid mal still. War das eine Kuhglocke?«, fragt Lotta und späht besorgt zum Wald hinüber. Es ist schon später Nachmittag, ein kühler Wind streicht über die Lichtung und liebkost die hohen Baumwipfel. Draußen auf der Weide veranstalten die jungen Zicklein ein Halligalli mit Kletterkunststücken, Stoßkämpfen und allerlei Unfug. Mittendrin steht Erik mit einem Milchschnurrbart und hält sein Lieblingskitz Laban fest im Arm. Nur die Kühe sind noch nicht aufgetaucht und das beunruhigt Lotta. Auf der Alm haben die Tiere die Freiheit, zu kommen und zu gehen, wann sie wollen. Besonders die Kühe machen oft lange Wanderungen. Aber wenn sie nicht rechtzeitig zurückkehren, um gemolken zu werden, kann sich ihr Euter entzünden, was sowohl schmerzhaft als auch gefährlich ist. Außerdem gibt es Raubtiere im Wald.
Im Gesang, der mich unerwartet tief berührt, klingt Sehnsucht nach verschwundenen Zeiten mit.
»Das ist die Kehrseite der freien Tierhaltung«, sagt Lotta, stellt sich auf den höchsten Punkt der Weide und holt tief Luft. Sekundenlang kommt auf der kleinen Lichtung alles zum Stillstand. Über Wald und Fjäll strömt ein Gesang, so eindringlich und klangstark, dass er im Umkreis von mehreren Kilometern zu hören sein muss. Töne, die ich nie zuvor gehört habe, von einer urtümlichen Kraft, die mich daran erinnern, dass alles Schöne vergänglich ist. Es handelt sich um eine spezielle Vokaltechnik namens »Kulning«, eine Art Lockruf, der seit dem Mittelalter auf den Almen benutzt wird, um das Vieh heimzuholen. Der Gedanke daran, wie viele Frauen hier schon vor Lotta in der Dämmerung auf der Weide gestanden und nach ihren Tieren gerufen haben, ist aufregend. Im Gesang, der mich unerwartet tief berührt, klingt die Sehnsucht nach verschwundenen Zeiten mit.
Streicheleinheiten für warme Mäuler
Während sie auf die Fjälldamen wartet, zieht Lotta ihre Stallklamotten an und bereitet das Melken der Ziegen vor. Sie bindet sich ein rotkariertes Kopftuch um und füllt einen Eimer grosszügig mit Futterpellets. Geschickt bewegt sie sich zwischen den Tieren und nennt jedes einzelne bei seinem Namen. Sie plaudert mit ihnen, während sie melkt, und muntert sie mit Lob und Schmeicheleien auf. Voller Wärme erzählt sie uns von den speziellen Eigenheiten ihrer Schützlinge und zu jedem gibt es eine Geschichte. Als die ältere Ziege Salotta an der Reihe ist, tätschelt Lotta sanft ihre Brust und fragt, wie es dem schmerzenden Hinterbein geht. Eine andere bekommt einen überraschenden Kuss und stets regnet es Leckereien. Man versteht immer besser, dass Lotta manchmal das Fleisch eines geschlachteten Tiers sehr lange in der Kühlung liegen lässt, bis die Trauer abgeklungen ist. »Das ist der Lauf der Welt, wenn man mit Tieren lebt«, sagt Lotta und seufzt. Sie hat sich nie richtig daran gewöhnt, dass sie sich von ihren Freunden irgendwann trennen muss.
Aus dem Wald ertönt Geheul. Erik ist mit den Gummistiefeln im Lehm steckengeblieben. Lotta bittet mich, das Melken zu übernehmen und ich versuche, mich an das zu erinnern, was ich vorhin in Lottas Almlektion, beim Melken eines glitschigen gelben Plastikhandschuhs, gelernt habe. Jetzt steht die Ziege Greta vor mir und starrt mich an. Was bei Lotta so leicht aussah, erscheint mir unmöglich. Mit meiner viel zu unsicheren Hand und meiner Angst, Greta wehzutun, bekomme ich nicht einen einzigen Tropfen Milch heraus. »Stell dir vor, du bist allein mit deiner Ziege und musst sie melken, weil sie sonst krank wird«, ruft Lotta aus dem Wald. Greta stupst mich aufmunternd an und ich fühle ihren warmen Atem, als sie mein Haar beschnuppert. Nach ein paar winzigen Tropfen entschuldige ich mich stumm bei ihr und lasse Lotta übernehmen, mit Erik auf ihrem Schoß.
Endlich sind Kuhglocken zu hören und in der Dämmerung tauchen die vier prächtigen Fjällkühe auf.
Endlich sind Kuhglocken zu hören und in der Dämmerung tauchen die vier prächtigen Fjällkühe auf. Majestätisch trotten sie über die Weide, einer erleichterten Lotta entgegen, die sie mit Zärtlichkeiten und Leckerbissen willkommen heißt. »Was für tüchtige Mädchen«, flüstert Lotta ihnen lobend zu. Die Jungziegen sind ganz aufgeregt und verwandeln die Leitkuh Ruth in ein lebendes Spielgerät, indem sie ihr immer wieder auf den Rücken springen. Sie lässt die Kleinen gutmütig gewähren. Die Gegenwart der Tiere ist überall spürbar: Wenn man nicht gerade ein warmes Maul streichelt, muss man zumindest einem Kuhfladen ausweichen.
Gemeinsam einsam
Der Morgen ist kühl und still. Die Tiere recken und strecken sich schläfrig nach der langen Nacht. Wir genießen den Morgenkaff ee auf der Treppe. Langsam kommt die Sonne hinter den Baumwipfeln hervor. Es ist verlockend, in der Wildnis zu wohnen und von dem Wenigen zu leben, das einem zur Verfügung steht. Lotta aber ruft uns rasch in die Realität zurück: »Längst nicht alle Sommer hier sind so wie dieser«, sagt sie. Es gibt Wochen, in denen weder sie noch die Tiere sich wegen der Kriebelmücken draußen aufhalten können. Oder vollkommen verregnete Monate, wo alles ständig feucht und schmutzig ist. »Und dann die Einsamkeit«, sagt Lotta und schaut regungslos auf den dunklen Fichtenwald, der die Weide umgibt. Sie erzählt von Augenblicken, wo sie das Gefühl hat, dass die Bäume immer näher herangekrochen kommen und den Sauerstoff vertilgen. Wo sie anfängt, den Blumen ihr Herz auszuschütten und Symptome von Lagerkoller sich gnadenlos bemerkbar machen. Ein Gatter steht off en und entlässt uns geradewegs in die Wildnis.
Nachdem die Morgenarbeiten erledigt sind, dürfen wir den Tieren bei ihrer Wanderung über das Weideland folgen. Weiches Frauenhaarmoos führt uns hinaus ins Moor. In weiter Ferne türmen sich die Berge von Härjedalen auf. Erik balanciert auf einem umgestürzten Baum. Saftige Sumpfbeeren schmelzen in meinem Mund und neben mir mampft ein Zicklein grüne Blätter von einer üppig belaubten Zwergbirke. Wir sind alle in unserer eigenen Welt und doch zusammen. Die Tiere zeigen uns den Weg, denn wir wissen, dass sie niemals in dieselbe Richtung gehen würden wie der Bär. Für Linda und mich ist es Zeit, zurückzuwandern bis zu dem staubigen Schotterweg, an dem das Auto auf uns wartet. Irgendwie aufrechter und mit neuem Wissen über diese jahrhundertealte, rührende Fäbods-Tradition winken wir Lotta und Erik zum Abschied zu. In der Ferne sehen wir die Tiere weiterwandern, so wie sie es seit vielen Sommern schon getan haben, hinaus in das wilde grüne Land.
Sommer auf der Weide
1. Västtjärnslindan Fäbod
Västtjärnslindan in Dalarna wird seit 1663 als Fäbod betrieben. Neun Wochen lang machen hier Kühe, Kälber, Schweine, Schafe und Hühner Urlaub. Zweimal am Tag wird gemolken und die Milch wird zu Butter und Käse verarbeitet. Gäste wohnen in einer kleinen roten Stuga und sind willkommen, bei allen anfallenden Tätikeiten mitzuhelfen.
2. Fäboden Skallskog
Auf Fäboden Skallskog bei Leksand gibt es seit 1640 Vieh- wirtschaft. Jedes Jahr Ende Mai ziehen Bäuerin Alice und ihr Mann mit ihren Fjällkühen ein und sorgen für eine traditionelle Atmosphäre. Die beiden Farmer lassen Gäste an ihrem Leben in und mit der Natur teilhaben und erzählen gerne die spannenden Geschichten ihrer Vorfahren.
3. Torrlids Levande Fäbod
Das Fäbod Torrild in Älvdalen ist seit dem 17. Jahrhundert in ständigem Betrieb. Jeden Sommer wohnen hier Tiere und Menschen auf den Weidegründen. Auf Torrlids Wiesen werden Gäste mit hausgemachten Broten und Kaffee empfangen, können die lebendige Geschichte der Viehzucht miterleben und selbst produzierte Butter und Käse kosten.
4. Fäboden Kårebolssätern
Im Tiomilaskogen in Värmland auf dem Fäboden Kårebolssätern mit seinen weitläufigen Sommerweiden wird das Wasser aus der Quelle geschöpft. Strom gibt es keinen. Tagsüber grasen die Fjällkühe und Pferde hier frei im Wald. Gäste erleben die uralten schwedischen Bräuche, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.
5. Fäboden Averselen
Auf dem Fäboden in Averselen lebt Bauer Lars mit seinen Kindern ein traditionelles Fäbod-Leben. Auf den Weidegründen tummeln sich Kühe, Ziegen, Hühner und Kaninchen. Gäste lernen das Handwerk der Weidearbeit, melken die Kühe, machen Käse, rühren Butter oder backen Brot. Zwischendurch bleibt immer Zeit für einen Almkaffee.