Der Wind, der uns an diesem Abend in dem kleinen Ort Lysekil an der Westküste Schwedens empfängt, zerrt an unseren Jacken, pfeift uns in die Ohren und wütet so heftig, dass wir uns kaum auf den Beinen halten können – es scheint, als wollte er uns direkt wieder zurück in den Bus nach Göteborg jagen. Doch Melanie, Victoria und ich haben uns fest vorgenommen, uns von den hartnäckigen Böen keinesfalls einschüchtern zu lassen. Zu neugierig sind wir auf das Wanderabenteuer, das in den kommenden drei Tagen vor uns liegt: Auf einigen Etappen des Kuststigen, einem Wanderweg, der sich auf 376 Kilometern von Göteborg bis nach Strömstad schlängelt, wollen entlang dramatischer Felsklippen, verwunschener Wälder und uriger Fischerdörfer die schwedische Westküste erstiefeln.
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Unsere erste Herausforderung besteht allerdings darin, dem stürmischen Empfang zu trotzen und mit zerzausten Haaren vor den Augen und ohne, dass wir nur ein Wort von dem hören könnten, was die jeweils andere zu sagen versucht, den Weg zu unserer Unterkunft zu finden. Als wir schließlich am Strandflickornas Havshotell eintreffen, sind wir mehr als froh, dem tosenden Sturm vorerst entkommen zu sein. Das Hotel, das wir als Basis für den ersten Tag auf dem Kuststigen nutzen wollen, ist eine charmante Mischung aus viktorianischer Eleganz und skandinavischer Gemütlichkeit. Die Zimmer sind herrlich nostalgisch – mit antiken Möbeln und maritimen Details, die einen in vergangene Zeiten zurückversetzen. In der Küche erwartet uns bereits eine deftige Fischsuppe, die wir genüsslich vertilgen. Draußen rüttelt der Wind weiter an den Fensterläden, während wir drinnen bei Tee und Schokolade sitzen und uns auf die bevorstehenden Tage einstimmen.
Zwischen Meer, Granit und mystischen Sagen
Am nächsten Morgen sind wir bereit für unsere erste Etappe – eine Wanderung zum Naturreservat Stångehuvud. Nachdem wir uns ein kräftiges Frühstück aus frisch gebackenem Brot, leckerem Käse, Joghurt und frischen Beeren einverleibt haben, gesellt sich unsere heutige Begleiterin, Anette, zu uns. Sie ist Naturguide in Lysekil und wird uns mehr von der Geologie und der einzigartigen Flora und Fauna des Reservats berichten.
»Stångehuvud ist berühmt für seine leuchtend roten Granitfelsen, die vor fast einer Milliarde Jahren entstanden sind und seitdem den Elementen trotzen«, erzählt sie uns auf unseren ersten gemeinsamen Schritten. Der Wind hat sich gelegt und der Strand, den wir nun passieren ist so einladend, dass wir nicht anders können, als ein erfrischendes Herbstbad zu nehmen. Das kühle Wasser erweckt unsere noch leicht schlaftrunkenen Glieder vollends und wir sitzen noch eine Weile auf dem roten Granit und genießen die Aussicht auf die Bucht und das pittoreske Lysekil, das vor uns liegt. Möwen kreischen in der Luft und die Wellen schlagen unermüdlich ans Ufer.
Der Kuststigen führt uns nun weiter durch eine mystische Landschaft aus rotem Stein, die von der letzten Eiszeit geformt wurde. Anette zeigt uns, wie sich die widerstandsfähigen Pflanzen hier an die raue Küstenlandschaft angepasst haben. Zwischen den Felsspalten wachsen winzige, bunte Blumen, die trotz der Kargheit in voller Blüte stehen. Die Vegetation hier hat eine unglaubliche Überlebensfähigkeit entwickelt – Pflanzen wie Mauerpfeffer und verschiedene Flechtenarten haben sich an das salzige, windige Küstenklima angepasst und überdauern an diesem Ort, wo kaum etwas anderes wächst. Nun geht es über die Felsen hinweg, die teilweise vom nächtlichen Regen noch derart glitschig sind, dass wir aufpassen müssen, um nicht auszugleiten und auf dem Hintern zu landen.
Während wir konzentriert einen Schritt vor den anderen setzten, berichtet uns Anette von dem alten Leuchtturm Stångehuvud, dem wir uns nähern. Dieses kleine, verwitterte Leuchtfeuer, das einst Seeleute sicher durch die stürmischen Gewässer der Küste führte, ist heute mehr ein Symbol der Vergangenheit. Doch es birgt Legenden. Eine alte Geschichte besagt, dass der Geist eines verschollenen Seemanns an stürmischen Nächten im Lichtkegel des Leuchtturms erscheint, als würde er noch immer nach seinem Heimathafen suchen. Es ist eine Sage, die uns kurz erschaudern lässt, während wir uns weiter in diese raue, mythische Landschaft wagen.
Die Küste hier ist so wild, dass es fast schwer fällt, sich vorzustellen, wie Menschen einst in kleinen Booten gegen diese Naturgewalten kämpften. Und genau in diesem Moment zeigt uns die Natur wieder, wie unberechenbar sie sein kann: Während wir an einem besonders kniffligen Abschnitt entlang eines felsigen Pfades nach oben klettern, trifft Victoria plötzlich eine mannshohe Welle, die sich über die Felsen bricht und sie von Kopf bis Fuß durchnässt. Ihr überraschter Schrei ist gefolgt von einem Lachkrampf. Melanie und ich können uns knapp auf den Beinen halten. »Das wäre dann mein zweites Herbstbad für heute«, sagt Victoria und wir kichern, während wir uns wieder auf den Weg machen. Wir passieren einige bunte Fischerhütten und lassen uns vor einer von ihnen nieder, um unser Picknick zu verspeisen und Kaffee aus unseren Thermoskannen zu schlürfen.
Während wir hier sitzen, braut sich klammheimlich eine Regenfront über uns zusammen. Auch wenn unsere Kleidung den nassen Tropfen gut gewappnet wäre, beschließt Victoria, dass sie heute nicht noch ein drittes Mal nass werden möchte. So lassen wir es für heute gut sein und gehen in einem Bogen zu unserem Hotel zurück, um den restlichen Abend bei Kerzenschein, Fischburgern und köstlichem Schokoladenmousse zu verbringen, während wir den prasselnden Regentropfen an der Fensterscheibe lauschen und Kraft für den nächsten Tag zu sammeln.
Verzaubert von Berg und Fjord
Nach einer weiteren Nacht im behaglichen Strandflickornas Havshotell nehmen wir am nächsten Morgen früh den Bus nach Brodalen. Heute steht eine andere Etappe des Kuststigen für uns auf dem Programm – der Aufstieg zum Sötorpsberget, dem höchsten Punkt der Gemeinde Lysekil. Der Weg führt uns durch eine dicht bewaldete Märchenwelt, die uns sofort in seinen Bann zieht. Riesige, moosbewachsene Felsbrocken liegen verstreut zwischen hohen, knorrigen Bäumen, deren Wurzeln wie uralte Hexenfinger aus dem Boden ragen. Es wirkt, als wäre der Wald der nordischen Mythologie entsprungen – still und voller Geheimnisse.
Emsig erklimmen wir Schritt um Schritt den Sötorpsberget. Nach eniger Zeit lichtet sich der Wald und vor uns liegt ein breites Felsplateau. Die Aussicht, die sich uns nun vom Gipfel aus bietet, entschädigt für den teils schweißtreibenden Aufstieg. Der Åbyfjord, der sich tief ins Landesinnere schneidet, breitet sich unter uns aus. Sein tiefblaues, glitzerndes Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen. Die Luft ist frisch und klar, und während wir dort oben stehen, fühlen wir uns eins mit dieser rauen Natur, die stoisch jeder Witterung trotzt.
Nach einer Pause, in der wir unsere Sandwiches verzehren und Tee trinken, machen wir uns an den Abstieg, der teilweise nicht weniger kniffelig ist. Unsere Knie sind mittlerweile müde und ein Blick auf Melanies Uhr verrät uns, dass wir noch den Bus zum Nordens Ark, unserem Ziel für die Nacht, erwischen könnten, wenn wir uns ein bisschen beeilen. Zwar führt der Kuststigen direkt an dem Tierpark, der auch ein Hotel mit Restaurant beherbergt, vorbei, aber der Himmel hat sich schon wieder bedrohlich zugezogen und wir entscheiden uns dafür, die letzten Kilometer nicht mehr zu Fuss zurück zu legen. Eilig stiefeln wir zurück zur Bushaltestelle und springen an Bord des Buses, der genau in diesem Moment eintrifft.
Wir sind verzaubert von den vergangenen Stunden und plaudern so euphorisch über unsere Erlebnisse, dass wir nicht bemerken, dass wir den falschen Bus ergattert haben. Fluchend steigen wir bei der nächsten Gelegenheit aus und marschieren wie eine Entenfamilie angespannt hintereinander entlang der Leitplanke an der viel befahrenen Straße zurück zum nächstgelegenen Halteplatz, während sich die Regenwolke über uns ergießt. Auch wenn wir uns ärgern – ein wenig schmunzeln müssen wir doch über unser Missgeschick.
Am Abend treffen wir, mit dem richtigen Bus, schließlich wohlbehalten am Tierpark Nordens Ark ein. Nordens Ark wurde 1989 gegründet und verfolgt das Ziel, gefährdete Arten durch Zuchtprogramme, Forschung und Bildung zu bewahren. Er beherbergt über 80 verschiedene Tierarten, darunter Schneeleoparden, Wölfe und verschiedene Vogel- sowie Reptilienarten. Direkt im Park befindet sich das einfache Hotel, in dem wir heute nächtigen wollen. Es gibt ein köstliches Drei-Gänge Menü und wir sitzen noch lange beisammen, bevor wir in unsere Betten kriechen.
Höhlenmalereien und eine unerwartete Rettung
Am nächsten Morgen drehen wir noch eine Runde durch den weitläufigen Tierpark selbst und bewundern Schneeleoparden, Wölfe und Luchse, bevor wir unsere Rucksäcke schultern und uns wieder auf den Kuststigen begeben. Heute führt uns unser Wanderweg weiter weg von der Küste ins Landesinnere. Auf dem Weg dorthin entdecken wir tiefe Schluchten mit sprudelnden Bächen und unerwartete Höhlenmalereien an einem abgelegenen Felsvorsprung. Die einfachen, in den Stein geritzten Figuren erzählen von einer längst vergangenen Zeit, als Menschen diese raue Landschaft durchstreiften. Es ist ein Moment, der uns innehalten lässt und uns wieder bewusst macht, wie tief die Geschichte unserer Vorfahren hier verwurzelt ist.
Weiter geht es durch saftige Tannenwälder und über weite Wiesen, während wir fröhlich über dies und jenes plaudern. Auf einmal endet der Weg auf einem Feld. Wir sind etwas verwundert und schauen auf die Karte. »Sag mal, waren wir da drüben nicht schon vor einer halben Stunde?«, spekuliert Melanie. Tatsächlich sieht die andere Seite des Feldes unserem zuvor zurückgelegten Weg verdächtig ähnlich. Versehentlich müssen wir wohl irgendwie vom Weg abgekommen und im Kreis gelaufen sein. Wir schimpfen vor uns hin, müssen aber gleichzeitig lachen. »So, die nächste Stunde unterhalten wir uns einfach mal nicht, und fokussieren uns auf die Wegführung«, ordnet Victoria schmunzelt an.
Zurück auf dem Kuststigen, dessen Abzweigung wir schließlich wiederfinden, geht es über sanfte Hügel hinweg mit herrlichen Aussichten auf die tiefgrünen Wälder zu unseren Füssen. Wir machen eine Pause, trinken Kaffee und essen Kanelbullar. Die Bäume um uns herum scheinen ihre grünen Gewänder über Nacht gegen warme gelbe, orange und rote Farbtöne getauscht zu haben. Das Licht der bereits tief stehenden Sonne verziert die Landschaft mit einem goldenen Schimmer. Wir machen viele Bilder und können uns nicht sattsehen an diesem magischen Farbspiel. Entlang von Wiesen und durch naturbelassene Waldgebiete wandern wir immer weiter. Auch wenn es sich um den gleichen Wanderweg wie noch vor zwei Tagen handelt – der Sturm und die dramatischen Klippen scheinen ewig weit entfernt. Je näher wir dem Bottna Inn, unserer letzten Herberge auf dem Abenteuer kommen, desto ruhiger und friedlicher wird die Landschaft.
Verloren im Märchenwald
Auf einem Hügel im Wald legen wir eine weitere ausgedehnte Pause ein und lassen uns unsere Gesichter von der Herbstsonne wärmen. Wir genießen die friedliche Stille, die uns hier überall umgibt. Wenig später führt der Weg wieder durch den tiefen, dunklen Märchenwald. Es würde uns nicht wundern, wenn uns hier Rumpelwichte und Trolle begegnen würden. Die Sonne ist mittlerweile am Waldrand verschwunden und es wird immer dunkler. Der Sommer ist vorüber und Mitte Oktober geht die Sonne in Schweden bereits kurz nach 18 Uhr unter. Ein Blick auf die Karte verrät uns, dass wir dem Bottna Inn tatsächlich noch gar nicht so nahe sind, wie wir angenommen hatten. Wir entdecken, dass uns der Weg noch in einer weiteren Schlinge auf einen steilen Berg hinaufführen will und beschließen, unsere Gastgeberin Åsa, vom Bottna Inn, anzurufen und ihr Bescheid zu geben, dass es noch etwas dauern wird, bis wir eintreffen. Zu sehr haben wir uns in der idyllischen Landschaft verloren. »Wo seid ihr?!«, ertönt eine fast entsetzte Stimme. »Ihr müsst hungrig sein, ich sammle auch ein«, hören wir Åsas Stimme im Hörer.
Statt den Kuststigen weiter zu folgen, suchen wir nach der nächstgelegenen Straße, die wir in zwanzig Minuten erreichen. Dort wartet bereits Åsa in ihrem kleinen roten Auto. Wir steigen dankbar ein. »Es geht vielen meiner Gäste so«, schmunzelt sie. »Die Landschaft am Kuststigen ist so magisch, dass man gerne die Zeit vergisst.« Im Speiseraum von Åsas Herberge lassen wir uns wenig später frischen Fisch, blanchierten Spitzkohl und einen köstlichen Apfelkuchen zum Nachtisch schmecken.
Wir lassen unser Wanderabenteuer Revue passieren. Es war stürmisch und so manches Mal unvorhergesehen. Der Kuststigen hat es uns vielleicht nicht immer ganz leicht gemacht, aber ist es nicht das, was ein Abenteuer ausmacht? Dafür sind wir mit ihm gänzlich dem Alltag entkommen, unsere Köpfe wurden vom Wind frei gepustet und unsere Seele von den magischen Aussichten und tiefen Wäldern berührt. Es sind auch die kleinen Missgeschicke, die unverhofften Entdeckungen und die Momente, in denen die Natur uns ihre unbändige Kraft gezeigt hat, die diese Wanderung zu einem unvergesslichen Abenteuer gemacht haben. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir mutig und voller Vorfreude auf die von Wildheit und Schönheit geprägten Wanderpfade Westschwedens hinaus schreiten werden.