Im Hafen von Jyväskylä kommen alte Erinnerungen hoch. Nur ein paar hundert Meter entfernt liegt der Uni-Campus, auf dem ich fünf Jahre meiner Studentenzeit verbrachte. Im Sommer hingen wir oft am Ufer des Stadtsees Jyväsjärvi ab, badeten und beobachten, wie die Boote Richtung Päijänne-See verschwanden oder von dort zurückkehrten. Im Winter zogen wir hier unsere Schlittschuhe an und glitten über das geräumte Eis, mit herrlichem Rundumblick auf die schneebedeckte 140 000-Einwohner-Stadt, die sich um das zentrale Gewässer herum aufbaut.
Seither ist der Jyväsjärvi für mich verknüpft mit »Rauskommen« – raus aus den Seminarräumen, raus aus meiner Studentenbude, raus aus der Stadt. Und in diesem Moment stelle ich mir vor, wie es wohl gewesen wäre, hätte ich damals in diesem schwimmenden Luxusdomizil gewohnt, das da gut vertäut am Steg vor mir liegt.
Auf dem Wasser zu Hause
»Kommt rein«, fordert uns Iouri Nicholsson auf und führt uns auf sein Hausboot, auf dem wir die nächsten zwei Tage verbringen werden. Wir fühlen uns wie ein gut situiertes Pärchen auf Wohnungssuche, das von Iouri in maklerhafter Manier durch ein hippes Apartment im neuen Hafenquartier geführt wird: hier die stilvollen Schlafzimmer, da das moderne Bad, Wohnzimmer und Küche elegant mit offener Planlösung – und als Krönung die Sauna mit Panoramablick und drei Terrassen – vorne, hinten, oben –, die Sonne rund um die Uhr garantieren. Das Einzige, was das Interieur von einem normalen Haus unterscheidet, ist das Steuerrad mit Navigationssystem in der Wohnküche.
»Den Trend schwimmender Saunas gibt es schon seit ein paar Jahren. Die Leute lieben die Freiheit, entspannte Momente einfach an Orte mitten auf dem Wasser zu verlegen. Unsere Hausboote sind im Grunde eine Weiterentwicklung dieser Idee – aber mit Wohnraum«, sagt Iouri. Im Unterschied zu einer Jacht müsse man in Sachen Komfort weit weniger Kompromisse machen und Geschwindigkeit oder Hochseetauglichkeit spielten für einen entspannten Trip durch Finnlands Seenlandschaft eine eher untergeordnete Rolle. »Dafür fühlt man sich wie in einem richtigen Zuhause.
Die schwimmende Plattform liegt stabil auf dem Wasser und man kann problemlos alles mitnehmen, was man für spontane Outdoor-Abenteuer braucht: Kanus, Fahrräder, SUP-Boards«, so der Bootsbauer, der die navigationsfähigen Unterkünfte selbst in der eigenen Werft bei Hytölä nordöstlich von Jyväskylä herstellt.
Im Schritttempo durchs Nadelöhr
In der Wohnküche bekommen wir eine kleine Einführung. Iouri zeigt uns, wie wir Antrieb, Navigationselemente und Anker richtig bedienen. Eine Stunde lang steuern wir unter seiner Aufsicht durchs Hafenbecken und als alle Manöver sitzen – vorwärts, rückwärts, ankern –, entlässt er uns endlich in die Freiheit der Seenlandschaft.
Zunächst wartet jedoch noch eine Herausforderung auf uns: der 700 Meter lange Äijälänsalmi- Kanal, der den Jyväsjärvi mit dem Päijänne verbindet. Als dieser im 19. Jahrhundert angelegt wurde, sank der Wasserspiegel des Stadtsees um einen Meter und passte sich dem der umliegenden Gewässer an. Konzentriert steuern wir im Schritttempo durch das 35 Meter breite Nadelöhr. Klingt breiter, als es ist – vor allem, wenn einem eines der historischen Dampfschiffe entgegenkommt, auf denen Besucher die Kanäle und Wasserwelten in und um Jyväskylä erkunden können.
Dann öffnet sich der Blick auf Finnlands längsten und zweitgrößten See. Vor uns ragen grüne Inseln und Uferlandschaften mit wunderschönen Buchten aus dem dunkelblauen Wasser hervor. Mit einem leichten, rhythmischen Plätschern gleitet das Hausboot durch die winzigen Wellen gen Süden, im Hintergrund das sanfte Brummen des Motors. Jana sitzt im roten Kleid an der Reling und lässt die Füsse ins Wasser baumeln, ich hänge in Shorts und mit Kaffeetasse in der Hand am Steuer und spiele Kapitän. Ein fast unwirkliches Bild – als führen wir mitten durch einen kitschigen Werbefilm.
Nahe der Insel Muuratsalo gönnen wir uns eine Mittagspause, springen ins klare Wasser und liegen nach unserer Schwimmtour lange auf dem Deck in der Sonne. Das Eiland gegenüber habe ich zuletzt im Rahmen einer Uni-Exkursion mit dem Kajak besucht. Auch da waren wir im Zentrum gestartet und hatten fast denselben Weg zurückgelegt wie wir heute.
Auf Muuratsalo liegt das Sommerhaus des berühmten finnischen Architekten Alvar Aalto. Ein experimenteller 50er-Jahre-Bau, der seit 1994 zum Alvar Aalto Museum in Jyväskylä gehört. Ich weiß noch, wie faszinierend ich es fand, vom Wasser aus Natur und Kultur gleichzeitig zu erleben.
Es ist gar nicht so einfach, in all den malerischen Buchten den perfekten Platz für die Nacht auszumachen. Doch am späten Nachmittag ist er gefunden. Jana bringt unser schwimmendes Zuhause in die richtige Position und setzt per Knopfdruck den Anker. Wir schlüpfen in unsere Schwimmsachen und lassen die SUP-Boards ins Wasser. Nach der Zeit an Bord sehnen sich unsere Körper nach Aktivität und wir paddeln voller Energie ins Blaue.
Von Alvar Aalto bis Robinson Crusoe
Der leichte Wind, der uns den ganzen Tag begleitet hat, ist zum Abend hin fast komplett verschwunden und wir gleiten sanft über die blanke Oberfläche des endlosen Päijänne. Fast zweitausend Inseln soll es in dem See geben, eine davon steuern wir wahllos an. Es ist ein winziges, fast kreisrundes Eiland mit einem kleinen Wäldchen aus Birken und Kiefern, bedeckt von einem dicken grünen Moosteppich und umgeben von rot schimmernden Felsblöcken. Der Outdoor-Mensch in mir versucht, mich zu überreden, die Nacht hier wie ein finnischer Robinson Crusoe im Freien zu verbringen.
Eine Stunde später stehe ich jedoch wieder in der komfortablen Küche unserer ganz eigenen Wohninsel. Die Abendsonne scheint durch die großen Fenster, Musik füllt den Raum und ich hacke meditativ Zwiebeln und Paprika. Der Tisch an Deck ist gedeckt und die Sauna, in der wir den Tag abschließen werden, ist bereits eingeheizt.
»Unglaublich, wie schnell man sich an den Luxus gewöhnen kann«, lacht Jana beim Essen. Sie kennt mich eigentlich nur mit Rucksack, Zelt und Campingkocher durch die Wildnis wandernd. »Ja, ja«, meine ich nur, und ob denn das eine das andere ausschließen müsse. Ist so ein Hausboot nicht das perfekte Basislager? Wie wäre es, einen ganzen Sommer hier zu verbringen oder ein ganzes Leben – immer mit der Möglichkeit, genau dort zu bleiben, wo es einem gefällt und ganz leicht zu Trips in die nahe Wildnis aufzubrechen?
Wir fantasieren noch eine ganze Weile über das »Rausboot-Leben« in dieser wundervollen Welt der Seen. Morgen früh werden wir noch einmal ins Wasser springen und dann gemütlich wieder nach Jyväskylä fahren, um unser schwimmendes Zuhause wieder an Iouri zu übergeben. Falls nicht rein zufällig das Navigationssystem verrückt spielt und wir erst Jahre später aus dem Seenlabyrinth zurück in die Zivilisation finden.
Auf dem Wasser zu Hause
Hendrik mietete sein Schwimm-Domizil bei Houseboat Finland. Die Fahrt auf dem Päijänne-See startete im Hafen von Jyväskylä. SUP-Boards und Kajaks können mit an Bord genommen werden.
houseboat.fi
Mehr Wassererlebnisse in der finnischen Seenlandschaft rund um Jyväskylä findest du hier:
visitjyvaskyla.fi