Es ist geradezu unfassbar still. Ganz dicht ist der Tannenwald und das Goldene Frauenhaarmoos, das als dicke Schicht den Boden bedeckt, dämpft das Geräusch meiner Schritte, hier mitten im Nationalpark Tiveden. Ich nehme den Rucksack ab und hole den Kompass heraus. Vereinfacht gesagt, ist der Park zweigeteilt. Im westlichen Part gibt es Wanderwege, Raststellen und Parkplätze. Hierher kommt die Mehrheit der Besucher. Im östlichen Teil muss man sich seine eigene Route durch den Urwald suchen. Der Bergslagsleden, der den Tiveden durchschneidet, markiert die Grenze zwischen den beiden ungleichen Hälften.
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Vorsichtig bewege ich mich durch das Blaubeergestrüpp voran in östliche Richtung. Nach kurzer Zeit öffnet sich der Wald zu einer Lichtung mit einem kleinen See, umgeben von gelbem Moorboden. Obwohl es nur ein paar hundert Meter bis zum Weg sind, scheint er plötzlich sehr weit entfernt. Hier sieht man keine Spuren von anderen Menschen. Ich lasse mich auf einem Stein nieder und schaue über die schwarze Wasseroberfläche auf den dunkelgrünen Wald, der sich am anderen Ufer fortsetzt.
Eintauchen in etwas Anderes
Mein Plan für die kommenden Tage ist es,beide Seiten von Tiveden zu erleben, die ehergeordnete und die wilde, um fernab allerPfade meine Sehnsucht nach Zerstreuung zustillen. Ein Eichelhäher entfaltet seine buntenSchwingen und verschwindet im Gleitflugzwischen den Bäumen. Ich folge dem Weg biszum Stenkälleklack, einem der vielen Gipfel inder Risstal-Landschaft, die den Nationalparkausmacht: Vor tausend Millionen Jahren risshier der Felsboden auf und es bildeten sichdie Hügel, die wir heute sehen. Stenkällan,eine Kaltwasserquelle in einer Grotte, wirdzu Recht das Herz des Nationalparks genannt.Drei haushohe Steinblöcke spiegeln sich in demstillen, dunklen Wasser, das sich ganz untenzwischen den Felshängen angesammelt hat.
Nachdem sie ein paar Stunden unterwegs waren, sind sie beinahe andere Menschen.
Von der Quelle ist es nicht weit bis zum Ufer des Sees Stora Trehörningen, dem größten See des Nationalparks. Obwohl Teile von Tiveden schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Schutz standen, dauerte es noch bis 1983, bevor das gesamte Gebiet als Nationalpark ausgewiesen wurde. 2017 wurde er erweitert, sodass nun der ganze Trehörningen dazugehört. Ich gehe einige Kilometer am See entlang, bevor ich den Rundweg verlasse. Am nördlichen Tor zum Nationalparks stößt man auf den sagenumwobenen Junker Jägares Sten. Vom Inlandeis hierher verschoben, steht der 15 Meter hohe, seltsam geformte Findling hochkant in der Landschaft und deutet gen Himmel. Der Nationalpark Tiveden ist nur ein kleiner Teil des Waldgebiets, das sich vor einigen hundert Jahren zwischen dem Vättern und dem Vänern erstreckte. Der schwer zu durchdringende Wald bildete lange Zeit die Grenze zwischen Götaland und Svealand. Obwohl er inzwischen beträchtlich geschrumpft ist, leben hier immer noch Luchse und Wölfe.
Waldseen und knorrige Kiefern
»Tiveden ist ein einzigartiges Gebiet. Ein großer Teil des Nationalparks besteht aus Wildnis«, sagt Sebastian. Er erzählt, dass eine Tour im Tiveden-Wald tiefgehende Wirkungen haben kann. »Ich stehe oft am Haupteingang, um den Leuten Tipps für die Wanderwege zu geben, und es ist irre, sie zu sehen, wie sie zurückkommen. Nachdem sie ein paar Stunden unterwegs waren, sind sie beinahe andere Menschen. Man sieht es in ihren Augen, sie sind ausgeglichener. Ich glaube, dass dieser Wald mit seinen Gästen etwas anstellt.«
Ich lande schließlich auf felsigem Terrain, wo knorrige Kiefern in nährstoffarmer Erde wachsen. Abgesehen von einem Schwarm Schwanzmeisen, der zwischen den Bäumen herumfliegt, bin ich auf dem Weg ganz allein. Vorbei geht es an kleinen Waldseen und angeschmorten Kiefern, an denen die vielen Waldbrände, die hier im Laufe der Jahrhunderte wüteten, ihre Spuren hinterlassen haben. Es wird schon dunkel, als ich am See Metesjön ankomme, wo sich einer der drei Zeltplätze des Parks befindet. Nachdem ich mein Lager aufgeschlagen habe, entzünde ich ein Feuer. Auf dem Waldboden ist es vollkommen still, aber oben in den Baumkronen rauscht der Wind.
Als ich aufwache, ist der Wind abgeflaut und der Himmel hellblau. Wenig später bin ich wieder unterwegs. Nach einigen Kilometern überquere ich den Bergslagsleden und wandere im Wald auf der anderen Seite weiter. Selbst wenn ich es wollte, wäre es hier schwierig, auf geradem Kurs zu bleiben. Steinblöcke und umgestürzte Baumstämme machen Umwege nötig. Manche Stämme sind noch frisch, andere sind schon von Moos überwachsen. Abseits des Wanderweges erlebt man jeden einzelnen Schritt ganz bewusst.
Das Moos, in dem die Füsse tief versinken, die trügerische Rentierflechte, die jederzeit nachgeben kann. Bald spüre ich, wie sich der Wald um mich schließt. Das Gehtempo nimmt ab, der Puls wird langsamer, die Atemzüge tiefer. Schon oft habe ich dieses Gefühl der Freiheit erlebt, wenn ich die ausgetretenen Pfade verlasse und planlos durch den Wald wandere. Wenn es keinen besonderen Ort gibt, den ich erreichen will. Der Waldphilosoph Henry David Thoreau hat es so formuliert: »Es ist eine überraschende und denkwürdige, aber auch kostbare Erfahrung, sich einmal im Wald zu verirren.« Der weglose Ostteil des Nationalparks Tiveden bietet die perfekte Gelegenheit für ein solches Erlebnis.
Bewusst verirrt
Nachdem ich eine Weile gegangen bin, taucht eine Felswand vor mir auf. Ich gucke mir einen möglichen Aufstieg aus und markiere ihn für den Rückweg, während ich mich vorsichtig an Bergspalten und Felsenklippen vorbei aufwärts bewege. Auf halber Höhe nehme ich den Rucksack ab und gehe ohne Gepäck weiter. Auf einem Stein vor mir landet ein Schmetterling. Ich erkenne die kontrastreiche Zeichnung des Admirals, bevor er sich erhebt und weiterfliegt. Von oben kann man meilenweit sehen. Der Berg, auf dem Gipfel sanft gerundet, ist umgeben von dunkelgrünem Wald, die Landschaft dahinter wirkt blau. Nichts ist zu hören außer den Geräuschen des Waldes. Knarrende Stämme, der Wind, der durch die Baumkronen streicht. Nachdem ich die Aussicht bewundert habe, zieht es mich weiter, tiefer in den Wald hinein.
Abseits des Wanderweges erlebt man jeden einzelnen Schritt ganz bewusst.
Natürlich kann es auch gefährlich sein, sich zu verlaufen, und Karte und Kompass sind wertvolle Hilfsmittel, aber hier in Tiveden geht man kein großes Risiko ein, wenn man ein wenig Erfahrung hat. Auf einer Lichtung sehe ich, dass die Sonne schon tief steht, der Wandertag neigt sich dem Ende entgegen. Da der Bergslagsleden den Park in nordsüdlicher Richtung durchschneidet, kann ich sicher sein, auf ihn zu stoßen, wenn ich nach Westen gehe. Der Pfad führt mich über Felsplatten und durch Feuchtgebiete, in denen taillenhoher Sumpfporst wächst. Obwohl die Blüte schon lange vorbei ist, steigt ein berauschender Duft von den Sträuchern auf. Schließlich erreiche ich den Wanderweg. Knapp nördlich des Nationalparks, bei Kölnavattnet, gibt es einen Windschutz, den ich jetzt ansteuere. Auf der letzten Etappe geht es für mich durch eine rosige Dämmerung, während es zwischen den Bäumen immer dunkler wird. Ich schaffe es gerade noch, das Zelt aufzubauen, bevor es ganz finster ist und die Sterne am Nachthimmel funkeln.
Wald mit eigenem Tempo
Am nächsten Morgen wende ich mich wieder nach Süden. An der Grenze zum Nationalpark schrecke ich einen Auerhahn auf, der rasch davonflattert. Nach einigen Kilometern verlasse ich den Weg, diesmal ein Stück weiter südlich im Park. Ich folge einem murmelnden Bach bis zu einer kleinen Lichtung, wo ich mich auf einem Baumstamm niederlasse. Hier sind die Bäume dreißig bis vierzig Meter hoch und auf ihren Stämmen wachsen dicke Röhrenpilze. Das Krächzen eines Raben irgendwo im Wald unterbricht die Stille. Als ich weitergehe, stoße ich auf vier umgestürzte Kiefern, die wie weiße Skelette im Grün liegen. Etwas weiter entfernt steht ein alter, toter Baum und reckt seine Zweige gen Himmel. Der Stamm ist verdreht, sein Innenleben pulverisiert. Ein gealterter Riese, der jetzt Hunderten von Insekten eine Heimat bietet.
Wohlbehalten ins Wegesystem zurückgekehrt, erklimme ich die Lilla Trollkyrka, einen Berg am Trollkyrko-Rundweg. Vom Gipfel aus sieht man die schimmernde silberblaue Fläche des Vättern wie eine Scherbe hinter dem Wald liegen. Im Laufe der Geschichte diente dieser Berg als Navigationspunkt für Seefahrer und als religiöser Versammlungsort für die Menschen der Umgebung. Im frühen 19. Jahrhundert pilgerten die Bewohner des Waldgebiets hierher, um Gottesdienste abzuhalten, gegen das Verbot der Kirche. Plötzlich wird mir klar, dass die Gegend damals im Großen und Ganzen genauso ausgesehen haben muss wie heute, und dass auch die Wanderer der Zukunft sie noch so erleben werden. Dass Tiveden einer der wenigen Orte in Südschweden ist, der sich durch menschliche Einwirkung kaum verändert hat. Ein Ort, wo Bäume wachsen und sterben dürfen, wo Waldbrände wüten konnten. Die Kiefern und Fichten, Moose, Pilze und Felsen ihrem eigenen Zeitmaß folgen durften. Ein Ort, an dem man sich noch immer ganz bewusst verlieren und wiederfinden kann.