Solange man auf dem Bootssteg steht, ist Segeln kinderleicht. Das gleiche Prinzip gilt beim Langstreckenradeln. Das war die erste von vielen Lektionen, die wir auf der Insel der Sagas gelernt haben. Jetzt, im Rückblick, ist es natürlich faszinierend, wie schnell die Selbstsicherheit und Überheblichkeit, mit der wir die Reise angetreten hatten, uns abhanden kam. Dafür brauchte es eigentlich nicht mehr als die wenigen Kilometer zwischen dem Flughafen Keflavík und der Jugendherberge, in der wir übernachten wollten. Der isländische Wind war nämlich anders als alles, was wir bisher erlebt hatten. Manchmal stand er vor uns wie eine Wand, gegen die wir ankämpften, dann wieder benahm er sich wie eine Katze, die mit ihrem Opfer spielt. Wir mussten hart arbeiten, nur um uns aufrecht zu halten. Der Regen, der unsere ungeschützten Gesichter wie mit Nadelstichen peitschte, machte es uns nicht gerade leichter.
Die Klarheit und die Zuversicht, die wir auf die Insel mitgebracht hatten, waren wie weggeblasen. In der ersten Nacht war an Schlaf kaum zu denken. Hatten wir uns diesmal zu viel vorgenommen? Wie würde das alles enden? Und, vielleicht die unangenehmste Frage: War es wirklich das, was wir während unseres kurzen Sommerurlaubs erleben wollten? Das Komische war, dass wir keineswegs unvorbereitet hergekommen waren. Wir hatten unsere Island-Rundreise seit Langem geplant, die Landkarten studiert und unsere Ausrüstung auf den neuesten Stand gebracht. Und wir hatten in früheren Jahren schon sechs längere Radtouren absolviert. Nach menschlichem Ermessen hätten wir also wissen müssen, worauf wir uns einließen. Theorie und Praxis sind leider zwei verschiedene Dinge. Jedenfalls auf Island. Aber als wir am nächsten Morgen in den Speisesaal der Jugendherberge hinuntergeschlichen waren, um einen Happen zu frühstücken, landeten wir zufällig am Tisch eines abgebrühten Islandfahrers. Seine orakelhaften Worte wurden unser Mantra, das wir in jeder schwierigen Situation wiederholten: »Alles geht gut, solange ihr auf der Straße Nr. 1 bleibt.«
1399 Kilometer bis zum Ziel
Die Straße Nr. 1 wird auch Ringstraße genannt und führt im Großen und Ganzen rund um Island, unter Aussparung der Westfjorde. Wenn man einfach dieser 1399 Kilometer langen Straße folgt, erlebt man den größten Teil dessen, was Island zu bieten hat, von Gletschern über heiße Quellen bis zu menschenleerer Landschaft; die Berge im Nordosten und die Ebenen im Süden; üppigen Pflanzenwuchs und vulkanische Erde. Gar nicht zu reden von den Eisbergen auf der Reise zu größeren Gewässern, die wir auf dem Gletschersee Jökulsarlón beobachteten. Jeden Tag begegnete uns eine Landschaft, die anders war als alles, was wir auf unseren früheren Touren gesehen hatten. Abgesehen davon, dass die Straße Nr. 1 eigentlich Islands einzige größere Straße ist, macht sie die Orientierung leicht – man braucht nur darauf zu achten, dass man Asphalt unter den Reifen hat. Dann weiß man, dass man sich auf der Ringstraße befindet. Mit gewissen Ausnahmen, denn auf einigen Abschnitten liegt Schotter. Warum muss man Island unbedingt mit dem Fahrrad erkunden, wenn man sich doch so viel einfacher fortbewegen könnte? Zeitweilig stellten wir uns selbst genau diese Frage.
War es wirklich das, was wir während unseres kurzen Sommerurlaubs erleben wollten?
Die Wahrheit ist, dass man, trotz der damit verbundenen Plackerei, Island tatsächlich am besten vom Fahrrad aus erlebt. (Es sei denn, man hat Zugang zu einem größeren Rudel Islandpferde – das wäre eine Alternative!) Auf dem Fahrradsattel kommt man nämlich auf ganz andere Weise in Kontakt mit der Umgebung als im Auto oder im Bus. Es gibt keine Windschutzscheibe, die einen vor der Welt abschirmt und schützt – der Regen fühlt sich nass an, die Erde duftet herb, man schwitzt bei den langen Anstiegen und friert, wenn man abwärts rollt. Man ist ganz bei sich und der Natur. Es ist meine feste Überzeugung, dass wir Menschen mit unseren Versuchen, uns das Leben bequemer zu machen, unseren potenziellen Erlebnishorizont oft enorm beschneiden. Island und seine karge Natur helfen uns aus dieser weichen Falle heraus – wenn man um Island herumradelt, radelt man wirklich um Island herum.
Dass es ziemlich viel Einsatz erfordert, auf dem Fahrrad die Insel zu umrunden, sei nicht verschwiegen. Während unserer schwierigeren Etappen erfanden wir den Begriff »isländisches Paradox« – wir fanden es zu kalt, um eine Essenspause einzulegen, waren aber zu hungrig, um weiter zu radeln. Die Auflösung des Widerspruchs war eher pragmatisch als elegant – wir für Radtouren auf Island pausierten exakt so lange, wie wir brauchten, um uns mit der steinharten isländischen Nizza-Schokolade die Backen vollzustopfen, und ließen sie dann im Mund schmelzen, während wir auf den einsamen Wegen weiterstrampelten. Trotzdem sollte man keine übertriebene Angst vor kleinen Unbequemlichkeiten haben – nasse Kleidung trocknet beizeiten, und der Schüttelfrost lässt nach, sobald man den Bauch mit einer warmen Mahlzeit füllt. Und wenn man dann später am Abend in einem der unsagbar heißen Bäder sitzt, für die Island so berühmt ist, dann sind alle Kümmernisse dieser Welt verflogen.
Menschliche Begegnungen
Nicht nur einer außergewöhnlichen Natur begegneten wir in Island, sondern auch einem ganzen Haufen gleichgesinnter Reisender – Menschen, die wie wir hierhergekommen waren, um etwas Einzigartiges zu erleben. Diese manchmal nur einen Augenblick währenden Treffen hatten sehr viel mehr Bedeutung, als man meinen könnte. Obwohl man sich gerade erst kennengelernt hat, teilt man schon eine intensive Erfahrung miteinander – und kann sich mit einem Halbsatz darüber verständigen, wie es sich anfühlt, wenn man sich langsam durch einen Nebel vorankämpft, der so dicht ist, dass man den Radfahrer vor sich kaum erkennt, oder wenn man durchnässt am Straßenrand steht, um kaputte Reifen zu flicken. Auf der ansonsten ziemlich menschenleeren Insel haben solche Begegnungen ein noch größeres Gewicht.
Wir erinnern uns zum Beispiel an Giulia, eine Italienerin, die sich vorgenommen hatte, Island ganz allein zu umrunden. Wir trafen sie auf einem der vielen Campingplätze an der Südküste und beschlossen, die nächste Etappe gemeinsam zu radeln. Sie klagte darüber, dass in ihren Taschen so wenig Platz sei, und sie deshalb nicht genügend Sachen mitnehmen konnte. Als ich mich genauer erkundigte – ihre Gepäckgarnitur war ziemlich beeindruckend – kam heraus, dass sie keinen Proviant eingepackt hatte, dafür drei Paar Schuhe, ein Paar Jeans (das am wenigsten geeignete Kleidungsstück für eine Fahrradtour) und einen Föhn!
Mit Giulia radelten wir die Küstenstrasse entlang und sahen unter anderem die Reste einer vom Eis weggerissenen Stahlbrücke. Sie diente als Monument dafür, dass man die Kräfte der Natur auf Island ernst nehmen muss. Auch Autofahrer müssen vorsichtig sein – das Befahren von Straßen, die mit dem Buchstaben F markiert sind, ist streng verboten, wenn man nicht über Allrad- Antrieb und spezielle Versicherungen verfügt. Gegen Abend trennten sich unsere Wege – wir hatten unser Tagespensum von 80 Kilometern hinter uns, aber Giulia wollte noch weiter, wegen ihres knappen Zeitplans. Wir wünschten ihr gute Fahrt und verfolgten sie mit unseren Blicken, als sie allein weiterstrampelte.
Ein anderer Typ, den wir auf einem der Rastplätze kennenlernten, war der holländische Fernfahrer Berthus. Auch er hatte sich dafür entschieden, allein zu reisen. In seiner Gegenwart fühlten wir uns so richtig als Dilettanten, denn für ihn war das Radfahren eine ernste Angelegenheit: Er war vor vier Monaten aufgebrochen und hatte sich die Aufgabe gestellt, der Küstenlinie Islands so weit wie möglich zu folgen. Auch die Rückfahrt nach Holland würde er wie ein echter Radler bewältigen – mit der Fähre nach Dänemark übersetzen und von dort aus nach Hause strampeln! Während unserer langen Unterhaltung mit Berthus, bekamen wir nicht nur viele gute Tipps, sondern konnten ebenso seinen philosophische Erörterungen über den tieferen Sinn von Fahrradreisen lauschen. Und dann trafen wir noch Peter, einen Österreicher, bekleidet mit dem umfangreichsten Regenzeug, das ich je gesehen habe. Zu seinem Kummer hatte er seinen schwedischen Kumpel irgendwo im nebligen Gebirge verloren, war aber aus Zeitgründen gezwungen, seine Tour fortzusetzen. (Später am selben Tag trafen wir den Schweden, der mit seinem kleinen Gaskocher am Wegesrand saß, und bestellten ihm Peters Grüsse mit der Nachricht, dass er schon vorausgefahren sei.)
Meditative Augenblicke
Aber trotz all dieser Begegnungen legten wir einen großen Teil der Reise allein zurück. Island ist ja nicht nur von der Oberfläche her klein, sondern auch von der Bevölkerungszahl, und die meisten Isländer wohnen in Reykjavík und Umgebung. Vor allem oben im Norden, wo wenige oder gar keine Autos auf der Straße unterwegs sind, hatten wir Zeit, unseren Gedanken nachzuhängen. Islands einsame Landschaften und das mitunter monotone Strampeln erzeugten eine innere Ruhe, die bestens zur Introspektion geeignet war. Auf einmal hatte man Zeit und vor allem Muße, über seine Existenz nachzudenken. Beides ist in der hektischen Welt von heute leider Mangelware. Manchmal muss man also ziemlich weit reisen, um sich selbst zu finden. Würde man die Radtour rund um die Insel nur unter philosophischen Aspekten beschreiben, wäre das natürlich nicht die ganze Wahrheit. Jeden Tag wurde die Meditation unterbrochen durch die fantastische Natur, die uns umgab. Zwischen den Steinsäulen von Dimmuborgir umherzuwandern, war überwältigend. Und, so verrückt es auch klingen mag: Als wir das hoch im Norden gelegene Akureyri erreichten, eine Stadt mit rund 18 000 Einwohnern, kam es uns vor, als würden wir in eine Metropole einfahren. Wie glücklich es uns machte, eine Buchhandlung aufzusuchen oder eine Tasse heiße Schokolade zu trinken, kann man erst verstehen, wenn man die mehr oder weniger unbewohnte Wildnis zwischen Egilstadir und Akureyri auf dem Fahrrad durchquert hat.
Auf einmal hatte man Zeit und vor allem Muße, über seine Existenz nachzudenken.
Mit Rückenwind nach Reykjavík
Der August neigte sich seinem Ende zu, und auch das Ende unserer Rundtour rückte allmählich näher. Durch tägliches Strampeln hatten wir nach und nach tausend Kilometer der Straße Nr. 1 hinter uns gelassen. Und obwohl die Fahrt zweifellos oft schwierig und anstrengend war, hätte keiner von uns beiden das, was wir dabei erleben durften, jemals missen wollen. Nicht einmal der kalte Regenguss auf dem Hochplateau konnte an diesem Gefühl etwas ändern. Die letzten Tage der Reise waren wie aus einer anderen Welt. Der Wind, gegen den wir während der Tour meist ankämpfen mussten, hatte sich nun gedreht und beschleunigte unsere Fahrt. Die Sonne tauchte die Landschaft in ein goldenes, wenn auch etwas kühles Licht. Bald konnten wir hinten am Horizont Reykjavík erkennen, bewacht vom Turm der Hallgrímskirche, der wie ein Leuchtturm mitten in der Stadt steht. Unsere Rundtour war abgeschlossen. Nun durften andere weitermachen.