Die Alpen wirken aus der Ferne stets schroff und unzugänglich. Dieser sanfte, breit gezogene Buckel, der gut tausend Meter hoch und von einer dicken, weichen Schneeschicht überzogen ist, scheint uns geradezu freundlich gesinnt. 1958 wurde dort der erste Lift errichtet. Heute ist Trysil Norwegens größtes Skigebiet. Mit 75 Pistenkilometern von Grün bis Schwarz kann der Ort durchaus mit manchen mittelgroßen Skigebieten in den Alpen mithalten. Es gibt Funparks, Rennstrecken und Buckelpisten für die Ambitionierten, Skispielplätze, Märchenwaldstücke und schwedische Studenten im Schneemannkostüm für die Kleinen, »Morgenski« und Flutlichtabfahrten für die Unermüdlichen. Hinzu kommen rund hundert herrliche Loipenkilometer rund um das Fjell, was den Ort gerade für »Kombinierer« interessant macht.
Lohnt es sich aber dafür, den langen Weg aus Deutschland inklusive Fährüberfahrt auf sich zu nehmen? Tatsächlich entdecke ich auf dem Parkplatz am »Høyfjellssenter« zahlreiche Autos aus Deutschland. »Wir kommen seit vier Jahren jede Osterferien hierher«, erzählt mir mein Nachbar aus Norddeutschland in der Schlange zur Schlüsselausgabe. »Von Kiel nach Oslo mit der Fähre. Ab da sind es dann nur noch gut drei Stunden Autofahrt.« Begreift man die Zeit und die Übernachtung an Bord bereits als Teil des Urlaubs, ist Norwegen plötzlich gar nicht mehr so weit.
Schönheit und Einsamkeit
Wir wohnen in einem dunkelbraunen Holzhaus im Fågeråsen-Hüttendorf. Selbst jetzt, Anfang April, liegt der Schnee noch so hoch, dass man problemlos ohne Hilfsmittel aufs Dach klettern könnte. Die Häuser um uns herum sind weitläufig über das Gebiet verteilt. Bei vielen unserer Nachbarn stehen sowohl Abfahrts- als auch Langlaufskier vor der Tür, daneben die obliga- torischen Snow Racer (Schneebobs) und bunte Plastikpulkas (Sitzschalen).
In Sachen Wintersport sind die Skandinavier vielseitig. Vor oder nach dem Pistentag dreht man gerne noch eine Runde in der Loipe oder macht mit der ganzen Familie eine Tagestour in die Umgebung. Am Abend bleibt man lieber unter sich. Après-Ski findet vor allem in der eigenen Hütte statt. Es wird zusammen gekocht und gegessen, man geht in die Sauna, spielt Karten und liegt meistens schon im Bett, wenn in St. Anton & Co gerade die zweite Runde beginnt.
In Sachen Wintersport sind die Skandinavier vielseitig. Vor oder nach dem Pistentag dreht man gerne noch eine Runde in der Loipe oder macht mit der ganzen Familie eine Tagestour in die Umgebung.
Früh am ersten Morgen schnallen wir frisch und ausgeruht direkt vor der Haustür die Skier an. Faszinierend, wie schnell die Jungs, Pelle (7) und Henry (4), mehrere Schichten Klamotten plus Ausrüstung am Körper haben – komplett ohne Hilfe oder Aufforderung. Kurz darauf fahren wir zusammen den Ziehweg hinab, der sich durch das gesamte Hüttendorf windet und es so auf bequeme Art sowohl mit dem Skigebiet als auch mit dem Loipensystem verbindet.
Was sofort auffällt, ist die Weite: Endlos blickt man über die Wälder der Provinz Hedmark bis hinüber ins schwedische Dalarna. Vereinzelt schauen rechts und links zwischen Bäumen die hölzernen Giebel der Häuser aus dem tiefen Schnee hervor. Die Skifahrer und Langläufer, die wir auf dem Weg zum ersten Lift treffen, lassen sich an einer Hand abzählen. Ich denke an das silhouettenreiche Panorama der Alpen und das lebhafte Treiben in den Skiorten. Auf schattige Täler und das Gedränge an der Gondel lässt sich natürlich gut verzichten, dennoch ist die Leere des Fjells bei aller Schönheit auch gewöhnungsbedürftig. Das Auge vermisst die Anhaltspunkte in der Landschaft, das Herz, die alpine Gemütlichkeit. Wer Skiurlaub in Skandinavien macht, sollte sich in der Weite wohlfühlen.
Alpen-Feeling mit Elchburger
Das familienfreundliche Fageråsen-Gebiet wird zu unserer Basis. Hier startet und endet die Skischule. Am Rande gibt es eine Grillstube, in der wir unsere Würstchen brutzeln, und eine hölzerne Sitztribüne, von der wir Ausschau nach den Kindern halten, während die Sonne unser Gesicht wärmt. Pelle weitet seinen Aktionsradius immer weiter aus, Henry fährt unermüdlich in Sichtweite den Tellerlift rauf und die einfachen Pisten daneben runter.
Während Ida die Stellung hält, schaffe ich mir einen ersten Eindruck des gesamten Areals. Mit dem Sechsersessellift geht es hinauf auf einen der beiden »Gipfel«. Vom höchsten bis zum nied rigsten Punkt des Skigebiets sind es 685 Meter Höhenunterschied, die längste Abfahrt ist mit 5,4 Kilometern ausgewiesen. So bin ich auf dem Weg hinab zum »Turistcenter«, dem Besucherzentrum, eine gute Weile unterwegs. Die Strecken im oberen Bereich sind breit, perfekt präpariert und jetzt, am Morgen, noch relativ leer und ange nehm hart. Ich gebe ordentlich Gas und fahre in langen Kurven die vor allem roten Pisten hinab. Hier kommt teilweise richtiges AlpenFeeling auf. In den tieferen, waldigen Abschnitten wird die Piste ein wenig voller und der Schnee weicher. Genau so habe ich die Talabfahrten zur Osterzeit seit jeher in Erinnerung.
Anspruchsvoll wird es vor allem im Bereich Høgegga, wo sich gleich mehrere schwarze Pisten durch die Schneisen ziehen. Hier sind unter anderem etliche Slalom und Riesenslalomstrecken installiert, an denen fleißig trainiert wird. Der Skirennsport hat in Trysil eine lange Tradition: An diesem Ort – und nicht etwa wie man vermuten würde in den Alpen – fand 1855 das weltweit erste offizielle Skirennen statt. Und der im Jahre 1861 gegründete Wintersportverein »Trysilgutten« gilt als ältester Skiclub der Welt.
Am nächsten Tag nutzen wir Henrys Zeit in der Skischule – der schwedische Skilehrer Emil ist inzwischen sein bester Kumpel – und nehmen Pelle mit auf die andere Seite des Hügels. Stolz und ohne Verletzungen bewältigt er seine erste schwarze Piste. Unser Ziel ist die Knettsetra-Hütte. Der bewirtschaftete Berghof mitten im Skigebiet ist in der Hauptsaison Zufluchtsort für alle, die sich nach ein bisschen mehr Leben abseits der Piste sehnen. Hier finden in der Hauptsaison Konzerte mit bis zu 4 000 Besuchern statt. Mit seiner hochwertigen Küche, die vor allem auf regionale Produkte setzt, ist der Hof aber auch ein gutes Beispiel für ein neues Nachhaltigkeitsdenken in Trysil. Knettsetra ist einer von fünfzehn Betrieben in Trysil, die mit dem Zertifikat »Miljøfyrtårn« (dt. Umweltleuchtturm) ausgezeichnet wurden. Man erfüllt damit die hohen Kriterien der gleichnamigen norwegischen Umweltstiftung – von der Müllsortierung über den Energieverbrauch bis zur Zusammenarbeit mit Lieferanten aus der Region.
Der Wirt Bjarte Wigdel stellt drei dampfende Elchhamburger vor uns auf den Tisch und gönnt sich eine kurze Kaffeepause. »Der Kontrast macht uns aus: Auf der einen Seite die Masse an Menschen, auf der anderen die hohe Qualität und das persönliche Verhältnis zu unseren Lieferanten. Wir können genau nachvollziehen, woher die Rohwaren stammen, die wir hier verarbeiten.« Den Namen des Elches auf unseren Tellern kennt er zwar nicht, aber die Naturpommes kommen direkt von einem Kartoffelhof in der Hedmark.
Norwegische Kombination
»Nachhaltigkeit zahlt sich aus«, meint Gro Svarstad, Leiterin des Wirtschaftsausschusses der Gemeinde Trysil, die ich später in der Lobby des Radisson Blu Resorts am Fuße des Berges treffe: »Wir stellen fest, dass sich bei den »Miljøfyrtårn«-Betrieben sowohl die Ertragskraft als auch die Produktqualität verbessern.« Für die Gäste spiele der Umweltaspekt eine immer wichtigere Rolle. Viele Besucher wählten bewusst Orte, die verantwortungsvoll mit der Natur umgehen – das Diplom wird damit auch zum Marketing-Argument.
Trysil selbst ist neben Røros, Vega und Lærdal eine von vier norwegischen Pilotdestinationen, die im vergangenen Jahr als »Bærekraftig Reisemål« (dt. nachhaltiges Reiseziel) ausgezeichnet wurden. »Unser Anspruch ist es, die nachhaltigste norwegische Skiregion zu sein«, erklärt Gro. »Über das Ziel sind sich alle politischen Parteien hier einig. Es geht vor allem darum, die privaten Akteure vor Ort zu involvieren.« Dazu gehört neben Hotels, Restaurants, Hüttenbetreibern und anderen kleineren Unternehmen vor allem auch der Anlagenbetreiber SkiStar. Gemeinsam arbeitet man daran, den Energiebedarf für das gesamte Skigebiet zu reduzieren.
Unser Anspruch ist es, die nachhaltigste norwegische Skiregion zu sein. Es geht darum, die privaten Akteure vor Ort zu involvieren.
In den Außenbereichen wurden Leuchtstoffröhren großflächig durch LED-Licht ersetzt, ein hochmodernes Steuersystem reguliert die Temperatur in vielen öffentlichen Bereichen. Die Pistenraupen verbrauchen hier inzwischen deutlich weniger Sprit als an vergleichbaren Skiorten, und bei den Schneekanonen konnte man den Energieverbrauch seit 2008 sogar um mehr als ein Viertel senken. Und das nahe gelegene Holzkraftwerk, eines der modernsten und effektivsten des Landes, erzeugt aus Restmaterial der lokalen Holzindustrie die Fernwärme für das Besucherzentrum und das Radisson Blu Resort.
Am letzten Abend machen wir einen Spaziergang durch das Fageråsen-Hüttendorf zum Park Inn Mountain Resort. Bald darauf liegen Ida und ich in einem der beiden Whirlpools im Außenbereich des gediegenen Spas. Pelle und Henry toben verbotenerweise im Pool nebenan. Ihren Krach blende ich genauso aus wie die Frage, wie viel regenerative Energie hier gerade wohl in der kalten Luft verdampft. Ich blicke durch den künstlichen Nebel und denke über unsere Zeit in Trysil nach. Die wichtigste Erkenntnis, die ich nach meinem ersten Skiurlaub in Skandinavien und meinem ersten Skiurlaub mit Kindern mit nach Hause nehme: Beides ist möglich und beides macht Spaß. Wahrscheinlich ist gerade diese Kombination genau richtig. Die nordische Entspanntheit auf und abseits der Piste hat mir gut getan. Und ich bin bereit für den wohl wichtigsten Schritt in meiner Skikarriere: Beim nächsten Mal werde ich mir endlich ein paar Langlaufskier unter die Füße schnallen und hinaus ins Fjäll ziehen.