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Farbenfrohe Einsamkeit

Nach einem Alleingang sehnt sich unser norwegischer Autor Remi Reksten. Fünf Tage und 50 Kilometer mit einigen bangen Momenten hat er zur Verfügung, um auf dem Romsdalstien zu finden, wonach er sucht.

Nie zuvor habe ich einen Elch in freier Wildbahn gesehen, aber hier stehe ich nun, auf einem Gipfel entlang des Romsdalstien und habe Blickkontakt mit einem majestätischen, gehörnten Paarhufer. Für einen Moment fragen wir uns wohl beide, warum wir uns nun ausgerechnet hier oben treffen müssen, wo wir doch vermuteten, in dieser abgeschiedenen, luftigen Höhe gänzlich allein sein zu können. Die Tage sind kurz, die Nächte lang und die Herbstsonne stark. Bisher war der September gefüllt mit Regen und noch mehr Regen. In den Bergen herrscht bereits Winter. Der erste Schnee ist gefallen. Vielleicht werde ich deshalb während meiner Tour auf dem Romsdalstien nur diesen Elch und einen Hausmeister der örtlichen Kommune treffen – aber eigentlich bin ich genau deswegen hier. Auch wenn mir bei dem Gedanken etwas mulmig zumute ist, möchte ich herausfinden, wie es sich anfühlt, in den kommenden fünf Tagen ganz allein durch die Einsamkeit zu wandern, die Natur voll und ganz in mich aufzunehmen, ohne durch Gespräche und Blödeleien mit Freunden oder der Familie abgelenkt zu sein. Ich bin gespannt, wie ich auch die einsamsten Situationen auf meinem Trip meistern werde.

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Unten in Åndalsnes freuen sich die Kreuzfahrttouristen über die hohen Romsdal-Gipfel, sie baden in der Morgensonne und nehmen den Segway für eine Rundfahrt. Die Touristensaison scheint in dieser Woche Ende September offensichtlich noch nicht beendet zu sein. Die Erleichterung ist groß, als ich den Bus erspähe, der mich aus dieser chaotischen Situation in Åndalsnes zum Fährenkai von Åfarnes bringen wird, wo meine menschenleere Wanderung auf Meeresspiegelniveau beginnen soll.

Die Bergspitzen sind teilweise mit Schnee bedeckt, während die warme Herbstsonne vom Himmel strahlt.

Spukende Hüttengeister

Während ich die ersten stetigen Schritte in nasser und schattiger Landschaft mache, verstummt das Geräusch des Autoverkehrs und wird von Vogelgezwitscher und plätschernden Bächen übernommen. Das Sonnenlicht steigt durch die in grüne Nadeln gekleideten Kiefern und offenbart den ewigen Charakter des Märchenwaldes, dicht gefolgt vom Birkenwald mit rostroten Blättern, die von den tiefen Strahlen in Brand gesetzt werden. Die Luft ist klar. Ich fühle mich bereit. Es sind 50 Kilometer, die ich allein bewältigen will. Ich habe beschlossen, mein Handy in den Flugzeugmodus zu schalten. Plötzlich werde ich von Freiheit und Freude gepackt. Gedanken, die sich vor ein paar Stunden noch schwer anfühlten, beruhigen sich. Ich bin frei. Ich muss nur gehen. Die erste Tagesetappe ist 13 Kilometer lang, dauert etwa sechs Stunden in relativ gutem Gelände und endet bei der Hütte Skorgedalsbu. Es ist ein großes Holzhaus mit Strom, Wärmepumpe und Blick auf Romsdalshorn und Trolltindene. Da es Samstag ist, habe ich zur Feier des Tages richtiges Essen mitgebracht, das ich in der kleinen Küche zubereite. Nicht einmal meinen Gaskocher muss ich hierfür bemühen.

Ich nehme ein Bad im smaragdgrünen Wasser und fühle mich gänzlich eins mit der Natur.

Am Morgen wärmen Sonnenstrahlen die Landschaft und legen Nebel über den See. Ich wandere los, noch bevor die Sonne den Rand des Berges küsst. Das Heidekraut errötet in ihrem festen Griff, sodass die Farbe der roten T, die hier in Norwegen überall die Wanderwege markieren, im Verhältnis zu den blutroten krautigen Konturen unter meinen Beinen verblasst. Die tiefgelben Blätter der Birken stehen im Kontrast zu der grauen Felsmasse des Gesteins, das sich hinter ihnen auftürmt. Bei diesem Anblick merke ich erst spät, dass der Matsch mittlerweile über meine Schuhe hinaus entlang meiner gesamten Hose gekrochen ist. Der Berghang ist mit einer leichten Schneedecke überzogen. Es weht nicht das geringste Lüftchen. Das Wasser ist ruhig und die Gipfel spiegeln sich auf seiner Oberfläche. Ich bin 14 Kilometer von Skorgedalsbu nach Måsvassbu gelaufen und immer noch begeistert.

In den Hütten auf dem Weg lässt es sich nächtigen. Im Herbst ist man hier bei Tee und Kerzenschein oft gänzlich alleine.

In Måsvassbu angekommen, stelle ich fest, dass die letzten Tageswanderer die stattliche Hütte bereits diesen Sonntag verlassen haben müssen. Das kann ich dem Hüttengästebuch entnehmen, in dem sich hier jeder mit ein paar Zeilen verewigen kann. Auch hier steht mir die gesamte Unterkunft allein zur Verfügung. Fast wie ein Hotel mit vielen Zimmern. Einfach Wasser holen, Brennholz zusammenklauben, eine Tasse Kaffee zubereiten und ausstrecken – purer Luxus inmitten der Bergwelt. Als die Sonne langsam untergeht, bemerke ich eine Treppe im Korridor der Hütte, die hinauf in den zweiten Stock führt. Oben ist es stockdunkel. Plötzlich nehme ich ein Knacken in den Wänden wahr. Oder es ist eher ein Geflüster? Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. In diesem Moment hätte ich mir zu gerne ein wenig Gesellschaft gewünscht.

Aber es hilft nichts, um mich nicht weiter zu gruseln, muss ich der Sache auf den Grund gehen. Langsam steige ich die knarrende Treppe hinauf und der zweite Schauer folgt sogleich. Oben vor dem Fenster flackert eine Kerze. Ich kann mich weder daran erinnern, diese beim Eintreten in die Hütte bemerkt zu haben, noch daran, jemanden gesehen zu haben, der dieses Licht entfacht haben könnte. Ich bin vollkommen allein hier, in dieser mystischen Bergwelt, und versuche mir eisern einzureden, dass ich keine Angst haben muss und dass es sicher eine ganz natürliche Erklärung für das einsam brennende Lichtlein gibt. Der Kamin im unteren Stockwerk spendet beruhigende Wärme und ich versuche, mich mit etwas Lektüre abzulenken. Glücklicherweise überkommt mich eine schwere Schläfrigkeit, die stärker ist, als mein mulmiges Gefühl und ich falle in einen tiefen Schlaf.

Einsames Sonnenbaden

An einem erneut sonnigen Tag erwache ich, ohne dass ich von bösen Hüttengeistern heimgesucht wurde und bereite mich auf die wahrscheinlich schwerste Etappe vor, die von Måsvassbu nach Vasstindbu führt. An Kilometern sind es nur zehn, aber die letzten beiden gehen aufgrund des Aufstiegs auf 1 190 Meter nur im Schneckentempo voran. Unterwegs begleitet mich der schöne Anblick des Sees Mørkvatnet (dt. dunkles Wasser), der bei Sonnenschein keineswegs dunkel erscheint, sondern eine seltene smaragdgrüne Farbe annimmt. Hier lasse ich mich nieder und lege mich inmitten der herbstfarbenen Landschaft lang zu Boden.

Der Berg Klauva, der direkt aus dem See in den blauen Himmel ragt, vermittelt das Gefühl, sich in einer mächtigen Kathedrale zu befinden. Ich nehme ein Bad im smaragdgrünen Wasser und fühle mich in diesem Moment gänzlich eins mit der Natur. Auf der anderen Seite der Schlucht zum Mørkvatnet wandere ich weiter und halte hier und da an, um zu lauschen. Es ist, als würde man Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung aufsetzen. Kein Wind, das Geräusch von nichts. Auf der anderen Seite kann ich Pferde entdecken, die an den hohen Felsen grasen.

An den Felsen lassen sich Pferde auf den herbstlichen Wiesen die Kräuter des Fjells schmecken.

Die letzte Strecke nach Vasstindbu wird erwartungsgemäß schwer, aber das Zählen meiner Schritte bis zehn hilft mir, ein gleichbleibendes Tempo zu bewahren. Die Vollmilchschokolade, die ich mir in dem kleinen SB-Regal in der Hütte von Måsvassbu gekauft habe, gibt den restlichen Schwung. Oben liegt Schnee, der in der Sonne glitzert, aber der Weg ist kahl und warm. Es ist fast so heiß, dass man meinen könnte, der Schnee müsste hier auf der Stelle wegschmelzen. Das Häuschen, in das ich heute Nacht einkehren werde, ist klein und charmant. Ich nehme meinen Rucksack ab und setze mich zum Sonnenbaden auf den Stuhl vor der Hütte. Wo sind die Leute, frage ich mich? Kurz ertappe ich mich dabei, jetzt gerne mit einem Stuhlnachbarn über die zurückgelegte Strecke mit ihren Höhen und Tiefen plaudern zu wollen – mittlerweile habe ich immerhin seit drei Tagen kein Wort mehr geredet –, aber eigentlich ist es ja genau das, wonach ich mich gesehnt habe. Und bei diesen Tönen verschlägt es einem ohnehin die Sprache: Jemand, der schon einmal ein Foto vom Sonnenaufgang von Vasstindbu aus gesehen hat, glaubte vielleicht nicht ganz an die Farben auf dem Bild. Aber hier oben, mit Blick bis zum Meer und dem klaren Himmel, könnte es keinen schöneren Anblick geben.

Für einen Moment fragen wir uns wohl beide, warum wir uns nun ausgerechnet hier oben treffen müssen,

Der nächste Tag beginnt wie der vorherige: mit Sonnenstrahlen, die durch die Tür fallen und dem süssen Zimtgeruch meiner akribisch rationierten Haferflocken, die ich mir zum Frühstück zubereite. Die heutige Etappe entspricht dem Satz des norwegischen Lyrikers Olav H. Hauge: »Du musst die Berge erobern, wenn du weiterkommen willst.« Von 1 190 Metern über dem Meeresspiegel geht es hinunter auf 500 Meter und über den Styggeværshaugen wieder hinauf auf 1 370 Meter. Zum Glück wissen meine Beine jetzt, was zu tun ist, aber meine Augen und mein Verstand fragen sich immer noch, wie ich den Berg vor mir hinaufkommen soll. Niemand, der da ist, um einen zu motivieren, außer der eigenen Stimme. Von Helvetesbotn steigt kalter Nebel hinauf und hüllt mich ein in ein merkwürdiges Gefühl. Es berührt mein Herz, wenn ich auf den See hinunterschaue. Fast wird mir schwindelig. Ich springe von Fels zu Fels, gelegentlich im Schnee, und frage mich, was mich da oben wohl erwarten wird.

Smaragdgrünes Wasser und rote Blätter vor schneebedeckten Bergen liefern ein farbenfrohes Panorama auf dem Romsdalstien.

Seltsame Begegnung

Mein eigener Atem ist hörbar, der Rucksack knarrt, der Schuh schlägt auf den Felsen. Trotz des mit mir einhergehenden Lärmpegels stoße ich unangemeldet auf einen schlafenden Elch, oben auf Styggeværshaugen. Er bemerkt meine Anwesenheit erst nicht, springt dann aber schnell auf und starrt mich für eine gefühlte Ewigkeit an. Wahrscheinlich sind wir beide genauso erstaunt darüber, was der andere ausgerechnet hier oben macht. Und doch ist es fast so, als hätten wir für diesen kurzen Augenblick einen Kompagnon gefunden, der diese fantastische Aussicht mit uns teilen kann. Dann gibt es einen kleinen Steinschlag von Helvetestinden, der direkt nach Helvetesbotn hinuntergeht. Der Elch beschließt zu fliehen. Er ist schnell, springt leicht von Fels zu Fels in rauem Takt und rutscht durch das Schneefeld nach unten. Ich bleibe stehen, um mir anzuschauen, wie er kleiner und kleiner wird, bevor ich die gleiche Route einschlage. Der Elch hat sich gegen den markierten Weg entschieden, obwohl die roten T gut zu sehen sind.

Etwas weiter unten treffe ich den Bürgermeister der Kommune. Ich frage ihn weiter, ob er den Elch gesehen hat, aber er hat nur frische Spuren im Schnee entdeckt. Ich frage ihn, wohl vor allem um meine Stimme einmal wieder zu nutzen, ob Elche hier oft auf Bergspitzen klettern, doch er lächelt nur und scherzt, dass sie wohl ebenfalls dem Selfie-Trend verfallen sind. Die letzte Nacht verbringe ich in Svartvassbu, das von hohen Gipfeln umgeben ist. Ein abgeschiedener Ort, fernab der Zivilisation, wo ich die ersten Sternschnuppen beobachte, die vom Himmel fallen. Es war so manches Mal herausfordernd für mich, allein da draussen unterwegs zu sein, doch es war genau das, wonach ich gesucht habe. Niemals zuvor habe ich die Farben der Natur so intensiv wahrgenommen und bin meiner eigenen Furcht – und vor allem Antriebskraft – auf diesem Alleingang ein großes Stück nähergekommen. Fast im Alleingang. In diesem Moment hallt ein Ton in den Bergen wider, von einem Tier, möglicherweise vom Elch.


Der 50 Kilometer lange Romsdalstien in Fjordnorwegen beginnt am Romsdalsfjord und verläuft durch üppige Täler und über einige der majestätischsten Berggipfel Norwegens. Der DNT empfiehlt die Tour von Juli bis September.

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