Der schwedische Extrembergsteiger Göran Kropp radelte mit seiner Kletterausrüstung von Stockholm nach Nepal, bestieg ohne fremde Hilfe den Mount Everest und fuhr anschließend mit dem Rad zurück in die schwedische Hauptstadt. Ganz so ambitioniert sind meine Pläne zwar nicht, eine kleine Sache habe ich mit Göran dennoch gemeinsam: Auch ich starte heute von Stockholm aus, beladen mit meinem gesamten Gepäck für eine Woche, auf dem Drahtesel in ein Abenteuer am Fels.
Die Åland-Inseln sind bekannt für ihren »Rapakivi«, einen scharfkantigen Bröckelstein. Genau dieser rote Granit bietet im Norden Ålands, in der Kommune Geta, beste Boulder-Spots, die meine Freunde Vera, Hendrik, Kristof und ich in den nächsten Tagen mit dem Rad erkunden werden. Ålands Hauptstadt Mariehamn entern wir mit der Fähre von zwei Seiten: Hendrik und Kristof landen aus Helsinki an. Vera, die einen Tag später zu uns stoßen wird und ich, kommen aus Stockholm.
Pferderennen nach Geta
Nach gut sechs Stunden läuft das Boot in den Hafen von Mariehamn ein. Die Stimmung unter uns Bikern gleicht dem Moment vor einem Pferderennen. Wir warten ungeduldig darauf, dass die Rampe frei gegeben wird, um auf unseren Drahteseln an Land zu preschen. Hendrik hat mir die groben Koordinaten für die 50 Kilometer lange Radstrecke zu unserer ersten Unterkunft in Geta durchgegeben, wo die beiden Jungs auf mich warten. Wenige Meter hinter der Stadtgrenze finde ich mich auf einer Hauptverkehrsstraße wieder. Ein Lastwagen nach dem anderen rast an mir vorbei. Schleunigst biege ich auf den nächstbesten Pfad nach Westen ab, der sich allerdings verjüngt, um schließlich in einen Kartoffelacker zu münden. Mein zweiter verzweifelter Versuch, der Hauptstraße zu entkommen, endet auf einer Apfelplantage.
Kurz hinter der kleinen Stadt Jomala schlängelt sich aber tatsächlich eine Nebenstraße durch ausgedehnte Felder und Obstplantagen. Es duftet nach Äpfeln und Heu. Auf einer Wiese mache ich Rast und betrachte die Wolken am Himmel. Am späten Nachmittag erreiche ich Havsvidden und erkenne schon von Weitem die Silhouetten von Kristof und Hendrik, die mit einem Bier auf der Holzveranda sitzen. Wir bleiben heute noch ewig draußen, um uns von unseren Abenteuern der letzten Monate zu erzählen. Irgendwann versinkt die Sonne direkt vor unseren Augen im Meer.
Granit ohne Griffe
Unser erster Boulder-Spot heißt Kaseviken. Ich muss mich an das neue Gewicht meines Crashpads auf dem Rücken, das Hendrik mir aus Helsinki mitgebracht hat, erst einmal gewöhnen. Das rechteckige Schaumstoffkissen, das uns vor schlimmen Stürzen beim Klettern schützen soll, auf dem Rad zu transportieren, bedarf einer gehörigen Portion Balance. Anfangs schlingere ich unbeholfen von links nach rechts. Zwanzig Minuten später habe ich mich an die ungewohnte Last einigermaßen gewöhnt. Am Ende einer Schotterpiste schließen wir unsere Räder zusammen und steigen eine bewaldete Anhöhe hinauf. Wie aus dem Nichts türmen sich urplötzlich mächtige, mit Moos und Flechten bewachsene Gesteinsbrocken vor uns auf. Kristof öffnet das Boulder-Guidebook auf seinem Smartphone und wir stellen fest, dass es in Kaseviken 130 unterschiedliche Kletterrouten gibt.
»Krass, schaut mal«, ruft Hendrik zu uns rüber. Er steht vor einer schwindelerregenden Strecke mit höchstem Schwierigkeitsgrad, die auf den Namen »Nitro« getauft wurde. Im Gegensatz zu Hendrik und Kristof basieren meine Boulder-Erfahrungen vor allem auf Indoor-Training an farbigen Griffen sowie einigen leichten Routen draußen an weichem Sandstein. Die spitzen roten Felsen von Kaseviken sind für mich ein großes Rätsel. Sicher gibt es hundert Möglichkeiten, die einzelnen Routen hinaufzuklettern. Nur kann ich mir keine einzige davon vorstellen. Hendrik rät mir, mich zunächst an einer einfachen Route mit Schwierigkeitsgrad vier zu versuchen.
Wie aus dem Nichts türmen sich urplötzlich mächtige, mit Moos und Flechten bewachsene Gesteinsbrocken vor uns auf
Wir platzieren die Crashpads vor dem Fels. Dass ich heute keine gefährliche Sturzhöhe erreichen werde, müssen wir allerdings schnell feststellen. Ich habe mit dem Granit unter den Händen mehr zu kämpfen als gedacht. Immer wieder rutsche ich schon zu Beginn ab. Der unbarmherzige Stein hinterlässt erste Schürfwunden an meinen Armen und Beinen. »Hier draußen ist es besonders wichtig, dass du die Route, die du klettern willst, vorher Schritt für Schritt im Kopf durchgehst«, sagt Kristof, der neben mir bouldert. »Ich selbst habe eigentlich Höhenangst. Nur wenn ich genau weiß, welche Bewegungen ich zu welchem Zeitpunkt ausführen muss, kann ich mich komplett auf mein Ziel fokussieren«, erklärt er mir. Während ich gerade wieder verzweifelt an der Wand hänge und überlege, wie ich die letzten Meter nach oben überwinden kann, höre ich in der Ferne Vera rufen. Sie ist heute mit dem Fahrrad von Mariehamn nach Geta gefahren, um uns direkt an den Felsen zu treffen. Unsere Freundin ist trotz der langen Tour noch in Kletterstimmung und probiert einige Routen aus.
Später sitzen wir gemeinsam in der Sonne und essen Blaubeeren, die wir uns von den umliegenden Sträuchern pflücken. Am frühen Abend machen wir uns auf den Heimweg nach Havsvidden. Die Bilanz des heutigen Tages sind einige blutige Kratzer und unansehnliche Abschürfungen. Aber Ålands mysteriöser Granit hat auch eine neue Form des Ehrgeizes in uns geweckt.
Unfall in der Grotte
Am nächsten Morgen verlassen wir Havsvidden Richtung Süden und begeben uns zu unserem neuen Nachtlager in Soltuna, das Ausgangspunkt für unsere nächsten zwei Boulder-Tage ist. Ein hartnäckiger Gegenwind fegt über die Insel. Mein Crashpad auf dem Rücken bietet den Böen eine optimale Angriffsfläche und ich komme so gut wie gar nicht vorwärts. Unvermittelt springt auch noch die Kette aus meinem Rad. Durch den abrupten Stopp kippe ich samt Fahrrad um und falle auf der Schotterpiste rücklings zu Boden. Vermutlich sehe ich mit meinem ausladenden Crashpad auf dem Rücken aus wie ein hilfloses Insekt, das es nicht ohne fremde Hilfe auf die Beine schafft. In Kristofs Gesicht erkenne ich jedenfalls die volle Konzentration darauf, nicht schamlos loszuprusten. Fluchend setze ich die Kette wieder ein und kämpfe mich mit pechschwarzen Händen die letzten Kilometer bergauf zu unseren Campinghütten.
In Soltuna angekommen, ist der strapaziöse Bergritt vergessen. Vor uns liegt eine weite Felsenlandschaft, die an die Steinzeit erinnert. Nach einer kurzen Kaffeepause im Café von Soltuna schultern wir die Crashpads und begeben uns zu Fuß auf den Weg zur Djupviksgrottan. Anfang des 17. Jahrhunderts, als großer Unfrieden auf Åland herrschte, war die Grotte ein Zufluchtsziel für viele Menschen der Region. Heute ist sie ein weiterer beliebter Boulder-Spot mit 190 Routen. Kristof macht sich an das »Cave Problem«, eine Route mit Überhang. Vera und ich widmen uns einem benachbarten Gesteinsriesen. Plötzlich hören wir einen Schrei aus der Grotte. Kristof ist von der Wand gefallen und hat sich dabei seinen Fuß verletzt. »Verdammt, das ist so ätzend, mir passiert so oft so etwas Bescheuertes«, flucht er. Für den Rest des Tages muss er seinem angeschlagenen Fuß eine Pause gönnen. »Kommt«, sagt Hendrik, »wir hauen alle ab und sparen uns weitere Energie für morgen auf.«
Hungrige Hast
Am Abend radeln wir nach Stallhagen, einem Restaurant mit angeschlossener Brauerei, das in dem Ort Godby liegt. Nach anderthalb Stunden strampeln mit Blutzuckermangel und zwischenzeitlichen Stimmungstiefs erreichen wir eine gute Stunde später endlich das Ziel. Am massiven Holztisch lassen wir uns die traditionelle Hausmannskost schmecken. Es gibt Biorindersteak, frische Kartoffeln und Möhren. Christian Ekström und Johanna Dahlgren sind die Eigentümer des Pubs und in der Arbeitsgruppe für »New Nordic Mat« auf Åland aktiv. »Wir kochen einfaches und gesundes Essen mit Zutaten aus der Region und nach Saison, so wie es schon unsere Großmütter auf Åland getan haben«, erzählt Johanna uns später an der Bar. »Man kann sich viele Traditionen von früher abschauen. Das Simple ist oft das Gesündeste und Beste.«
Als wir am späten Abend nach Soltuna zurückkehren, gehen wir in die Sauna, die zwischen den Felsen steht. Die Jungs bereiten einen finnischen Bieraufguss auf den heißen Steinen vor. Wir philosophieren, auf den Holzbänken schwitzend, über das Leben. Später kühlen wir uns kreischend unter der kalten Dusche ab und fallen wenige Minuten später erschöpft ins Bett.
Endspurt am Vogelberg
Es duftet nach Bananen, Zimt und Zucker, als wir am nächsten Morgen die Augen aufschlagen. Vera ist heimlich vor uns aus dem Bett geschlüpft und hat ein Pfannkuchenfrühstück gezaubert. »Ich spüre mittlerweile jeden einzelnen Muskel in meinem Körper«, stöhnt sie. »Heute füllen wir unsere Energiespeicher aber noch mal ordentlich auf für unseren Höchstleistungsendspurt.«
Zu Fuß machen wir uns eine halbe Stunde später auf den Weg zu unserem finalen Boulder-Spot Fågelberget. Schon den richtigen Pfad über die Halbinsel zu finden, ist eine Herausforderung. Wir wandern mit unseren Crashpads querfeldein über rutschige Steinplateaus und können kaum die Balance halten. Immer wieder glitschen wir moosige Abhänge hinunter. Endlich können wir in der Ferne einige gewaltige Steine erkennen. Der Anblick der roten Gebilde im Meer fasziniert uns und wir halten einen Moment inne, um die unwirkliche Landschaft zu begreifen. Am Fågelberget finden sich Routen mit passenden Namen wie »Life is Good«, »Neverland« oder »Over the Moon«.
Ich habe mir für unseren letzten Boulder-Tag eine Strecke mit dem Schwierigkeitsgrad fünf ausgesucht. »Väkisin kiipeäminen« (dt. »gewaltsam klettern«) heißt die Spalte im Granit, die ich heute bezwingen will. »Karen, du schaffst das!«, ruft mir Vera zu, die gerade erfolgreich vor mir nach oben gebouldert ist. Ich nehme noch einmal all meine Kraft und meinen Mut zusammen. Dann klettere ich meine erste Fünf. Oben angekommen, eröffnet sich mir ein Blick auf sanfte Wellen, die in die Bucht rollen. Ich lege mich auf dem Felsplateau in der Sonne nieder, um diesen Glücksmoment voll auszukosten.
Immer wieder glitschen wir moosige Abhänge hinunter. Endlich können wir in der Ferne einige gewaltige Steine erkennen.
Als wir Fågelberget nach einem langen Boulder-Tag am späten Nachmittag verlassen, machen wir an einer kleinen Bucht halt und gehen schwimmen. Wir lassen uns noch eine Ewigkeit auf der Wasseroberfläche treiben und genießen die wohltuende Kühle des Meeres auf unseren angestrengten Muskeln.
Kajak im Schärenmeer
An unserem letzten Tag auf Åland radeln wir über die Dörfer zurück nach Mariehamn und genießen die Morgensonne, die uns während der Fahrt das Gesicht wärmt. Heute stechen wir zur Abwechslung mit Kajaks in See. Jonas Sjöblom, Guide beim Kletter- und Kajakanbieter Paddelboden, paddelt mit uns durch den Schärengarten zur ehemaligen Lotsenstation Kobba Klintar, die heute für Ausstellungen genutzt wird.
Der finnische Künstler Juha Pykäläinen hat auf Kobba Klintar ein Wahrzeichen geschaffen: Ein Lotse aus Holz, der mit seinem Fernglas über das Meer blickt. Wir streifen durch die historischen Ausstellungsräume, essen Fischsandwiches und trinken frischen Apfelsaft. Dann gehen wir schwimmen.
»Hier auf Åland haben wir von beiden Ländern das Beste abbekommen«, bemerkt Jonas, als wir uns zum Trocknen auf die Klippen legen. »Wir sprechen Schwedisch und haben die coole finnische Geisteshaltung. Aber am meisten mag ich, dass wir hier dem Meer überall ganz nah sind. Man hat immer eine Insel für sich«, sagt er.
Als Vera und ich mit der Fähre in den Hafen von Stockholm einlaufen, glühen unsere Gesichter von den Abenteuern der vergangenen Tage. Die Schürfwunden tragen wir heute als Trophäen nach Hause. Ob sich so auch Göran gefühlt hat, als er die Türme von Gamla Stan wiedersah? Drei Jahre später hat der Extrembergsteiger noch einmal den Mount Everest erklommen. Åland hat uns verzaubert. Auch wir werden sicher auf die felsigen Inseln im Meer zurückkehren.