Alles auf Anfang
Für Simon geht es zurück in die Weiten der größten Hochebene Nordeuropas - in die Hardangervidda. Vor jeder Tour in Norwegen heißt es, sich neu zu entscheiden für eine der unendlichen Möglichkeiten, die das Land für Wandernde bietet. Und diesmal tritt er in altbekannte Fußstapfen und gibt Tipps zum Fernwandern.
Worum geht es eigentlich beim Fernwandern? Geht es dabei um eine möglichst kräftezehrende und anspruchsvolle Tour? Oder eher, um das Gefühl über Tage und manchmal Wochen unterwegs zu sein und so in eine Art Wander-Flow zu kommen? Und ist es nicht eher Trekking, wenn man eine Tour über mehrere Tage in Norwegen macht?
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Fragen über Fragen, die sich einem nicht mehr stellen, wenn das Wandern über mehrere Tage oder Wochen zu einer gewohnten und gut eingeübten Routine geworden ist – in etwa so wie Fahrradfahren – muss man nicht jeden Tag machen, aber wenn man es einmal kann, fängt man dann aber auch nie bei Null wieder an. Ob man es nun Fernwandern oder Trekking nennt, ganz egal.
Demut und Vorfreude als Basis
Gleichwohl aber fühlt es sich jedes Mal aufs Neue dann doch etwas anders und auch neu an, wenn es darum geht, mit dem Finger auf der Karte herumzufahren und eine passende Region für die nächste Auszeit vom Alltag zu finden. Wie wird es in der anvisierten Gegend aussehen? Was packe ich bloß an Ausrüstung ein? Auf welches Wetter muss ich mich dort gefasst machen?
Beim Gedanken daran wird es mir ganz wohlig ums Herz, denn auch wenn wir, meine Freundin Anni und ich, schon einige Touren im Norden gemacht haben, zum Teil auch über Monate hinweg, die nächste Tour ist immer wieder spannend, denn eigentlich jedes Mal ist es dann doch wieder etwas anders und man weiß nie, was einem die Natur und das Wetter anbieten werden in der Zeit, in der man nur mit seinem Rucksack auf dem Rücken durchs weite Fjell in Norwegen umher streift. Man kann Touren Jahr für Jahr wiederholen, und doch wird es jedes Mal anders sein. Und diese Vorfreude aufs Unbekannte macht jede Tour zu etwas besonderem und lässt so unsere Fernwehherzen höherschlagen!
Als wir bei einer Tasse Kaffee beieinander sitzen und darüber beraten, wohin unsere nächste Tour führen wird und wir uns dabei in immer verwegenere und kompliziertere Touren zu verrennen drohen kommt mir der Gedanke an eine schon länger in bester Erinnerung gebliebene Tour in den Sinn: Warum nicht noch einmal in die Hardangervidda, aber nicht den mitunter schon etwas ausgetretenen klassischen Pfaden folgend wie auf meiner ersten Tour dort, nein, warum nicht einmal den Hardangerjøkulen Gletscher quasi weglos umrunden. In der Hardangervidda in Norwegen war ich schon einige Male und auch meine Freundin Anni hat mich dort schon im Sommer und im Winter begleitet.
Vor einigen Jahren bot sich schon einmal die Gelegenheit dazu dort mit zwei Begleitern am Gletscher weglos unterwegs zu sein und es war eine der schönsten Mehrtageswanderungen, die ich in Norwegen jemals gemacht habe. Der Clou an der Sache ist, dass die Hardangervidda für sich genommen schon eine wunderschöne Gegend für Fernwanderungen ist, verlässt man aber die Wege, und sei es nur ein halber Kilometer abseits, so ergeben sich ganz neue, teils spektakuläre Möglichkeiten, die mir sofort wieder präsent vor Augen führen, dass auch gleich neben dem Normalen, dem Standard, oft etwas wartet, das niemand so recht auf dem Zettel hat.
Das Gute ist oft so naheliegend
Und dann fällt mir direkt auch noch ein, dass ich Anni schon immer einmal die vielleicht beste Aussicht von einem Plumpsklo aus in ganz Norwegen zeigen wollte, denn sie befindet sich genau auf der Route, die mir wieder in den Sinn kommt. Die dazugehörige Hütte, die Demmevasshytta, thront hoch über einem Seitenarm des Hardangerjøkulen Gletschers und ist mit ihrer Lage mit Sicherheit eine der spektakulärsten Hütten des norwegischen Wanderverbandes DNT. Der Plan steht schnell, wir sind uns einig, es geht in die Hardangervidda, aber anders als normal.
Wir stehen etwas verloren in der Dämmerung auf der Landstraße RV52, gerade eben hat uns der Überlandbus ausgespuckt, in dem wir etwa 5 Stunden lang von Oslo aus gesessen haben. Breistølen heißt die Haltestelle, die sich mitten im gefühlten Nirgendwo befindet. Wir trotten die wenigen hundert Meter zu unserer Unterkunft für heute Abend, der DNT Hütte Skarvheimen, die sich beinahe unmittelbar an dieser Landstraße befindet. Morgen früh wollen wir aufbrechen zu unserer Tour, zum Klo mit der schönsten Aussicht Norwegens.
Skarvheimen heißt die Gegend hier, genauso wie die Hütte, und diese Gegend schließt sich nördlich an unser Ziel, der Hardangervidda, an und ergibt so die Möglichkeit für zwei Wochen in die Berge zu entschwinden, ohne dass wir eine Straße überqueren müssen. Rau, zerklüftet und jetzt Anfang September auch ziemlich einsam ist es hier, genau das, was wir suchen. Heute Morgen waren wir noch in der Hektik des Alltags zu Hause – mit Autobahnen, Flughäfen und urbanem Trubel – jetzt stehen wir hier und genießen die Ruhe.
Die ersten Tage unserer Tour in Skarvheimen sind einfach wunderbar, wir genießen den aufkommenden Herbst hier im Norden in vollen Zügen. Das Wetter ist typisch norwegsich, mal regnet es, mal scheint die Sonne, selbst im Herbst gibt es noch Altschneefelder vom letzten Winter und mitunter begrüßt uns am Morgen Nebel. Für uns aber besonders schön sind die kühlen Temperaturen, denn nach einem heißen Sommer in der Stadt haben wir uns solch ein angenehmes Wetter herbeigesehnt.
Unsere Verbindung zum Fernwandern
Uns beide verbindet die Leidenschaft fürs Fernwandern schon über viele Touren und zahlreiche gemeinsame Tage im skandinavischen Fjell. Warum es uns immer wieder in den Norden zieht? Nun, fürs uns vereint Norwegen alles, was Fernwandern ausmacht, es gibt hier mit den über 550 Wanderhütten und unzähligen gut markierten Wanderwegen die perfekte Infrastruktur für Touren jeglicher Art – bis hin zu Touren wie unserer gemeinsamen Wanderung 2018 vom südlichsten Punkt am Kap Lindesnes bis hinauf zum Nordkap über mehrere Monate.
Die größte Faszination ist aber mit großer Sicherheit die Ruhe und Stille, die man in den Weiten des Fjells, also den baumlosen Gegenden dort, findet. Oft ist man ziemlich für sich allein, wenn man sich auf Wanderschaft begibt. Insbesondere in abgelegenen Gegenden oder zum Beispiel im Herbst, wenn schon der Winter an die Tür klopft und die Temperaturen fallen, stehen die Chancen, dass man Wanderwege und Hütten für sich allein hat, schon ziemlich gut.
Das perfekte Beispiel für solch eine Gegend ist Skarvheimen, eben dort, wo wir gerade unterwegs sind. Während in der nahen Hardangervidda gerade rund um Finse an der Bahnlinie zwischen Oslo und Bergen mitunter etwas mehr los ist, begegnen uns hier zu dieser Zeit im Jahr nur ganz vereinzelt andere Wanderer. Und da wir auch ein Zelt mit im Rucksack haben, schlagen wir dies auch gerne auf, vor allem wenn die Aussichten vom Zeltplatz aus so spektakulär sind wie hier. Die Freiheit, sein Zelt aufzuschlagen, wo man möchte, und dies auch mit Übernachtungen in Berghütten zu verbinden, ist ein großes Plus, wenn man in Norwegen eine Fernwanderung machen möchte. Und so sind uns spektakuläre Zeltplätze, eine längere Pause mit frisch zubereitetem Kaffee oder auch der Müßiggang eines Ruhetags auf der Hütte auf einer langen Tour wichtiger als das Zählen von Kilometern, Wanderstunden und Höhenmetern.
Tausche Komfortzone gegen Abenteuer
Nach gut 6 Tagen Wanderschaft erreichen wir das Örtchen Finse und somit auch die Hardangervidda, der Übergang zwischen den Fjellregionen ist fließend. Eine Pause in der großen Hütte des norwegischen Wanderverbandes führt uns beim Blick aus dem Fenster auf den Hardangerjøkulen Gletscher das anstehende Abenteuer vor Augen. Finse ist der ideale Ausgangspunkt für Touren in die Hardangervidda, die gerade in ihrem östlichen Teil ideale Voraussetzungen und Bedingungen für EinsteigerInnen bietet. Wir aber wollen von hier aus das Abenteuer auf dem Weg zur Demmevasshytta suchen, welches nur wenige Meter neben den ausgetretenen Pfaden der normalen Wanderwege beginnt. Die anstehenden zwei Wandertage sind mit großer Sicherheit die abenteuerlichsten und außergewöhnlichsten, die man rund um Finse finden kann: Wir werden dem Gletscher aufs Dach steigen und ihn teilweise überqueren. Eine Erfahrung, die ich schon einmal machen durfte und die ich Anni nun zeigen möchte, hat man doch bei gutem Wetter von hoch oben einen spektakulären Blick weit über die Hardangervidda und den Hallingsskarvet Höhenzug.
Es sei als Disclaimer vorangestellt: Ich möchte eindringlich darauf hinweisen, dass die von uns gewählte Route nicht markiert und auch nicht von offizieller Seite aus beschrieben ist. Die Route ist anspruchsvoll und mit Sicherheit nichts für Anfänger. Man sollte alle seine Sinne beieinanderhaben, sich gut orientieren können, die Fjellvettreglene verinnerlicht und auch stets im Hinterkopf haben, dass man im Zweifel umkehrt und auf Nummer sicher geht. Schließt euch im Zweifel einer der offiziellen Touren des DNT zur Demmevasshytta an – safety first!
Der Aufstieg zur kleinen Rasthütte Jøkulhytta gelingt uns gut, die Wegfindung ist zwar nicht ganz einfach, aber durchaus machbar, schließlich ist es eine zwar anspruchsvolle, aber durchaus gängige Tagestour von Finse aus, die auch offiziell beschrieben ist. Rund 600 Höhenmeter überwinden wir bis zur Pause in der kleinen Hütte, die Aussicht in die Ferne ist unglaublich und bisher ging es ganz gut, lediglich für die großen und steilen Schneefelder zum Ende des Aufstiegs legen wir unsere Grödel an, die uns sicheren Halt auf dem Altschnee bieten.
Der spannendste Teil unserer Tour mit der Überquerung des Gletschers verläuft gut, wenn auch weniger aussichtsreich als erhofft. Ob es nun Wolken oder Nebel ist, einerlei, wir sehen jedenfalls nicht viel und fühlen uns wie auf einem fremden Planeten, vielleicht wie auf dem Eisplanten Hoth aus Star Wars dessen Filmszenen hier gedreht wurden, als wir uns über das leider nicht mehr so wirklich ewige Eis bewegen. Wir sind keine 5 Kilometer Luftlinie vom belebten Finse entfernt, mitunter hört man den Zug weiter unten tuten, aber hier auf dem Gletscher könnte man nicht weiter weg sein vom Alltag. Wir genießen das Abenteuer, wer kann schon davon berichten, so eine Tour in Norwegen gemacht zu haben?
Der Abstieg über den Ramnabergbreen Seitenarm gelingt auf Anhieb, im Zickzack finden wir eine gute Route, die Grödel geben uns Halt und wir beide können uns auf uns, unsere Erfahrung und Fähigkeiten verlassen, ein gutes Gefühl. Auch das mögen wir so sehr an langen Wanderungen hier, man steigert sich langsam, lernt sich auf sich verlassen zu können und seine eigenen Fähigkeiten auszubauen – und was kann es im Alltag schon für Probleme geben, wenn man sich hier sicher und verlässlich bewegen kann zu jeder Jahreszeit bei fast jedem Wetter? Das gibt Selbstvertrauen, aber stets mit einer gewissen Demut vor der gewaltigen Natur hier.
Lage, Lage, Lage – auch bei der Wahl des Zeltplatzes
Nach der Überquerung ist das abenteuerlichste Klo Norwegens nicht mehr weit, wir entscheiden uns aber dennoch für eine Übernachtung im Zelt vorher, zu verlockend ist der Zeltplatz, den wir am späten Nachmittag finden. Der Blick in eines der schönsten Täler Norwegens mit den drei Demmevatnet-Seen in der Ferne zieht uns dermaßen in seinen Bann, dass wir uns hier am nächsten Morgen kaum lösen können von diesem herrlichen Fleckchen Erde. Auch hier, nur wenige Kilometer entfernt von den klassischen Wanderwegen, ahnt wohl kaum einer von diesem Kleinod.
Die wenigen Kilometer zur Demmevasshytta bieten dann alles, was Norwegen ausmacht: Kristallklare See, sprudelnde Bäche, schmale Pfade und Aussichten auf Gletscher und tiefe Seen. Als wir kurz vor der Hütte den letzten Anstieg gemeistert haben, bekommen wir uns kaum mehr ein, wir grinsen uns an, strahlen wie die Honigkuchenpferde um die Wette und können unser Glück kaum fassen. Der Blick auf die Rembesdalskåka Gletscherzunge voraus macht uns einfach sprachlos – ein kaltes Labyrinth mit haushohen Pfeilern aus Eis und unendlich vielen kleinen und großen Spalten erstreckt sich vor uns. Genau dieser Ausblick war es, der uns hierhergelockt hat, der uns vor etwas mehr als einer Woche die schweren Rucksäcke schultern lassen hat und der nun die Kirsche auf der Torte dieser abenteuerlichen Fernwanderung ist. Wir könnten kaum glücklicher sein in diesem kleinen Moment, eine Viertelstunde vollkommenen Glücks, voll tiefer Zufriedenheit und Dankbarkeit.
Spaß und Schinderei liegen manchmal eng beieinander
Gerade auf langen Touren ist der Begriff Spaß ein dehnbarer, denn am Ende eines langen Wandertages kann das Glück auch nur sein, dass man am Abend ein trockenes und warmes Plätzchen für die Nacht gefunden hat oder in den Untiefen des Rucksacks noch eine schon längst vergessene kleine Leckerei wie einen Schokoriegel, den man besonders gerne mag, findet. Es sind die kleinen Dinge, die eine Fernwanderung zu etwas Großem machen. Man investiert viel, überwindet sich, mitunter schindet man sich auch, fragt sich tausende Male, warum man das alles macht und man nicht lieber gerade auf dem warmen Sofa zu Hause sitzt – aber dann kommen Momente wie diese, mit Ausblicken, die man sein Leben lang nicht vergessen wird, um nichts in der Welt möchte ich meine Leidenschaft fürs Fernwandern in Norwegen eintauschen.
Das hier, das ist unser stiller Anker in einem trubeligen und lauten Alltag, dem wir immer wieder auf diese Weise entfliehen kann! So einfach wie spektakulär, zumindest wenn man wie wir dann kurz darauf den unfassbaren Ausblick vom abenteuerlichsten Klo Norwegens aus genießen kann. Niemand wird hier bei geschlossener Tür sitzen, das könnt ihr uns glauben! Versprochen!
Und über das, was die restlichen Kilometer rund um den Hardangerjøkulen für uns noch an weglosen Abenteuern bereithält, darüber machen wir uns dann Gedanken, wenn es so weit ist. Jetzt heißt es erstmal einen Ruhetag auf der Demmevasshytta zu verbringen, Kaffee zu trinken, die Aussicht zu genießen und hier im Augenblick zu sein. Der nächste Wandertag kommt noch früh genug und man muss es eh nehmen, wie es kommt. Auch das haben uns die unzähligen Kilometer bisher im Fjell gelehrt, aber wenn man einen Schritt nach dem anderen geht, dann ist man irgendwann da, wo man hinmöchte. Und wenn es der Moment ist.
Fünf Tipps von Simon für Fernwanderungen in Norwegen:
- Bereitet euch und eure Ausrüstung beim Wetter auf jegliches Szenario vor – selbst im Sommer kann man in höheren Lagen auf große Schneefelder treffen, Regen kann es ausgiebig und immer geben und kilometerlanger Sumpf kann auch bei strahlendem Sonnenschein zu einem echt fiesen Begleiter werden.
- Nehmt ausreichend Snacks fürs tagsüber mit, so habt ihr immer ausreichend Energie, auch wenn der Wandertag einmal länger werden sollte.
- Eine warme Isolationsjacke für die Pausen ist mitunter Gold wert! Einfach aus dem Rucksack gezogen, schnell über alles drüber gestreift und schon habt ihr es schön gemütlich in der nächsten Pause!
- Ladet euch die App ut.no aufs Handy – ihr findet dort alle relevanten Infos zu allen möglichen Wanderwegen, Hütten und Tourvorschlägen. Darüber hinaus könnt ihr euch die Wanderkarten zur Offline-Navigation herunterladen – und das alles kostenlos!
- Werdet Mitglied beim norwegischen Wanderverband DNT – man erhält auf den Hütten einen relevanten Nachlass auf die Übernachtungspreise und bekommt gegen ein geringes Pfand den Schlüssel zu vielen der 550 Wanderhütten