Welch sonderbarer Anblick. Alleine das, was der Naturpfad hier zu bieten hat, könnte gegensätzlicher nicht sein. Wo mich gerade noch ein wunderschöner, urwaldartiger Hain in seinen Bann gezogen hat, holen mich im nächsten Moment stillgelegte, von Pflanzen überwucherte Tagebauwerke aus dem Tagtraum. Jetzt stehe ich inmitten des schöns- ten Archipels am Fuße des Nationalparks Tammisaari und vor mir ragen heruntergekommene Betonwohnblöcke aus den 70er Jahren in den Himmel. Fast so, als wäre eine zum Abriss bestimmte Großstadtsiedlung von heute auf morgen im Zuge der Ökokrise aufgegeben worden. Assoziationen an die verlassenen Wohngebiete von Prypjat nach dem verheerenden Reaktorunfall von Tschernobyl werden wach. Die Einschusslöcher in den Hauswänden tun ihr Übriges. Meine Antennen für apokalyptische Stimmungen sind im Jahr von Corona vielleicht auch übermäßig empfindlich.
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Schwarze Vergangenheit
Die ehemalige Militärinsel Jussarö im Tammisaari-Archipel, von der diese unbehagliche Stimmung ausgeht, hatte ich im Frühjahr zum ersten Mal besucht. Nicht Katastrophentourismus, sondern das Café Ön mit seinen berühmten Pfannkuchen waren mein Antrieb. Doch zweifelsohne wollte ich auch wissen, ob Jussarö ihrem Ruf als Geisterstadt gerecht wird. Verlassen zu werden, scheint ihr historisches Los zu sein. Im 19. Jahrhundert wurde auf der Insel Bergbau betrieben. Nach Stilllegung errichtete man in den 1960er Jahren ein neues Eisenerzbergwerk. Als auch diese Grube 1967 geschlossen wurde, wurden die Wohnblöcke der Bergmänner dem Verfall überlassen.
Verlassen zu werden, scheint ihr historisches Los zu sein.
In den 1930er Jahren wurde die Küstenwache auf dem Eiland stationiert, um seinerzeit Jagd auf Schmuggler zu machen. Auch in dieser Funktion hat Jussarö mittlerweile ausgedient. Bis 2005 war hier noch das nnische Militär angesiedelt. Den Kampfübungen sind die zahl- reichen Löcher in den Gemäuern geschuldet. Heute gehört Jussarö zum Nationalpark Tammisaari. Die Kombination aus unberührter Natur und schwarzer Vergangenheit verspricht einen Hauch von Abenteuer. Als ich meine Wanderung um die Insel fortsetze, bemerke ich, dass auch der Sand am Strand wundersam schwarz ist – so, als wäre hier alles ein wenig anders. Die Färbung des »Iron Beach« ist auf das Eisenerz der Grube zurückzuführen.
Vor mir liegt das offene Meer. Ich mache Rast auf einem Felsen und lasse meinen Blick über das Wasser in die Ferne schweifen. Am schönsten Aussichtspunkt der Insel hat jemand aus kleinen Steinen das Wort »Motherfucker« geformt. Ehrfurcht vor der Natur scheint nicht jedermanns Sache zu sein. Jussarö macht einem bewusst, welche Spuren der Mensch in der Natur hinterlässt. Ich beschließe, noch diesen Sommer mit ein paar Freunden vom Festland aus nach Jussarö zu paddeln und auf dieser Geisterinsel ein Wochenende zu verbringen.
Ruhe vor dem Sturm
Lohnt das überhaupt? Am Ufer verstauen meine Freunde und ich unsere Campingutensilien in wasserdichte Beutel und schlüpfen behutsam in unsere Kajaks. Die Stimmung ist bei allen angespannt. Am Vorabend haben wir uns gegenseitig per WhatsApp mit den aktuellsten Wetterdaten versorgt. Jussarö grenzt direkt ans offene Meer. Schon hier am Festland weht eine steife Brise. Der Wetterdienst hat vor Windstärken von über zwölf Metern pro Sekunde gewarnt. Wir wissen alle, dass das Paddeln bei Böen von mehr als zehn Metern pro Sekunde zur Herausforderung wird, wenn die offene See auch nur geringfügig beteiligt ist.
Wir haben zwar ein paar erfahrene Bootsfahrer in der Gruppe, aber auch solche, die noch nie bei starkem Seegang gepaddelt sind. Bei windstillen Verhältnissen wäre eine Tour nach Jussarö für jeden und jede von uns ein Kinder- spiel. Aus der gediegenen Kajaktour am Morgen wird nun eine überflüssige Herausforderung. Unsere Kajaks haben wir vor Ort bei der Paddlingsfabriken von Jöns Aschan geliehen, der uns als Guide begleitet. Jöns ist seit Jahrzehnten in diesen Gewässern unterwegs und kennt hier jede Insel, jede Schäre und jeden Hafen. Jöns’ gelassene Art beruhigt uns kollektiv. Unser Plan ist es, unsere Routen so sicher wie möglich zu wählen, die Rettungsübungen zu wiederholen und sofort umzulenken, wenn sich jemand von uns nicht mehr sicher fühlen sollte.
Das Paddeln im Schutze der Schären fällt fast schon leicht. Wir haben Zeit, die Natur des Nationalparks Tammisaari zu bewundern. Für den Großteil unserer Gruppe ist gerade dieser Teil des südfinnischen Archipels Neuland, steht er doch oft im Schatten der Turkuer Schären. Wir haben beschlossen, es langsam angehen zu lassen und legen schon bald eine Pause an einer kleinen Insel ein. Wir sind dankbar für die warme Luft, auch wenn es in erster Linie wolkig, nass und windig ist. Ich trinke Kaffee aus meinem Emaillebecher und genieße die Postkartenlandschaft in vollen Zügen. Es mag an der Witterung liegen, aber bisher sind wir noch niemand anderem begegnet. Dennoch sind auch wir heute Teil eines regelrechten Nationalpark-Booms, der mit der Pandemie geboren wurde. Es ist schön, dass immer mehr Menschen die Wildnis für sich entdecken. Aber wo zeigt sie sich eigentlich in ihrer ursprünglichen Form, wenn wir ihr Raum geben?
Manipulierter Schandfleck
Die finnische Autorin Riikka Kaihovaara sieht im Yellowstone-Park in den USA die Anfänge des Nationalparkgedankens begründet. In einem Aufsatz ihres Buches Villi ihminen (dt. Ein wilder Mann) beschreibt sie, wie wir die ursprüngliche Natur im Nationalpark bewahren möchten. Nationalparks sind für uns zu Museen der Natur geworden, die die perfekte Landschaft und die Natur unserer Träume zeigen – das ikonische Schema, das wir aus der Kunst und den Naturporträts der Vergangenheit kennen und lieben gelernt haben. Kaihovaara sieht die Essenz der wilden Natur eher im verlassenen Ödland – in den vom Menschen manipulierten, verwucherten und zurückgelassenen Schandflecken. Aber wie genau lässt sich in von uns Menschen kontaminierten und verdorbenen Stätten Schönheit finden?
Auch das skandinavische Künstlerduo IC-98 beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten damit, was nach dem Menschen kommen mag. Ihr jüngstes Projekt Luonnontuhopuisto (dt. Park der Naturzerstörung ) soll uns vor Augen führen, wie sehr wir die Natur zunichte machen. Auf der Suche nach geeigneten Orten für ihre Kunstinstallation besichtigt die Arbeitsgruppe regelmäßig heruntergekommene Stätten wie stillgelegte Bergwerke. Jussarö dürfte alle ihre Kriterien erfüllen.
Ödland und verlassene Orte faszinieren uns Menschen schon seit jeher. Durch die Coronakrise stellen wir uns vielleicht umso häufiger vor, wie eine Welt ohne uns Menschen und unsere Spuren aussehen könnte. Aber genug Philosophie. Wir trinken unseren Kaffee aus und machen uns über die Unmengen an Gepäck lustig, die wir in unserer kleinen Pause auf unseren vollgepackten Beuteln gekramt und auf dem kompletten Felsen verteilt haben. »Ich frage mich jedes Mal aufs Neue, wie das alles in die Kajaks passen soll«, konstatiert einer meiner Freunde. Auf uns allen unerklärliche Art und Weise schlucken die Kajaks unsere gesamte Ausrüstung und wir sind wieder startklar.
Fehlgeleiteter Kompass
Ohne den Windschutz der Inseln wird das Vorwärtskommen deutlich schwieriger. Wir paddeln bei rauem Seegang zielstrebig gegen den Wind an, aber schon jede etwas kräftigere Zugbewegung zehrt an den Kräften. Ich versuche meine stümperhafte Paddeltechnik. Alle kleinen Fehler summieren sich ins Unerträgliche. Ich weiß, dass ich den anderen rechtzeitig Bescheid sagen sollte, wenn ich nicht mehr kann, aber zugeben, das schwächste Glied zu sein, kann ich auch nicht. »Ich bin fix und fertig«, stößt eine meiner Freundinnen endlich frustriert aus und ich nicke erleichtert. Ich bin nicht die Einzige.
Wellen peitschen schwarz und gnadenlos an das Ufer.
Als wir die letzte Insel vor Jussarö erreichen, lässt uns der Ausblick vom südlichen Ufer aus in verzweifeltes Gelächter ausbrechen. Die Wellen toben unter dem dunkelgrauen Himmel, türmen sich steil auf und brechen ein wenig weiter draußen sogar schon. Dieser Anblick gefällt keinem von uns. Jöns erzählt, dass am Meeresgrund vor Jussarö ein paar Wracks versunken liegen. Die Kompasse der Schiffe wurden damals vom Eisenerzvorkommen auf der Insel gestört. Zudem ist das Wasser hier nicht einheitlich tief, weswegen um die Insel herum oft überdurchschnittlich starker Seegang herrscht. Zwischen den Inseln entstehen außerdem Kreuzwellen, was das Rudern und Paddeln noch weiter erschwert. Wir sind uns einig, erst am Morgen nach Jussarö weiterzupaddeln, wenn sich der Wind gelegt hat.
Mit unseren Kajaks legen wir an und schlagen unser Lager am geschützten nördlichen Ufer auf. Gerade noch rechtzeitig schaffen wir es, unser Tarp aufzuspannen, bevor der Platzregen einsetzt. So bleiben wir trocken und unser Abendessen bei strömendem Regen verläuft nach der anstrengenden Paddelei unter unserem Unterschlupf geradezu gemütlich und idyllisch. Als der Regen etwas abschwächt, unternehmen wir einen kleinen Spaziergang um die Insel. Am südlichen Zipfel blicken wir auf das gegenüberliegende Ufer von Jussarö. »So nah und doch so fern«, seufzt es neben mir mit melodramatischer Stimme. Der Wind hat noch nicht nachgelassen, bläst sogar noch stärker als zuvor. Wir bewegen uns langsam auf den rutschigen Felsen. Die Wellen peitschen schwarz und genadenlos ans Ufer.
Sich der Natur beugen
Am nächsten Morgen werden wir von Sonnenstrahlen geweckt. Nach dem Frühstück gehen wir nacheinander eine Runde schwimmen. Das Meerwasser ist schön warm, aber der Wind weht noch immer mit mindestens zwölf Metern pro Sekunde. Der Wettervorhersage zufolge soll das erst der Anfang sein. Da wir nicht von allen guten Geistern verlassen sind, fassen wir einen Beschluss: Jussarö kann warten. Stattdessen wollen wir in Richtung der größten Insel des Gebiets paddeln und dort den alten Fischerort Rödjan besichtigen. Der Älgöer Naturpfad klingt weniger verlockend als Jussarö, aber immerhin wird die Insel im Gegensatz zum verwahrlosten Militäreiland als idyllisch angepriesen. Mit der Planänderung können wir alle leben und fast ist eine Art Erleichterung in der Gruppe darüber zu spüren, Jussarös schwarzem Bann heute entkommen zu sein.
Nun sind wir an der Reihe, uns der Natur zu beugen.
Zwischen den Schären lässt es sich wieder entspannt paddeln und bei Rückenwind auf den Wellen surfen. Das Wasser ist klar und die Tangwälder unter unseren Kajaks sind gut zu erkennen. Der Blasentang ist eine Schlüsselart der Ostsee, aber durch die Eutrophierung, also der schädlichen Nährstoffzunahme des Meeres, gerade auch durch die Überdüngung in der Landwirtschaft, stark gefährdet. Vor 50 Jahren war diese Tangart sogar schon einmal vom Aussterben bedroht.
Der Nationalpark ist wunderschön, aber auch hier sind die Spuren der menschlichen Einflüsse erkennbar. Jemandem aus der Gruppe fällt auf, dass das Thema unseres Ausflugs letztendlich doch irgendwie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur war. Nun sind wir an der Reihe, uns der Natur zu beugen.