Die Jagd nach den einsamen Bergen
Auf der Suche nach unentdeckten Schneeparadiesen reisen Freeride-Fans um die ganze Welt. Nur wenige landen in der Fjell- und Fjordwelt rund um die norwegische Hafenstadt Narvik. Diese bietet jedoch grenzenlose Skimöglichkeiten, beeindruckende Aussichten und rauen Rock’n’-Roll-Charme.
Es ist schon dunkel, als wir bei dem alten Fischerhof ankommen, der jetzt Trollviken Lodge heißt und an einem Nordhang des Ofotfjords liegt. Als wir das aus Holzbalken gezimmerte Haupthaus betreten, werden wir von einem gemütlichen Durcheinander aus trocknenden Wetterjacken, Fellen und Kletterseilen empfangen – und von einem gut trainierten Finnen mit einem Badehandtuch um den Bauch, noch schweißgebadet von der Sauna. Er sitzt da mit einer Bierflasche in der Hand und schaut durch das Fenster auf die Lichter, die vom anderen Ufer des Fjords, von Narvik und den erleuchteten Pisten auf dem Narvikfjellet herüberfunkeln.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
»Ja, man kann es schlechter treffen als hier«, sagt Peter »Kajken« Virtanen mit einem Seufzer, als wir ihn begrüßen. Man muss kein Psychologe sein, um zu ahnen, wie viele Gefühle sich hinter diesen Worten verstecken. Der – nur anfangs – wortkarge Feuerwehrmann aus Pietarsaari und sein guter Freund Mats Moisio kommen seit achtzehn Jahren über Ostern nach Narvik zum Skifahren. Mats, von Beruf Zahnarzt, reist außerdem jeden Winter mehrmals in die Alpen. Kajken dagegen endet es unnötig, woanders hinzufahren, »weil die Berge hier sowieso Weltklasse sind«.
Heute Morgen saßen sie schon um fünf Uhr im Auto, zusammen mit dem Bergführer Magnus Strand, der die Trollviken Lodge betreibt. Sie fuhren nach Süden, zum Fjord Sørskjommen, wo sie bei einem Kraftwerk am Fuß des 1 318 Meter hohen Berges Gangnesaksla parkten. Dort schnallten sie sich ihre Felle unter die Skier, spurten durch den Fjellwald und erreichten in einer weiten Linkskurve den Gipfel. Von dort fuhren sie abwärts bis zum Einstieg in die Gangnesrinne. Magnus kontrollierte hängende Schneewehen und -haufen, bevor er signalisierte, dass sie in die Rinne hineinfahren könnten. Dann folgte die Fahrt, an die Kajken und Mats – und vielleicht sogar Magnus – sich ihr Leben lang erinnern werden.
Ungespurt und ungepistet
Würde die Gangnesrinne bei Chamonix liegen, wäre sie als eines der besten Freeride-Gebiete der Welt bekannt: Sie hat an ihrem Beginn ein Gefälle von etwa vierzig Grad und führt dann mit einer Fallhöhe von unglaublichen 1 100 Metern zwischen grauen Granitfelswänden direkt abwärts, bis sie an einem Strand endet. Doch vorläufig muss sie sich damit begnügen, nur in einem kleinen Kreis nordischer Tiefschnee-Fans, die steile Abfahrten schätzen und sich den Aufstieg aus eigener Kraft zutrauen, als heißer Tipp zu gelten. (Der verstorbene schwedische Extremskifahrer Andreas Fransson zum Beispiel bezeichnete sie als die Mutter aller Rinnen.)
Kajken deutet zufrieden auf ein abgegriffenes Exemplar des Reiseführers Toppturer runt Narvik (dt. Gipfeltouren rund um Narvik), auf dessen Umschlag die Gangnesrinne prangt. Die heutige Fahrt war die größte Heldentat der achtzehn Osterurlaube von Kajken und Mats in Narvik. Das Kronjuwel unter vielen tollen Touren, das dadurch noch eine besondere Bedeutung erhält, dass beide Männer in diesem Jahr fünfzig werden. »Wir hatten am Anfang sogar Pulverschnee «, sagt Kajken stillvergnügt und lässt mich und den Fotografen Henrik Witt unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Auf dem Schlafsofa in der Küche sitzen Emily Andrew und Josie Allen aus England und trinken ein Glas Wein. Donna Veraguth aus den USA hackt Zwiebeln für die abendliche Pasta Carbonara.
Die drei wohnen in Chamonix und sind nach Nordnorwegen gekommen, um Gipfeltouren auf eigene Faust zu unternehmen, ohne Führer. Sie verbringen ein paar Nächte in der Trollviken Lodge, bevor sie auf die Lofoten weiterreisen. In dem freundlichen Englisch, in dem sogar eine Beschwerde wie ein Lob klingt, erzählt Emily, dass sie mit Josie vor einigen Jahren bereits in Lyngen war: »I just loved it«. In diesem Jahr wollten sie, gemeinsam mit Donna, etwas Neues ausprobieren. »Ich hatte im Kletterforum UK Climbing von Narvik gehört und fand es spannend«.
Heute, an ihrem ersten Tag in Narvik, haben sie das Mietauto an der Straße nach Tromsø geparkt und sind auf den Spanstind gestiegen. »Magnus hat uns den Tipp gegeben. Der Spanstind ist offenbar einer der populäreren Berge in der Region Narvik. Wir hatten erwartet, dass der gesamte Tiefschnee schon befahren war – so wäre es in Chamonix gewesen. Aber er war völlig ungespurt. Unglaublich!«
An dem großen Holztisch im Speisezimmer essen wir gemeinsam zu Abend – zwei Finnen, zwei Engländerinnen, drei Schweden und eine Amerikanerin. Das Gespräch tastet sich voran, mit vielen höflichen Fragen und ein paar Anekdoten. Wie das eben so ist, wenn man sich kennenlernt. Draußen ist von Süden her Wind aufgekommen und die Böen donnern gegen die Hauswände. »Das Wetter wird schlechter und wir müssen morgen früh zeitig los«, sagt Magnus.
Fjell, Fjord und Rock’n’Roll
Am nächsten Morgen fahren wir mit dem Auto am Skigebiet Narvikfjellet vorbei. Vor zehn, fünfzehn Jahren wurde das Gebiet als unbekannte norwegische Skiperle entdeckt. Die Hänge in nächster Umgebung der Hafenstadt haben tatsächlich die größte Fallhöhe unter allen Skigebieten Skandinaviens. Und von der höchsten Liftstation kann man entweder in das ungepistete Gebiet Mørkholla hinunterfahren oder am Bergkamm weiter hinaufsteigen, um noch größere und steilere Tiefschnee-Areale zu erreichen. Doch obwohl das Narvikfjell seitdem in allen Skimagazinen der Welt kräftig gehypt wurde, ist der Skitourismus dort noch nicht richtig angekommen. Von Montag bis Donnerstag sind die Liftanlagen nur abends geöffnet und den ausländischen Touristen, die dann in den Gondeln sitzen, geht es nicht ums Skifahren, sondern um das Nordlicht.
Man kommt nicht daran vorbei: Narvik ist weder St. Anton noch Whistler, sondern eine norwegische Kleinstadt mit Supermärkten, Fastfood-Läden und der Problematik dünn besiedelter Gegenden. Hier wird das Eisenerz aus den Gruben von Kiruna verladen und auf dem Wasser liegen die großen Frachtschiffe auf Reede. Aber genau das ist es, was Magnus liebt. »Das hier ist kein Bilderbuchidyll wie die Lofoten oder Lyngen. Narvik ist eher wie Anchorage in Alaska. Ungehobelt, cool und mit fantastischen Skigebieten rundherum. Mehr Rock’n’Roll«, sagt er, als wir an einem ausgebrannten Gasthaus hinter polizeilichem Absperrband vorbeifahren.
Aber neben dem rauen Charme ist es natürlich die Bergwelt, die Magnus’ Herz höher schlagen lässt. Allein im Reiseführer Toppturer runt Narvik, der 2004 erschienenen Offpist-Bibel der lokalen Freeride-Ikone Mikael af Ekenstam, sind über fünfzig Gipfel aufgezählt, die von Narvik aus in einer Stunde zu erreichen sind. »Du kannst auch noch die Inseln Rolla und Andøya im Norden hinzufügen, das Hundtal im Osten und die Berge rund um Riksgränsen und Björkliden sowie den Nationalpark Abisko auf der schwedischen Seite der Grenze«, sagt Magnus. »Man kann sich die Ski-Location quasi je nach Wetter und Schneeverhältnissen aussuchen.« Im Hundtal habe ich früher schon Gipfeltouren unternommen. Es ist ein einsames, von steilen Berghängen umgebenes Tal. Wir fuhren damals auf Skiern von der Bahnstation Katterat aus dorthin und wohnten in einer einfachen, ofenbeheizten Holzhütte des norwegischen Tourismusverbands.
Auch die schwedischen Ski-Spots sind mir vertraut. Genau wie Katterat liegen sie an der Eisenbahnlinie zwischen Narvik und Kiruna – der sogenannten Malmbana, auf der seit 1902 das Eisenerz aus den Gruben von Kiruna zum eisfreien Hafen von Narvik transportiert wird. In Björkliden am See Torneträsk und am Grenzort Riksgränsen liegen zwei der schönsten und schneesichersten Skigebiete Schwedens, für viele Freerider ein perfekter Ausgangspunkt für Touren in die grenzenlose Berglandschaft.
Höllenritt und Glücksgefühle
Nun ist es also Zeit für die Fjells um Narvik. Als wir an diesem Ostersamstag frühmorgens unseren Aufstieg an der Nordseite des Storfjellet beginnen, sehen wir keine anderen Skifahrer, auch keine Spuren von ihnen. Bis zum Gipfel sind es 1 550 vertikale Meter. Magnus spurt, wir anderen folgen der Reihe nach auf unseren Skiern. Die Mädchen aus Chamonix sind auch mit dabei. Donna hat uns inzwischen erzählt, dass sie mehrere Jahre in Jackson Hole gewohnt hat, bevor sie 2014 nach Chamonix zog. Ich frage sie nach ihrem Eindruck von Narvik, im Vergleich zu Jackson Hole und Chamonix. »Weniger Bäume, weniger Menschen, mehr dem Wetter ausgesetzt«, lautet ihre knappe Antwort. Es wäre auch schwierig, ausführlicher zu antworten, denn ein starker Südwind ist aufgekommen.
Die Outdoor-Jacken knattern und spitze Eiskristalle prasseln auf unsere Gesichter. Nach einer kurzen Kaffeepause im Windschutz eines Felsbrockens nimmt der Wind noch zu und gleichzeitig verschlechtert sich die Sicht. Wir setzen unseren Aufstieg nun schweigend fort, kommen aber Schritt für Schritt voran. Oben wollen wir versuchen, einem Bergkamm zu folgen, der laut Reiseführer »spektakulär« sein soll, um so den Gipfel zu erreichen.
Nachdem wir die Skier abgeschnallt haben, kämpfen wir uns in einer geduckten Reihe vorwärts. Wir müssen in die Knie gehen und uns zusammenkauern, um nicht zu riskieren, dass uns eine Windböe vom Kamm fegt. Denn auf beiden Seiten geht es fast überall im freien Fall in die Tiefe. Magnus mit seiner Hartnäckigkeit, Kajken mit seinem ruhigen Feuerwehrmannhumor und Emily mit ihren ermunternden Ausrufen tragen dazu bei, dass die Stimmung trotz allem gut ist, wenn auch etwas nervös. Aber zwanzig Meter vor dem Gipfel signalisiert uns Magnus mit beiden Händen, dass wir umkehren müssen.
Die Abfahrt vom Storfjellet wird für mich zu einem kleinen Höllenritt, denn in diesem Winter war ich nur ein paar Tage mit meinen Kindern auf Skiern unterwegs. Vom warmen Wind ist der Schnee feucht und schwergängig geworden. Aus den Oberschenkelmuskeln schießt Milchsäure ins Blut und ich habe Krämpfe in den Zehen.
Auch die anderen tun sich schwer – der Einzige, der während der gesamten Abfahrt fest auf den Beinen steht, ist Magnus mit seinem energiesparenden Bergführerstil. Aber als wir uns dann in einer geschützten Bachschlucht versammeln, haben alle diesen leuchtenden, lebendigen Blick, der einem ein richtiges Abenteuer schenken kann, und es wird viel gelacht.
Der Banker, der es satt hatte
Als wir unser Ostersamstagsdinner in Pepes Pizzeria in Narvik genießen, ist die Stimmung ganz anders als am Vorabend. Morgen werden Kajken, Mats, Emily, Josie und Donna in verschiedene Richtungen weiterreisen. Aber nach einem gemeinsamen Tag im stürmischen Wind sind wir ganz einfach Freunde geworden. Auch unseren Bergführer Magnus, der mit seinem wettergegerbten Gesicht, den ausgebeulten G-Star-Jeans und dem langärmeligen Funktionsunterhemd ein bisschen an einen überwinterten Ski Bum erinnert, lernen wir bei Bier und Pizza besser kennen.
2012 hatte er einen alten Fischerhof mit zwei Wohnhäusern gekauft, mit dem Hintergedanken, sich einen festen Punkt im Leben zu schaffen und eine etwas exklusivere Ski-Lodge aufzubauen, in der den Gästen ein Abendessen serviert wird, am besten mit Zutaten aus lokaler Produktion.
»Aber ich war gezwungen, meine Ambitionen zurückzuschrauben«, sagt er. »Jetzt dürfen die Gäste selbst ihr Essen kaufen und zubereiten, abräumen und Geschirr spülen. Es darf dabei ruhig etwas drunter und drüber gehen.« Auch wenn das nach einem Bohemien klingt, der sich weigert, erwachsen zu werden: Tatsächlich hat Magnus viele Jahre ein durchgeplantes Leben geführt und Anzüge statt ausgebeulter Jeans getragen. Als junger Mann war er leidenschaftlicher Kletterer. In Chamonix begegnete er seiner späteren Frau, 1992 bekamen die beiden ihr erstes Kind.
»Ich übernahm die Rolle des Familienversorgers, büffelte Volkswirtschaft und fand einen Job bei einem Fondsmanagement in Stockholm, dann in London und schließlich in Frankfurt«, erzählt Magnus. Aber irgendwo jenseits dieser privilegierten Existenz mit teuren Hotels und englischen Privatschulen für die Kinder wartete der Traum vom Klettern, verlockend wie eine Waldnymphe. »Ungefähr 2004 merkte ich, dass es nicht funktionierte. Es fühlte sich an, als würde ich den ganzen Tag Monopoly spielen. Klar, ich war unheimlich gut beim Monopoly. Aber ich fing an, mich nach den Bergen zurückzusehnen.« Ein Plan reifte in ihm heran: Er wollte sich zum Bergführer ausbilden lassen. Im Jahr 2007 hatte er die harten Aufnahmebedingungen für die Guide-Ausbildung erfüllt und kehrte der Finanzwelt den Rücken. Das neue Leben war mühsamer, als er es vorausgesehen hatte. »Und doch geht es mir jetzt, wo ich mich fast ständig in der Natur aufhalten kann, so viel besser.«
Eine dramatische Landschaft
Am nächsten Tag pendelt das Wetter zwischen Starkwind und Sturm. Wir wollten die Fähre zur Insel Rolla nehmen, diesem Gewimmel von spitz aus dem Meer aufragenden Gipfeln, aber das Schiff kann nicht auslaufen. Die Dachbox unseres Autos wird vom Wind zerstört. Manchmal muss man in den Sturmböen nach Luft ringen und ein loser Riemen am Rucksack kann einem ins Gesicht knallen wie eine Peitsche. Immer wieder gehen kurze heftige Regenschauer auf Narvik nieder und die umliegenden Gipfel verschwinden in dunklen Wolken. An Skifahren ist nicht zu denken.
Der nächste Tag versöhnt uns mit strahlendem Sonnenschein und wir beschließen, den Spanstind in Angriff zu nehmen. Man versteht schnell, dass das 1 457 Meter hohe Massiv zu den beliebtesten Gebieten der Region zählt. Vom Parkplatz direkt an der E6 sind es gerade einmal fünf Minuten zum Fuße des Berges. Der größte Teil besteht aus vielen kleinen Hügeln und Abhängen, zwischen denen es sich leicht kreuzen lässt. Weiter oben sind die Steigungen dann gleichmäßiger. Als wir am Gipfel ankommen, hat der Wind den losen Pulverschnee bereits weggeweht – sonst wäre der anschließende Weg hinab ins Tal wohl vollkommen perfekt gewesen.
Dafür ist der Blick vom Gipfel einzigartig: Dramatische Wolkenformationen ziehen über den blaugrauen Himmel und setzen die Landschaft in ein fast biblisches Licht. Im Nordwesten breitet sich die bergige Inselwelt aus, im Süden der Ofotfjord und im Südosten das wogende Fjell. Wir genießen die schnelle Abfahrt bei guter Sicht.
Die ganze Woche kontrolliert Magnus die Wettervorhersagen und ist bekümmert darüber, dass er uns nicht auf die Berge führen kann, die er eigentlich vorgesehen hatte. Wir weichen auf flachere Fjells aus, finden dort oft harte Eiskrusten und selten Tiefschnee. Ich sage, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht – es geht uns unglaublich gut. Wir schwitzen, schuften und kämpfen uns die Hänge hinauf, eingekapselt in uns selbst.
Wenn wir ein wenig Windschutz finden, mümmeln wir belegte Brote und trinken Kaffee. Nachmittags gehe ich unten am Wasser in die Sauna und Henrik schläft auf dem Küchensofa ein. Als wir packen, um den Nachtzug nach Hause zu nehmen, haben wir ungefähr 5 000 Höhenmeter in fünf Tagen zurückgelegt. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Narvik nach allen Richtungen über eine einzigartige Ansammlung von Bergen verfügt, die zum Skifahren wie geschaffen sind. Und überall zwischen den Bergen schneiden Meeresbuchten und Fjorde ins Land, was die Szenerie noch dramatischer macht.
Als wir die Trollviken Lodge verlassen, sage ich nicht, dass ich bald wieder nach Narvik kommen werde, denn so etwas kann man ja nie wissen. Aber ich nehme es mir fest vor.