Es ist seltsam. Gerade mal gut hundert Kilometer wohne ich von Vallebygden entfernt und muss schon unzählige Male auf der E20 daran vorbeigefahren sein. Und doch habe ich niemals zuvor von diesem Ort gehört, der irgendwo zwischen den Seen Vänern und Vättern in der Provinz Västergötland liegen und in dieser Zeit »eine der märchenhaftesten Landschaften Schwedens« sein soll. Das meint zumindest meine gute Freundin Matilda, die aus der Gegend stammt. Um den Wahrheitsgehalt zu überprüfen, habe ich mich zusammen mit meinem Fotografen Roger an diesem frühen Maiwochenende in dem kleinen feinen Stensgårdens Bed & Breakfast eingemietet. Von hier aus wollen wir zusammen mit Matilda in spontanen Wanderungen so viel wie möglich vom Vallebygden entdecken. Gleich sechs verschiedene Naturreservate gibt es in der Gegend, darunter auch das Gebiet Lycke-Lilla Höjen, das wir für unsere erste Etappe ausgesucht haben.
Ich bin neugierig, gespannt und ein wenig skeptisch, als wir dem Navigationssystem folgen und die Autobahn in Richtung Skövde verlassen. Bei Varnhem werde ich erneut gebeten abzubiegen. Und wow – die kleine Landstraße, auf der ich mich plötzlich befinde, ist wahrscheinlich der idyllischste Weg, auf dem ich jemals gefahren bin: Blühende Kirschbäume säumen die hügeliggewundene Straße, Kühe und Schafe grasen auf den frühlingshaften Feldern und kleine Steinmauern zwischen Äckern und Hofgrundstücken teilen das Land in ein Mosaik aus krummen Rechtecken. Gefühlt jeden Kilometer gibt es einen Parkplatz, von dem aus sich mindestens ein Wanderpfad in die Kulturlandschaft schlängelt. An einem davon stellen wir das Auto ab und starten den ersten Teil unseres Entdeckungstrips. Die Sonne glitzert hinter den Blüten und wir haben keine Zeit zu verlieren. Auf ins Märchen!
Eine Landschaft wie im Film
Rund um den Berg Billing hat die letzte Eiszeit eine faszinierende Geografie hinterlassen. Die Schotten nennen die hügelige Gestalt, geschaffen durch eiszeitliche Ablagerungen und Schotter, auch »Kamellandschaft«. Die Beschreibung könnte passender nicht sein, denke ich, als wir die Felder kreuzen, dabei immer wieder Zäune überwinden, Stück für Stück an Höhe gewinnen und schließlich auf den Bergrücken gelangen. Die Aussicht auf den See Lången und den Tafelberg Kinnekulle ist beeindruckend und die Schönheit der Landschaft ist mit Worten kaum zu beschreiben. Unweigerlich denke ich an Astrid Lindgren. Es muss ein Platz wie dieser gewesen sein, der sie inspirierte, als sie Die Brüder Löwenherz schrieb und in ihrer Fantasie das traurig-paradiesische Kirschblütental in Nangijala schuf. Eine weitere Assoziation ist der schwedische Kreuzritterfilm Arn, der teilweise tatsächlich an genau dem Platz eingespielt wurde, wo wir gerade stehen.
Die Aussicht auf den See Lången und den Tafelberg Kinnekulle ist beeindruckend und die Schönheit der Landschaft ist mit Worten kaum zu beschreiben.
Auch die ein paar Kilometer von hier entfernte Klosterruine von Varnhem war einer der Drehplätze. Das Kloster, gebaut 1148, spielt sowohl in der Kultur- als auch in der Naturgeschichte des Vallebygden eine wichtige Rolle. Als es Mitte des 13. Jahrhunderts durch ein Feuer größtenteils zerstört wurde, unterstützte Stockholms Stadtgründer, der Adelige Birger Jarl, den Wiederaufbau. Er liegt heute in der Klosterkirche, die übrigens die älteste Steinkirche Schwedens ist, begraben. Die Mönche von Varnhem galten als leidenschaftliche Gärtner und bauten nicht nur in ihren Beeten Gemüse und Kräuter an, sondern pflanzten auch unzählige Fruchtbäume. Ihre Gärten existieren heute nur noch in den Erzählungen. Doch mit der Kraft der Natur und des Windes haben sich die Kirschbäume kilometerweit um das Kloster herum ausgebreitet und dieses gigantische blühende Tal geschaffen, durch das wir heute wandern dürfen.
Wasserfall und reiche Ernte
Ein weiteres Naturschauspiel erwartet uns am nächsten Tag. Vom Gutshof Karlsfors Gård (»Karlsfors« bedeutet »Karls Stromschnelle«) »Kamellandschaft«: Die vielen sanften Bergrücken entstanden am Ende der Eiszeit und eignen sich heute perfekt zum Wandern. machen wir uns auf zum Silverfallet (dt. der Silberfall), einen legendären Wasserfall im gleichnamigen Naturreservat. In den Laubwäldern, durch die unsere kleine Wanderung führt, ist der ganze Boden bedeckt mit blauen Glockenblumen, lila Krokussen und gelben Anemonen und aus den Knospen der meisten Bäume sprießen die ersten zarten Blätter. Auf verwundenen Pfaden ziehen wir vorbei an umgefallenen Bäumen durch das helle Grün, schmale Brücken führen über kleine Wasserläufe, Steine wollen beklettert werden und Informationsschilder erzählen mehr über die Natur, Kultur und Geschichte des Ortes.
Der Silverfallet selbst ist eine gewaltige Treppe, über die das Wasser in mehreren Stufen etwa sechzig Meter Höhe überwindet. Jetzt im Frühling ist er mit Abstand am spektakulärsten – während des Sommers trocknet der Bach immer mehr aus und versiegt irgendwann komplett. Vor dieser gewaltigen Kulisse und mit dem Rauschen des Wasserfalls in den Ohren holen wir Sitzunterlagen und Proviant aus dem Rucksack und machen Rast. Der perfekte Ort für eine Mittagspause, bevor es weitergeht zum nächsten Höhepunkt, den die Natur des Vallebygdens zu bieten hat.
Unsere B&B-Gastgeberin hatte nämlich noch einen weiteren Tipp für uns, den wir auf dem Rückweg im wahrsten Sinne des Wortes mitnehmen wollen. Riesige Bärlauchfelder soll es in der Umgebung geben, von denen die Lokalbevölkerung ausgiebig Gebrauch macht: Bärlauchsuppe, Bärlauchbutter oder Bärlauchpesto werden aus den Blättern der Pflanze gemacht, deren starker Geschmack in einer gewissen Weise an Knoblauch erinnert. In einer Lichtung stoßen wir schließlich auf ein Meer aus weißen Blumen mit ihrem kostbaren Grün. Schnell ist eine Jutetasche mit Bärlauch gefüllt und wir diskutieren lebhaft, was wir heute Abend aus unserer Beute zaubern wollen.
Das Inbild von Idylle
Auf dem Weg zu unserer letzten Wanderung denke ich darüber nach, was die Gegend eigentlich so speziell macht. Woher kommt mein Gefühl, mich hier am idyllischsten Ort Schwedens zu befinden? Ich glaube, es liegt daran, dass meine eigene Idee und mein inneres Bild von »Idylle« hier auf besondere Weise Wirklichkeit werden: die schmalen Wege, die entlang der Höhenzüge, Felder und Wälder verlaufen, über runde Bergrücken und hin zu spiegelblanken Seen. Die Natur mit all ihren blühenden Blumen, den Bärlauch- und Kirschblütenmeeren. Aber irgendwie auch die Gegenwart des Menschen, der mit seinen Schafen und Kühen, Feldern, Höfen und Gärten mit der Natur im Einklang zu leben scheint. Wenn ich malen könnte und »Idylle« mit dem Pinsel einfangen wollte – auf der Leinwand würde das Vallebygden erscheinen. Vom Jättadalen (dt. Riesental) versprechen wir uns noch einmal einen richtigen Höhepunkt am Ende unseres malerischen Wochenendes. Allerdings erwartet uns diesmal eine anspruchsvollere Tour. Im Abendlicht kämpfen wir uns eine steile Schlucht hinauf. Dabei müssen wir ein paar ziemlich steile Abschnitte überwinden, wobei der Puls ordentlich in Fahrt kommt.
Der Weg führt an einer Seite der Schlucht entlang. An den abschüssigsten Abschnitten gibt es fest installierte Seile, die wir zur Hilfe nehmen. Die meisten, die wir treffen, sind schon beim Abstieg, was mich ziemlich wundert, denn so wie es aussieht, wird uns oben ein magischer Sonnenuntergang erwarten. Dass die steilen Wände auch ein paar tausend Jahre nach der Eiszeit noch in dieser Form erhalten und nicht durch Wind und Wasser zersetzt sind, liegt an der extrem harten Gesteinsart Diabas. In der Schlucht liegen riesige Felsblöcke, die irgendwann herabgestürzt sind, ohne zu zerschellen.
Es muss ein Platz wie dieser gewesen sein, der sie inspirierte, als sie Die Brüder Löwenherz schrieb und in ihrer Fantasie das traurig-paradiesische Kirschblütental in Nangijala schuf.
Wir sehen dunkle Höhleneingänge zwischen den Steinbrocken und mächtige freistehende Felssäulen ragen in die Höhe. Eine ebenso bizarre wie beeindruckende Umgebung. Oben angekommen, setzen wir uns auf ein Plateau und belohnen uns mit dem Blick sowie der verdienten Schokolade. Die Abendsonne taucht das vertraute Mosaik aus Seen, Feldern und Wald in ein orangenes Licht und in der Ferne erblicke ich wieder den wohl bekannten Kinnekulle. Ein würdiger Abschluss für unsere Reise. Und ein weiteres Bild für die Idylleabteilung in meinem Gedächtnis.