Unser Antrieb war die vielversprechende Tourbeschreibung aus dem Buch Padleperler der norwegischen Kanulegende Øystein Køhn. Nun stehe ich mit meinem Tourpartner Nico am Ufer des Piteälven, inmitten der tiefen Wälder Lapplands, vor uns das zerlegte Kanu, daneben eine Menge Proviant und Ausrüstung.
Dies ist er also, der auf seiner ganzen Länge ungezähmte Wildnisfluss, der gespeist vom Gletscherwasser des Sulitelmagebirges in Nordnorwegen an der Wasserscheide der Skanden beginnt, um quer durch schwedisch Lappland zu fließen und schliesslich bei Piteå in die Ostsee zu münden. Wir wählten den landschaftlich reizvollsten Abschnitt für unsere Reise aus: Immer das fantastische Hochgebirge der Skanden vor Augen, dem wir uns mit jedem Paddelschlag nähern werden.
Auf unserer Tour werden lange Fließstrecken, grosse Fjällseen, und mehrere kräftezehrende Portagen in wegelosem Terrain auf uns warten, und wir werden den Übergang von tiefen Nadelwäldern über lichte Birkenwälder bis hin zum kargen Hochfjäll erleben, eingebettet in einer vor menschlichen Eingriffen verschonten, abwechslungsreichen Landschaft.
Da Anfang Juli die Fjällseen bei Sulitelma in Norwegen noch von einer Eisschicht bedeckt sind und somit ein dortiger Einstieg nicht möglich ist, beginnen wir unsere Tour in Bergnäsviken, nördlich von Arjeplog in Lappland und bewegen uns damit flussaufwärts, was für uns nicht nur reizvoll, sondern auch sehr anstrengend werden wird.
Voller Vorfreude auf die dreiwöchige Wildnistour montieren wir in sengender Hitze den Ally Faltkanadier, um nach überstandener Kanutaufe durch kräftige Paddelschläge die ersten Kilometer auf dem Piteälven zurückzulegen. Sleipnir, der Dahingleitende, ist das achtbeinige Ross Odins, der auf ihm durch alle Wellen reiten kann. Auf diesen aus der nordischen Mythologie stammenden Namen tauften wir unser Kanu.
Kampf mit der eiskalten Strömung des Piteälven
Uns erfasst eine berauschende Aufbruchstimmung, als wir in den Abendstunden die Paddel durch das Wasser ziehen und eine kleine Insel ansteuern. Auf dem Weg dorthin befinden sich Untiefen, und wir müssen aufpassen, dass wir nicht aufsetzen oder unter der Wasseroberfläche befindliche Felsen rammen. Als wir am Sandstrand anlanden, machen sich unzählige Mücken durch ein lautes, monotomes Summen bemerkbar und fallen über uns her.
In tropischen Temperaturen gleiten wir am Tag darauf an umherziehenden Rentieren und einsamen Sandstränden vorbei, wo ich ein ein kurzes Bad im eiskalten Wasser wage. Später am Abend suchen wir uns eine felsige Insel als Nachtlager aus. Wir machen es uns unter dem Tarp gemütlich und begnügen uns mit Kartoffelbrei und gebratenen Zwiebelringen, da bis jetzt noch kein Fisch an den Haken gegangen ist. Die tief stehenden Sonne taucht alles um uns herum in ein feuriges Licht.
Nach zwei Tagen am Piteälven stossen wir erstmals auf Widerstand. Wir paddeln mit aller Kraft, doch die Gegenströmung ist einfach zu stark und beim Blick ans Ufer müssen wir ernüchternd feststellen, dass wir uns keinen Meter voran bewegen. Jetzt heisst es raus aus dem Boot und treideln. Wir springen ins knietiefe eiskalte Wasser, um unser randvoll beladenes Boot der Strömung entgegen zu drücken. Erschöpft kommen wir an einem langgezogenen Katerakt an, in dem das Wasser in mehreren Stufen schäumend zu Tal schiesst. Auf einer felsigen Anhöhe oberhalb des Skierfajavrre errichten wir schliesslich unser Camp, von wo aus man weit über Lappland blicken kann.
Unter feuerrotem Himmel werfe ich an den Stromschnellen in den Nachtstunden die Angel aus, wo die ersten Forellen nicht lange auf sich warten lassen.
Die nächste Etappe führt über den See Tjeggelvas. Das bedeutet fünf Kilometer auf offenem Wasser. Wir riskieren es, und überqueren den langgezogenen See ohne uns in Ufernähe zu halten. Glücklicherweise bleibt uns der Wind während der gesamten Überfahrt im Rücken, und wir kommen erleichtert am gegenüberliegenden Ufer an. Am nördlichen Ende des Tjeggelvas führt der Kungsleden, Schwedens bekannter Wanderweg, auf einer Hängebrücke über den Fluss.
Nach einer langen Portage suchen wir uns eine kleine von Stromschnellen umgebende Insel mit auslaufenden Sandbänken am Auslauf des Fallesjavrre für die Nacht aus. Hier sehen wir erstaunlich viele Lemminge an der Insel vorbei treiben, von denen auch einige anlanden. Unter feuerrotem Himmel werfe ich an den Stromschnellen in den Nachtstunden die Angel aus, wo die ersten Forellen nicht lange auf sich warten lassen. Sie schnappen heftig und deutlich spürbar nach den Blinkern. Von nun an bekommen wir endlich die erhoffte Abwechslung auf dem Speiseplan: In Butter gebratene Lachssteaks oder Filets, geräucherte oder zwischen heissen Steinplatten gebackene Lachsforelle. Dazu wahlweise Reis, Kartoffelbrei, Nudeln oder Bannok. Zimt-Crepe und Kaffee zum Dessert.
Überraschung im Angelcamp am Alep Miehkak
Zwei Tage später. Wir paddeln der Mitternachtssonne entgegen, die ein surreales Licht über den Guddojavrre und die umgebende Landschaft wirft. In weichem und goldenem Licht dringen wir Paddelschlag für Paddelschlag, Portage für Portage tiefer in die Wildnis ein. Es ist eine fast unwirkliche Szenerie,umgeben von Gebieten mit so klangvollen Namen wie Padjelanta oder Sarek.
Der folgende Tag ist neben einigen kurzen Paddelstrecken wieder vom Umtragen geprägt. Endlich können wir das Kanu wieder zu Wasser lassen und beladen es erneut. Eine kurze Strecke kann auf dem Wasser zurückgelegt werden, bevor schon eine weitere unfahrbare Passage und damit erneut eine Portage auf uns wartet. Als wir am See Sartta einen Windschutz erreichen, nehmen wir diesen Unterschlupf bei aufkommendem Wind und Regen gerne an. Einige Meter unterhalb des Windschutzes wird der Fluss durch eine tiefe Engstelle gedrückt. Es rauscht so laut, dass wir unser eigenes Wort nicht verstehen.
Einige Meter unterhalb des Windschutzes wird der Fluss durch eine tiefe Engstelle gedrückt. Es rauscht so laut, dass wir unser eigenes Wort nicht verstehen.
Als wir ein schwedisches Angelcamp am Alep Miehkak erreichen, das sonst nur per Hubschrauber zu erreichen ist, empfängt uns der sichtlich überraschte Leiter des Camps, einer von wenigen Menschen die wir während unserer dreiwöchigen Tour überhaupt treffen werden. Erstaunt von unserem Vorhaben erzählt er, dass diese Tour jedes Jahr nicht mehr als vielleicht zehn Kanuten in Angriff nehmen und dass wir die die ersten in den letzten Jahren seien, die es auch noch stromaufwärts versuchen.
Es ist tatsächlich eine Herausforderung. Heftige Gegenströmung und mehrere Fallstrecken machen bald darauf ein Weiterkommen auf dem Fluss unmöglich. Um zum Fjällsee Pieskehaure zu gelangen, müssen wir auf einer Strecke von sechs Kilometern 100 Höhenmeter bewältigen. Bis zum Ende der Portage, das heisst drei mal mit Kanu und Gepäck hin und zwei mal zurück, werden wir schliesslich eine Gesamtstrecke von 30 km hinter uns gebracht haben.
Das Wesentliche in der Wildnis
Eine kleine Insel inmitten eines Sees erweist sich als idealer Ort für einen längeren Zwischenstop. Es ist nahezu windstill, und dicke Tropfen fallen auf die Wasseroberfläche. Wir sitzen unter dem Tarp vor dem Feuer, Lachsforellen braten in der Pfanne, der norwegische Kochkaffee köchelt vor sich hin und Salamipizzen backen zwischen Steinplatten. Vergessen ist die Mückenplage während der zermürbenden, nicht enden wollenden Portagen.
Zufrieden lassen wir die Blicke über den See zu den schneebedeckten Bergen schweifen, hinter denen die Mitternachtssonne scheint, und geniessen den Moment. Plötzlich erinnere ich mich an ein Zitat des Norwegers Helge Ingstad aus seinem Buch Pelsjegerliv, in dem er seine Zeit als Trapper in Kanada um 1930 schildert: “Hier sind mein Kanu, meine Netze, mein Gewehr und meine Hunde. Die Wälder, Flüsse und Seen stehen zu meiner Verfügung. Ich sitze kurzärmelig vor dem Zelt und fühle mich wie ein Millionär.”
Ingstad beschreibt sehr treffend, worum es auch uns im Wesentlichen ging. Hier in der Wildnis sind es noch die tatsächlichen, die einfachen Dinge die zählen. Inmitten der taghellen Nächte ist der Geist hellwach, der Unternehmensdrang auf Hochtouren, doch der Körper, ausgelaugt von den zurückliegenden Strapazen, lechzt nach Schlaf. Man möchte dennoch keine einzige Minute verpassen. So ziehen wir noch weit nach Mitternacht mit dem Kanu auf dem See umher, um noch ein paar Lachsforellen zu fangen.
Hier in der Wildnis sind es noch die tatsächlichen, die einfachen Dinge die zählen.
Angekommen am mächtigen Fjällsee Pieskehaure bläst uns ein rauer Nordwestwind entgegen. Wir drehen das Kanu gegen den Wind auf die Seite und suchen in dessen Lee Schutz vor den auskühlenden Winden. Am nächsten Tag weckt uns das Geräusch des flatternden Zeltes. Wir wagen einen Blick hinaus auf die schäumende Wasseroberfläche, woroaufhin wir uns direkt wieder zurückziehen. Bald brutzeln im Vorzelt Pfannkuchen und Bannocks in der Pfanne, während der Wind am Zelt rüttelt und Regentropfen gegen die Außenhaut prallen.
Es folgen zwei Ruhetage. Sich bei diesem Wellengang im Fjäll auf offene Gewässer zu wagen wäre fahrlässig. Plötzlich aufkommende Fallwinde der angrenzenden hoch aufragenden Berge können unmittelbar zum Kentern führen, was bei eiskalten Gletscherwasser unangenehme Folgen hätte. Dann endlich lässt der Wind nach. Die Persenning wird auf das Kanu gespannt, und wir wagen uns auf das bewegte Wasser. Dicht am Ufer kämpfen wir uns gegen den Wind voran und überstehen einige brenzlige Situationen. Wir rasten an einem unberührten Sandstrand, wo wir Überreste verlassener Sami-Siedlungen und riesige Rentiergeweihe finden.
Als wir nach erholsamer Nacht die Köpfe aus dem Zelt stecken, hat sich die Szenerie vollkommen geändert. Die Sonne knallt vom Himmel, und der See liegt ruhig vor uns. Voller Vorfreude auf die Sauna der Pieskehaurestugan, die wir am Abend erreichen wollen, nehmen wir die zweite Paddeletappe auf dem Fjälsee in Angriff. Abends wird ein Aufguss nach dem Anderen bereitet. Während wir schwitzen, geniessen wir aus dem grossformatigen Fenster den Ausblick ins umgebene Fjäll. Danach ziehen wir erfrischt weiter.
Es ist bereits um Mitternacht, und der Pieskehaure liegt wie ein Spiegel vor uns. Es scheint, als ob die Paddel im Himmel eintauchen würden, da der Himmel nicht mehr vom Wasser zu unterscheiden ist. Umgeben von den gewaltigen alpinen Sulitelma-Massiven gleiten wir auf eine hoch aus dem Wasser aufragende Insel zu, um dort zu übernachten. Von hier aus bietet sich uns ein herrliches Panorama über den See ins Fjäll. Ausgespülte Gletscherpartikel lassen sein Wasser türkisblau-grün leuchten. Wir verlieren uns in Zeit und Raum.
Am nächsten Tag finden wir uns am westlichen Ufer des Pieskehaure wieder. Hier bleibt uns keine andere Wahl, als die letzte Portage in Angriff zu nehmen. Die Wasserscheide der Skanden ist zu überqueren. Das Gelände fällt zu allen Seiten steil ins Wasser, und es ist kein Pfad zu erkennen. Die Packsäcke werden auf den Rücken geschnallt, das Kanu auf die Schultern gelegt. Es geht steil bergauf, doch die unbegrenzte Aussicht nach einigen hundert zurückgelegten Höhenmetern entschädigt um ein vielfaches.
Kurz vor der schwedisch-norwegischen Grenze nehmen wir das Kanu von unseren Schultern, drehen es seitlich gegen den Wind, hocken uns hinein und lassen die Blicke schweifen. Von hier aus sehen wir westlich das wilde Sulisfjell und zurückblickend im Osten die liebliche, weite Landschaft schwedisch Lapplands, die wir in den zurückliegenden zwei Wochen durchstreift haben. Hier bietet sich zugleich das letzte mal die Gelegenheit vorerst Abschied von Lappland zu nehmen, bevor auf der norwegischen Seite der Wasserscheide die Portage fortgesetzt wird.
Von hier aus sehen wir westlich das wilde Sulisfjell und zurückblickend im Osten die liebliche, weite Landschaft schwedisch Lapplands, die wir in den zurückliegenden zwei Wochen durchstreift haben.
Angekommen am Muotkejavvre in Norwegen, heißt uns schon von weitem die Muorkihytta willkommen. Wir beschließen, uns den Luksus einer Hüttenübernachtung zu gönnen und geniessen den einmaligen Ausblick auf die Gletscher des Sulitelmamassivs. Bevor wir uns jedoch auf den Betten ausstrecken können, müssen wir noch einmal zurück nach Schweden, um unsere restliche Ausrüstung abzuholen. So kurz vorm Ziel, der Låmivatnet liegt nur noch eine Tagesetappe vor uns, wird uns bewusst, dass unser Abenteuer bald enden wird. Am liebsten würden wir noch wochenlang hier umherstreifen.
Von leuchtend weissen Schneemassen am Ufer des Muotkejavrre geblendet, bahnen wir am darauffolgenden Tag unseren Weg durch vereinzelt am Kanu vorbeitreibende Eisschollen. Als wir den See Låmivatnet erreichen, ist es nicht mehr weit zu unserem Ausstiegspunkt in der Nähe der Låmihytta. Hier verbringen wir die letzte Nacht, bevor uns ein sechs Kilometer langer Schotterweg 600 Höhenmeter hinunter nach Sulitelma und damit zurück in die Zivilisation führen wird.
Mit gemischten Gefühlen legen wir das Kanu wieder zusammen. Einerseits freuen wir uns auf eine warme Dusche und eine kalte Cola, andererseits jedoch vermissen wir schon jetzt das einfache Leben und die Freiheit, die wir in den letzten Wochen in dieser grandiosen Landschaft erleben durften. Nach seinem Beruf gefragt, antwortete Øystein Køhn einmal: Villmann, Mann der Wildnis.
Ein Traumjob, wie wir finden.