Unter dem Himmel von Dalsland
Vor sechs Jahren wurde ein Glashaus an einem See in Dalsland durch ein Experiment zu einer weltweiten Sensation. Was passiert mit uns technologisierten Menschen, wenn wir mit der Natur eins werden und unter dem Sternenhimmel schlafen? Wir sind nach Dals Långed gereist, um den Glashauseffekt zu erleben.
Im Herbst 2017 wurde auf einer Insel in einem kleinen See in Dalsland ein Experiment durchgeführt. Ein britischer Moderator, ein Taxifahrer aus Frankreich, ein Manager aus den USA, ein Journalist aus England und ein Polizeibeamter aus Deutschland kamen zu Besuch. Jeder von ihnen musste in ein eigenes kleines Glashaus ziehen. 72 Stunden lang lebten sie Seite an Seite mit der Natur. Sie saßen am Lagerfeuer, bereiteten sich ihr Essen auf dem Sturmkocher zu, fuhren mit dem Kanu, wanderten – schliefen ein und wachten unter den Bäumen wieder auf. Die fünf Personen wurden gleichzeitig von Forschern des Karolinska-Instituts beobachtet. Das Projekt wurde unter dem Namen ”Die 72-Stunden-Hütte” bekannt und sollte zeigen, wie sich der Aufenthalt in der schwedischen Natur auf ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit auswirkte. Die Initiative war eine Möglichkeit, für Schweden zu werben, und man kann behaupten, dass es sich um eine erfolgreiche PR-Kampagne handelte, die von der Destination Westschweden und Visit Sweden ins Leben gerufen wurde. Die fünf Glashäuser wurden zu einer weltweiten Sensation und flimmerten verführerisch in internationalen Zeitungen – und in meinen sozialen Medien.
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Während die Glashäuser mehrere Jahre lang meine Aufmerksamkeit erregten, entstanden im Gefolge ihres Erfolgs mehrere neue ihrer Art. Vier von ihnen haben auf einer Halbinsel in einem anderen See ein Zuhause gefunden – und an einem schönen Frühlingstag im Mai steuere ich sie an. Die Fotografin Emma und ich entdecken das Haus zur gleichen Zeit. Es glitzert in der Nachmittagssonne, eingebettet zwischen Wasser und Wald, umrahmt von krummen Kiefern. Es erinnert mich ein wenig an eine Kirche. Wie ein Hochaltar inmitten der Natur. Wir öffnen die hölzernen Flügeltüren und lassen die Seebrise in den Raum wehen. Ein weißes Bett, Kerzen, ein Rucksack mit Sturmküche und Brennstoff, Angelruten, die unter dem Haus warten – alles, was man für 72 Stunden in einem Glashaus braucht. Wir kochen Kaffee auf der Treppe. Der Wind rüttelt wild im Wald, ansonsten ist es ruhig. Das Glashaus ist zweifelsohne gemütlich, aber ich frage mich: Wäre ich als passionierter Outdoor-Schläfer nicht genauso gut in einem Zelt aufgehoben?
Stresspegel um 70 % gesenkt
Wir sind in Dals Långhed, in der Gemeinde Bengtsfors. Hier haben vier Glashäuser am Rande des Sees Ivägsjö ein Zuhause gefunden. Sie stehen verstreut auf der Halbinsel, eigentlich ganz nah beieinander, aber man hat das Gefühl, dass sie weit voneinander entfernt sind. Es ist zwar nicht derselbe Blick, den die Projektteilnehmer hatten, aber er kann nicht sehr weit entfernt sein. Die Glaswände sind da, und der Wald und das Wasser. Was passiert mit einem gestressten Taxifahrer aus Frankreich und einem Polizisten aus Deutschland, wenn sie in einem Glashaus landen, eingerahmt von Himmel und Natur? Eine ganze Menge, könnte man meinen.
Die beiden Stressforscher von Karolinska stellten fest, dass der Stresspegel der Teilnehmenden um bis zu 70 Prozent sank. Die Herzfrequenz sank von durchschnittlich fast 70 Schlägen/Minute auf 60 Schläge/Minute, und der systolische Blutdruck sank statistisch signifikant um 9 Prozent. Das Angstniveau wurde deutlich gesenkt, und die Nähe zur Stille der Natur steigerte die Kreativität – bei allen Teilnehmern. Auch die wahrgenommene Verbundenheit mit der Natur nahm auf einer Sieben-Punkte-Skala deutlich zu, wobei der Durchschnittswert zu Beginn der Studie von 2,6 auf 5,6 bei der Nachuntersuchung anstieg. Die Teilnehmenden beschrieben ihre Erfahrungen mit Worten wie „angenehme Wildnis“, „lebensverändernde Erfahrung“, „die Schweden haben es absolut richtig gemacht“ und „den Pausenknopf im Alltag drücken“.
Für uns Schweden mögen diese positiven Auswirkungen des Aufenthalts in der Natur offensichtlich sein. Das Projekt stieß jedoch weltweit auf große Resonanz, und viele ausländische Medien zeigten sich fasziniert von Schwedens Natur und dem Allemansrätten, also dem Recht auf den Zugang zur Natur für Jedermann. Im darauffolgenden Herbst und Winter berichteten Medien in 34 Ländern über die Initiative, und in wenigen Monaten wurden 584 Millionen Menschen von den schwedischen Wäldern, Seen und allem, was man in der Natur tun kann, erreicht.
Geburtstagsgeschenk in Schwedens Wildnis
Nach dem Kaffee geht es direkt in die Natur. Ich kämpfe gegen den Wind, als ich mit dem Kanu auf den Ivägsjö hinauspaddle. Ich komme an einem riesigen Tipi vorbei, in dem eine Schulklasse wink und passiere die schöne Sauna, die am Waldrand balanciert. Als ich die Landzunge umschiffe, breitet sich der See aus, umschlossen von grünen Wäldern auf allen Seiten. Anstatt direkt in die Wellen zu paddeln, folge ich der Uferlinie, bis ich das Glashaus auf dem Berg glitzern sehe. Von hier aus sieht es wie ein Schmuckstück aus, vielleicht wie eine Halskette, die ein großes Tier fallen gelassen hat.
Weiter unten, näher am Wasser, steht das Nachbarhaus – natürlich auch ganz aus Glas. Ich sehe ein Paar auf dem angrenzenden Steg sitzen. Es sind Michael Hedström und Rosanna Alm aus Stockholm. Er wird heute 30 Jahre alt und der Aufenthalt hier ist sein Geburtstagsgeschenk. »Wir wollen mehr im Freien sein, und in einem Glashaus mitten in der Natur zu wohnen, fühlt sich gut an. Schließlich waren wir die ganze Zeit draußen – paddeln, rudern, angeln und kochen im Freien«, sagt Rosanna. Trotz der Nähe zu anderen Menschen fühlen sie sich weit weg vom Rest der Welt. »Die Abgeschiedenheit und die Nähe zum Wasser geben uns eine Ruhe, die wir zu Hause nie finden. Hier muss man einfach runterfahren«, sagt Michael.
Zu Hause in Stockholm wohnen sie in einer der belebtesten Straßen der Stadt, und ihr Haus ist zum Arbeitsplatz geworden, wie für so viele nach der Pandemie. »Wir haben das starke Gefühl, dass wir mehr in die Natur gehen wollen, aber es ist schwer zu sagen, wie. Wir haben im März versucht zu zelten, aber es war zu kalt. Das hier ist ein bequemer Mittelweg«, sagt Michael, bevor sie zum zweiten Angelausflug des Tages aufs Wasser hinaus paddeln. Man sieht ihnen an, dass sie im Freien sind. Sonnenverbrannte Wangen und eine Leichtigkeit in ihren Augen.
Sicher Schlafen unter dem Sternenhimmel
An diesem Abend gehen wir in die Sauna. Die Steine brutzeln, das Wasser starrt uns durch das große Fenster ungläubig an. Das Tipi mit der Schulklasse ist nicht weit entfernt, ebenso wenig wie das Restaurant, in dem viele wahrscheinlich gerade zu Abend essen. Aber ich fühle mich seltsam abgekoppelt von allem. Ich stürze mich mehrmals ins Wasser, bevor ich in der Dämmerung den Weg zurück zum Glashaus finde, das sich im Schatten versteckt. Vielleicht wird jetzt am Abend der Charme des Glamping-Konzepts am deutlichsten. Ich liege weich in weißen Laken und schaue durch das Glasdach in den Sternenhimmel. Ein Windhauch dringt zwischen den Lücken hindurch, alle Geräusche des Waldes und des Sees dringen zu mir.
Die Natur ist so präsent, dass meine Gedanken durch die Glaswand hinaus und wandern. Nur einen Katzensprung von hier entfernt rief Ronja Räubertochter „Her mit ein bisschen Gefahr“ vom Gipfel des Berges Sörknatten. Dalsland mit seinem Ronja-Wald, den schönen Wanderwegen und dem bekannten Kanusport ist in Outdoor-Kreisen hoch angesehen. Ich erinnere mich, irgendwo gehört zu haben, dass man in Dalsland immer wieder Umwege fahren muss, weil die Seen so lang und schmal sind. Meine Gedanken schweifen weiter, während es mir schwer fällt, den Blick vom Sternenhimmel zu lösen. Das Glasdach bekommt eindeutig einen Pluspunkt im Vergleich zu dem Kampf mit dem Zelttuch in einer hartnäckigen Brise. Kurz bevor ich einschlafe, höre ich, wie die Wellen härter an den Berg unter uns schlagen, während der Wind gegen Abend zunimmt.
Und genau das ist der Grundgedanke hinter den Glashäusern. Die Architektin Jeanna Berger wollte etwas schaffen, das ein großartiges Naturerlebnis bietet – sich aber auch sicher anfühlt. Als Jeanna das erste Haus entwarf, war sie noch Architekturstudentin. An einem frühen Sommermorgen setzte sie sich mit einem leeren Blatt Papier hin und zeichnete ein einfaches Haus für die Nacht. In nur wenigen Stunden würde die Tourismusbehörde von Westschweden auf dem Landhaus der Familie auf der Suche nach wilder Natur für ein geheimes Projekt eintreffen. Die Tourismusmanager brauchten nicht lange zu überlegen, als sie die Skizze sahen, und nur wenige Wochen später war das erste Glashaus fertig.
»Es war eine transformative Erfahrung. Als ich es entwarf, hatte ich im Ausland gelebt und war in einer städtischen Umgebung unterwegs. Das Glashaus war für mich eine Möglichkeit, die Natur mit anderen Augen zu sehen. Nicht jeder lebt so wie wir hier in Dalsland, mit dem Wald vor der Haustür. Das hatte ich im Sinn, als ich das Haus entworfen habe. Es gibt eine Reihe psychologischer Aspekte, die bei der Begegnung zwischen Mensch und Natur zu berücksichtigen sind«, erklärt Jeanna.
Es war die Rede davon, dass das ganze Haus aus Glas bestehen sollte, aber das wollte sie nicht. »Stattdessen gibt es eine massive Wand auf der Rückseite und massive Türen, die man schließen kann. An zwei Wänden und an der Decke gibt es Glas. Die Türen lassen sich öffnen, so dass man einen Panoramablick hat, der die Natur zum Teil des Raumes macht. Man ist fast die ganze Zeit draußen, aber das Haus wird zu einer sicheren Zone. Man hat ein bequemes Bett mit einer richtigen Matratze. Die Idee des Glashauses ist es, sich auf die Natur zu konzentrieren und stressige Momente auszublenden. Man ist mitten in der Natur, muss sich aber keine Gedanken über Kleintiere, Insekten und Wind machen.«
Die große Resonanz hat Jeanna überrascht. Schon nach wenigen Nächten berichteten ausländische Medien über das Experiment. »Ich hätte nie gedacht, wie viel Aufmerksamkeit das bekommen würde. Am zweiten oder dritten Tag hatte das Condé Nast Magazin bereits darüber geschrieben. Wir alle, die daran beteiligt waren, erhielten Anrufe.«
Jeanna sagt, sie habe sich von den Scheunen inspirieren lassen, in denen sie als Kind spielte und in denen das Licht zwischen den Fugen der Bretter hindurchdrang. »Das hat mich inspiriert. Die Lücken zwischen den einzelnen Brettern des Glashauses sorgen für eine gute Belüftung, aber das gefilterte Licht ist auch eines der schönsten Dinge, die ich kenne. Die alten Scheunen haben eine klare Holzstruktur und balancieren hoch oben auf Felsen. Die Glashäuser stehen ebenfalls hoch, aber auf Pfeilern. Auf diese Weise hinterlassen sie fast keine Spuren in der Umwelt.«
Jeanna stellt noch immer Glashäuser her und verkauft sie, auch in größeren Ausführungen. Sie merkt deutlich, dass das Interesse an ähnlichem Glamping immer größer wird. »Als das Glashaus 2017 aufkam, war Glamping noch nicht in aller Munde. Aber jetzt ist es im Trend, und das liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns bewusster sind, dass wir uns in der Natur wohlfühlen. Ein Aufenthalt in einer normalen Hütte ist zwar sehr gemütlich, aber man verliert viel von dem Naturerlebnis, wenn man sich einschließt. Mit einem Zelt ist es ein bisschen dasselbe. Ich denke, das ist ein Grund, warum die Menschen solche Unterkünfte suchen. Heutzutage sehen wir nicht mehr oft genug in den Himmel. Hier kann man sich hinlegen und nach oben schauen, Sternbilder und Baumkronen sehen. Man hat den vollen Durchblick.«
Riesenkessel und ein goldener Fluss
Am nächsten Tag wachen wir bei strahlend blauem Himmel auf und machen uns zu Fuß auf den Weg zum Fluss Steneby. Sein Wasser glitzert im Sonnenlicht, das durch das Laub fällt. Die Lichtung, in der das niedrige Wasser über glatte Felsen und gelben Sand plätschert, hat etwas von einem Dschungel. Vor 10.000 Jahren floss das Wasser hier wie ein riesiger Eisfluss. Wir kochen unser Mittagessen auf einem Feuer am Ufer. Die Talflanken schließen sich um uns und den Fluss und lassen eine sanfte Dunkelheit entstehen. Die Felder und Siedlungen wirken weit entfernt. Nach dem Essen setzen wir unsere Wanderung entlang des Steneby-Flusses fort, auf einem Weg, der sich einige Kilometer durch den Wald schlängelt. Der Fluss fließt in Richtung Norden, was recht ungewöhnlich ist. Sein Wasser ist kristallklar, schmeckt gut und beherbergt die kleine Flussperlmuschel, die fließendes, klares Wasser mag. Wir befinden uns im Naturreservat Steneby, das zum Schutz der einzigartigen Natur rund um den Fluss eingerichtet wurde.
Auf dem Hang hinunter zum Wasser kommen wir an rundgedrehten Riesenkesseln vorbei, die sich mehrere Meter in das Innere des Klockarberget gebohrt haben. Dank dieser Glteschermühlen können wir verstehen, welche Kraft der Fluss einst hatte. In den Felsspalten des Berges klettern Zistrosen und auf dem Boden kriecht das Kleinblättrige Singrün. Ich kann es kaum erwarten, wieder zum Glashaus zu gehen, das nur 15 Minuten Fußweg entfernt ist. Eine sanfte Frühlingssonne färbt Dalslands Landschaft golden. Und da, genau da, sehe ich, was Jeanna visualisiert hat. Eine kleine Waldkapelle an einer Lichtung mit Blick auf einen der vielen Seen in Dalsland. Wenn Dalsland eine Landschaft ist, die alles enthält: Wälder, Täler und Berge, dann ist dieses kleine Glashaus sehr reduziert und nicht besonders viel. Aber genau das macht seinen Charme aus – denn es beherbergt einen ganzen Sternenhimmel, rauschenden Waldwind und ein weiches Bett. Als ich dem Weg folge, wird mir klar, dass das Glashaus gerade mitten in einer weiteren sternenklaren Nacht liegt. Und bei dem Gedanken daran steigt mein Puls tatsächlich, zum ersten Mal seit zwei Tagen.