»Siehst du sie?«, schreit Ida. Sie steht bis zur Hüfte im Schnee und ich sehe nur das Licht auf ihrem Kopf und ihre Umrisse, die sich zwischen den Bäumen in der dunklen Winterlandschaft abzeichnen. Selbst bin ich auf eine krüppelige Fjällbirke geklettert, um ein wenig an Höhe zu gewinnen. Wie wahnsinnig drehe ich den Kopf hin und her und lasse das Licht meiner Stirnlampe über den Wald gleiten, in der Hoffnung, irgendwo mit dem Strahl auf die kleine Hütte zu stoßen, die hier irgendwo sein muss und die wir seit mindestens einer halben Stunde verzweifelt suchen.
»Einfach auf dem Eis am Seeufer entlang bis zur Sauna und dann etwa siebzig Meter den Hang hoch durch den Birkenwald«, hatte Vermieter Olof am Telefon gesagt, bevor der Akku den Kältetod starb. Aber in der Dunkelheit und in den Schneemassen, die Orientierung und Bewegung extrem erschweren, hilft uns seine Beschreibung auch nicht groß weiter. Kälte von minus zwanzig Grad macht das Ganze nicht leichter. Die Körperwärme nach dem anstrengenden Aufstieg ist inzwischen ganz aus den Kleidern gewichen. Ich bin komplett durchgefroren, kann Finger und Füße kaum mehr spüren.
»Nein. Nix. Lass uns erst einmal zur Sauna«, rufe ich zurück und so folgen wir unserer eigenen Spur hinab zur winzigen Holzhütte, deren Tür glücklicherweise unverschlossen ist. Erfolglos versuchen wir, mit den gefrorenen Birkenscheiten ein Feuer im Saunaofen zu entfachen. Aber in dem engen Raum entsteht dennoch ein wenig Wärme und die gefrorene Schokolade gibt uns einen kleinen Energieschub. »Scheiß Lyckans Läger«, sagt Ida, halb lachend, halb weinend und es ist wirklich fast ein bisschen komisch, dass die so ersehnte Hütte für die Nacht übersetzt »Lager des Glücks« heißt. Wir beschließen, noch einen letzten Suchversuch zu starten, diesmal auf Skiern. Falls wir dann immer noch nichts finden, fahren wir die sechs Kilometer wieder hinab ins Tal. Ins Hotel.
Der fast perfekte Plan
Dabei hatte alles so herrlich begonnen. Der Plan war perfekt und klang ganz wunderbar: abends in Stockholm in den Snälltåget-Nachtzug steigen und morgens in den verschneiten Bergen Jämtlands aufwachen. Im Sportladen des kleinen Fjälldorfs Edsåsdalen nordische Skier und eine Pulka leihen (unter anderem für den Transport von Rotweinflaschen, Saunabierdosen, gutem Essen und einem riesigen Eisbohrer fürs Winterangeln). Dann drei Tage Skitouren und zwei Nächte im »Lyckans Läger«, in einer wunderschönen, sehr einsamen und sehr einfachen Hütte mitten in der Wildnis – ohne Strom und Wasser, dafür mit Sauna und direkt an den teilweise gespurten Fjällwegen.
Da wir nun einmal ohne Kinder unterwegs waren, ließen wir es entspannt angehen. Kauften morgens im kleinen Supermarkt nahe der Bahnstation in Undersåker ganz in Ruhe ein und tranken noch einen Kaffee im Café, während wir auf das Taxi warteten, das uns die letzten acht Kilometer nach Edsåsdalen brachte. Von dort brachen wir erst einmal in die andere Richtung auf, ins Renfjället zu unserer geliebten Fjällstation »Vita Renen« (dt. das weiße Rentier) mit ihrem guten Mittagstisch und der unschlagbaren Aussicht über die jämtländische Berglandschaft. Die Sonne schien, es war klar und eiskalt, doch windstill und wunderschön.
Aber dann kam eines zum anderen: ein bisschen zu viel Trödelei auf der gemütlichen Fjällstation, die zeitraubende Herausforderung, alles Gepäck in der Pulka unterzubringen, schließlich eine falsche Abzweigung, die uns fast zwei Stunden kostete. Plötzlich war es stockdunkel, als wir uns endlich unserem Ziel für die Nacht näherten. Wir wussten ja, wo das Lyckans Läger lag, so ungefähr zumindest. Im letzten Jahr waren wir schon einmal mit Skiern hier am See, hatten die Sauna aus der Entfernung entdeckt und uns gedacht, wie toll es wäre, ein paar Tage hier oben zu verbringen. Aber die zwei Hütten, die leicht versteckt im Birkenwald liegen, hatten wir damals nicht gesehen. Und jetzt sitzen wir hier, in der kalten Sauna, davor eine Pulka mit Luxusschmaus, und finden sie vor lauter Bäumen und Dunkelheit nicht.
»Ich versuche es noch mal«, sage ich. Draußen klicke ich meine Schuhe in die vereisten Skier und gehe erneut ein paar Meter am Ufer zurück. Das Licht der Stirnlampe fällt auf eine schmale Schneise. Das könnte ein Weg sein. Mit den Skiern kämpfe ich mich im Tiefschnee den Hang hinauf. Und da sind sie tatsächlich, die beiden dunkel verlassenen Holzhäuschen.
Eine Stunde später sitzen wir an dem rustikalen Holztisch. Das Feuer im Ofen lodert und es ist inzwischen so warm, dass wir selbst die Skiunterwäsche auch noch ausziehen könnten. Die Gnocchi mit Pfifferling-Crème-fraîche- Sauce und Blattsalat, die wir schnell auf dem kleinen Gasherd aufgewärmt haben, schmecken wie ein Fünf-Sterne-Hauptgang. Die dunkle eiskalte Winterlandschaft vor den Fenstern scheint weit weg. »Vielleicht braucht man ja so kleine Katastrophen, damit es später doppelt so schön ist«, sage ich zu Ida. Sie verdreht die Augen. Irgendwann kriechen wir müde, satt und glücklich in unsere Betten. Es ist unendlich still. Bald schlafen wir tief und fest.
Tourentradition in Edsåsdalen
Es werden zwei wunderbare, wenn auch nicht ganz unanstrengende Ski- und Hüttentage bei glasklarem Winterwetter. Wir merken schnell, dass man ordentlich für seine Wärme arbeiten muss. Sei es durch Bewegung oder durch gut organisiertes Feuern des Ofens. Früh morgens vor dem Aufstehen weckt mich die Kälte. Mit kondensierendem Atem schleiche ich aus dem Bett und setze das erloschene Feuer wieder in Gang. Damit das funktioniert, muss man schon abends das tiefgefrorene Holz aus dem Schuppen zum Trocknen in die warme Stube bringen und am besten schon ein paar Rinden- und kleinere Holzstücke zum Anfeuern vorbereiten.
Während die Wärme den Raum füllt, geht die Sonne auf. Ein wunderbarer Moment, in dem die ganze Landschaft – das Birken- und Kiefernwäldchen vor dem Fenster, der See Lilla Offsjön dahinter und die Berge in der Ferne – in pastellene Farben getaucht wird: weiß, rosa, hellblau. Und dazwischen unser Zuhause, die Hütte wie aus dem Bilderbuch, mit ihrem graubraunen Holz und blauen Fensterrahmen und den von uns getrampelten Wegen, die schneisenartig durch den tiefen Schnee zum Schuppen und zur ar…kalten Trockentoilette führen. Nach dem Frühstück mit Schnellkaffee aus geschmolzenem Schneewasser treibt uns das Licht hinaus. Vor der Hütte schnallen wir die Skier an und ziehen hinaus in die weiße Weite.
Seit ewigen Zeiten sind die Menschen in der Umgebung von Edsåsdalen auf Skiern oder zu Fuß unterwegs. Fünf leicht zugängliche Fjällgipfel rahmen das Tal ein, ein Netz aus 150 Kilometern ausgezeichneter Wege wartet im Winter auf Langläufer, Skitourengeher, Hundeund Motorschlitten, im Sommer auf Wanderer, Trailrunner und Mountainbiker. Gut erreichbar vom Dorf findet man eine Reihe von Berghütten und Sheltern mit Feuerstellen, die sich als Tages- oder Zwischenziel eignen. Im Tal selbst gibt es ein Loipensystem inklusive Flutlichtbahn und unterschiedlich langen Runden. Nicht zuletzt wird in Edsåsdalen auch alpin Ski gefahren – fünf Schlepplifte rund um das Hotel und Wanderheim Köjagården bringen die Skifahrer nach oben. Hinter einer Pistenraupe kann man sich hinauf zum Vita Renen ziehen lassen, wo einer der Lifte auf den Gipfel des Renfjälls führt.
Wir waren schon mehrmals mit der Familie hier und haben Edsåsdalen wegen seiner genuinen Fjällatmosphäre ins Herz geschlossen. Hier bin ich auch das erste Mal auf Langlaufskier gestiegen – gegen alle Widerstände, die ich im Laufe meiner eher adrenalinorientierten Alpen- Sozialisation aufgebaut hatte. Bis dahin, so mein Vorurteil, war Langlauf nur was für Ältere oder Sportverrückte. (Andererseits entwickle ich mich in den letzten Jahren ehrlich gesagt genau in diese Richtungen, sodass ich möglicherweise gar nicht so falsch lag.) In Edsåsdalen habe ich auch gelernt, dass es für Touren durch die nordische Bergwelt gleich mehrere Skitypen gibt: klassische Langlaufskier für die Loipe, die etwas breiteren Fjällskier mit Stahlkante für nicht präparierte Wege und Tourenskier, die ein bisschen so aussehen wie Bretter aus den 80ern und mit denen man auch abseits der Wege durch den tiefen Schnee gleiten kann. Ida und ich haben in diesen Tagen Fjällskier gewählt, um die Umgebung rund um unser »Glückslager« zu entdecken.
Ski- und Hüttenrituale
Wir sind fast für uns allein, genießen die Stille und die Weite, die so herrlich surreale Gestalt der Natur mit ihren schneegefrosteten Fichten und krüppeligen Fjällbirken und mit den kunstvollen Schneeverwehungen auf den gefrorenen Seen. Der am Abend des Aufstiegs noch unpräparierte Fjällweg ist plötzlich gespurt. Am ersten Morgen folgen wir der frischen Loipe und den eisverzierten Markierungen entlang der Älgbergsrunda, machen einen Abstecher zum 850 Meter hohen Lillval-Gipfel und gönnen uns eine Kaffeepause in der romantisch verschneiten Wärmehütte Lillvalskåta. Am zweiten Tag kämpfen wir uns bis auf die Spitze des Grofjälles, diesmal mit Halt an der Grofjällstuga. Von hier könnten wir problemlos ins andere Tal hinübergleiten, wo auch das Skigebiet Trillevallen liegt, kehren aber rechtzeitig zum Mittag wieder in unsere Hütte zurück. Zum Essen natürlich mal wieder, aber auch, um Holz nachzulegen und den Saunaofen einzuheizen.
Bis zur Dunkelheit halten wir uns in der Nähe auf, machen eine schnelle Tour über das Eis der Seen Lilla Offsjön und Stora Offsjön, bohren mit dem mächtigen mitgebrachten Bohrer (es gab übrigens einen hier oben) ein Loch in das mindestens einen Meter dicke Eis, warten jedoch vergeblich darauf, dass sich aus dem dunklen Nichts unter uns ein Hecht oder Seesaibling zu unserem bemitleidenswerten Köder verirrt. Wenn nachmittags die Sonne nach einem weiteren intensiven Lichtschauspiel hinter den Fjällketten verschwunden ist, ist es Zeit für die Sauna. Stundenlang sitzen wir einsam in der Wärme, reden, trinken Bier, schmeißen endlos Holz in den Ofen und baden zwischendurch im Pulverschnee. Milliarden kleiner Eiskristalle verteilen sich dann auf der nackten Haut und schmelzen in Sekundenschnelle, sobald man zurück in die Hitze kommt. »Weißt du noch, wie es war, als wir hierherkamen«, sagen wir dann und denken schön schaudernd daran zurück, wie es einst war, hier dick verpackt und zitternd am Feuermachen zu verzweifeln.
Existenzielle Gedanken im Zug
Zugfahrt nach Hause. Es ist Sonntagnachmittag und wieder legt sich Dunkelheit auf die Berglandschaft, die vor den Fenstern vorbeizieht. Ich denke an den kalten Ofen, der nach Holz schreit. An die Birkenscheite, die man jetzt aus dem Schuppen holen müsste und an den Topf, den man mit Schnee füllen und auf das heiße Gusseisen stellen sollte, damit es morgen mit dem Kaffee nicht so ein Akt wird. Drei Tage ohne Strom und Wasser in der Kälte machen klar, wie einfach unser Leben geworden ist und wie selbstverständlich so existenzielle Dinge wie Wärme und Wasser sind. Wie muss es gewesen sein, als Menschen noch dauerhaft hier oben so lebten, ganz ohne Pulkas mit Gnocchi und Rotwein und ohne vom Hüttenvermieter gefüllten Holzlagern? Als man darauf angewiesen war, aus dem dunklen Loch einen Fisch zu ziehen und als die Fjällskier noch kein Outdoor-Equipment waren, sondern das einzige Fortbewegungsmittel zum Nachbarn oder ins Dorf auf der anderen Seite des Fjälls. Hart muss es gewesen sein, aber bestimmt auch ein bisschen schön, denke ich, und hole mir einen Kaffee im etwas zu warmen Speisewagen.