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Im Bann des Eises

Sich an abgeschiedene Orte der Welt zu begeben und zu dokumentieren und teilen, was sie finden, ist die Mission des Fotografenkollektivs PlanetVisible. NORR hat sie mit dem Stand-Up-Paddle-Board paddelnd durch das Eis von Grönland begleitet.

Auf den endlosen Eishang starrend, der sich vor uns auftürmt, versuche ich herauszufinden, ob ich ein gutes oder schlechtes Bauchgefühl habe. Ich habe gar keine Gefühle. Als wir die Schlaufen in Form einer Acht in unsere Geschirre binden, ertappe ich mich dabei, wie ich an dem kleinen braunen Spielzeugpferd reibe, das ich als Talisman in meiner Tasche trage und das meinem Neffen gehört. Ich bin nicht vertraut mit den Risiken, die das Eis birgt. Und diese Ungewissheit ist beängstigend. Wir befinden uns weit abgeschieden von jeglicher Zivilisation mit einem ernstzunehmenden Risiko, auf Gletscherspalten oder Schmelzwasserlöcher zu stoßen – hier einen Fehler zu begehen, wäre unverzeihlich.

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Der Boden knirscht unter unseren Steigeisen, als wir Schritt für Schritt mit dem Aufstieg beginnen. Auf dem Kamm des Hügels halte ich an, um den Horizont abzusuchen und wahrzunehmen, was da vor mir liegt. Ein Plateau aus Weiß, nur Eis und Schnee, so weit das Auge reicht. Riesig, rein und anders als alles, was ich je gesehen habe in meinem Leben. Als wir den See erreichen, raubt es uns den Atem. Wir bleiben stehen, wir sind wirklich da. Nach Jahren des Planens und Hoffens liegt er nun vor uns in seiner azurblauen Ruhe. Für vielleicht nur einen Moment. Diesen Moment.

Eine schwere Geburt

Wir paddeln 450 Kilometer auf eigene Faust von Upernavik nach Kullorsuaq. Das Ziel ist es, zu dokumentieren, was wir finden. Aber auch, uns mit Stand-Up-Paddle-Boards auf die Suche nach den schwer auffindbaren Seen auf dem Inlandeis zu machen. Jedes Jahr im Hochsommer erscheinen diese leuchtend blauen Schmelz- wasserseen auf der Oberfläche der Eisdecke an beiden Polen – ein Prozess, der von Temperatur, Topografie und Höhe bestimmt wird. Die See können kilometerlang und mehrere Meter tief werden. Sie speichern große Mengen Frischwasser, können monatelang halten oder innerhalb weniger Stunden abfließen.

Ein Plateau aus Weiß. Nur Eis und Schnee, so weit das Auge reicht.

Für das Team, mit dem ich unterwegs bin, hat die Verwirklichung dieser Reise drei Jahre gedauert. Im Jahr 2020, nur fünf Tage vor dem Abflug, sorgte Covid für die Stornierung der Flüge. Die beiden Mitglieder Jean-Luc Grossmann und Justin Hession von PlanetVisible, einem Fotografenkollektiv, verfolgten ihren Traum einer Grönland-Expedition mit dem SUP eisern weiter, bis es in diesem Jahr endlich so weit sein sollte. Pascal Richard, langjähriger Freund der beiden, kam als dritter Fotograf hinzu. Ich bin das vierte Mitglied im Bunde, das über dieses Abenteuer schreiben soll.

Zweischneidiges Schwer

Grönland ist mit 2,16 Millionen Quadratkilometern die größte Insel der Welt und hat 56 000 Einwohner. Hier gibt es keine Straßen oder Eisenbahnsysteme, es ist das Land der Hundeschlitten, Kajaks, Schneemobile und Fischerboote. Und das Land der Eisbären. Vor 14 Tagen haben wir uns ohne Zwischenfälle auf den Weg zu unserem Abenteuer gemacht. Nur mit Hilfe unserer SUPs transportieren wir unsere gesamte Ausrüstung, die alles in allem über 230 Kilo wiegt, zusammen mit unserer neu gekauften Waffe, die wir zum Schutze vor Eisbärenangriffen mit uns führen. Immer weiter wandern wir nach Norden und campen uns dabei wild durch das fast völlig unbewohnte Upernavik-Archipel. Eines Abends, zu Beginn der Reise, machen wir eine Gewehrschießübung. Wir zielen und unsere torpedoähnlichen Kugeln landen in einem nahe gelegenen Eisberg. So lustig das auch ist, es ist beunruhigend, sich vorzustellen, hier draußen einem Eisbären zu begegnen, geschweige denn auf dem Wasser.

Selbst eine kleine Verletzung kann hier draußen schwerwiegende Folgen haben.

Würden wir Zeit haben, das Gewehr aus der Packtasche zu holen? Es ist unwahrscheinlich, dass wir
zu dieser Jahreszeit eine Bärenbegegnung machen, aber nicht ausgeschlossen, denn schließlich verändert sich dieses Land ständig und auch der Lebensraum der Eisbären verschwindet mehr und mehr. Unser Verständnis aus Gesprächen mit Einheimischen ist, dass die Eisdecke, die früher das ganze Jahr über hier war, jetzt saisonaler wird. Einige Wissenschaftler sagen voraus, dass das arktische Meereis in nur 20 bis 30 Jahren vollständig geschmolzen sein könnte. Es ist unheimlich, dem Gedanken zu begegnen, wie diese spektakuläre Landschaft verschwindet, während wir durch die mystische Welt der gefrorenen Formen paddeln.

An Grönland, mit seinen stetig schwindenden Eismassen, werden wie an keinem anderen Land der Welt die Folgen des Klimawandels deutlich. Paradoxerweise wird das Schmelzen des Eises aber auch genutzt, um dem immer wärmer werdenden Klima entgegenzuwirken. Durch die längeren Perioden ohne Eis wird der Zugang zu der Insel auch für Wissenschaftler und Transportunternehmen leichter. Im selben Monat, in dem Jean-Luc, Justin, Pascal und ich auf Grönland sind, findet in der Region um Nuussuaq eine Suche nach Rohstoffen statt, die einen Teil zur Lösung der Klimaproblematik beitragen sollen. Die größten Millionäre der Welt, unter anderem Bill Gates, Jeff Bezos und Michael Bloomberg, führen das Projekt an, da sie glauben, unter anderem durch den Fund von Kobalt und Nickel, die Industrie von Elektroautos signifikant vorantreiben zu können. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn das Eis weiter schmilzt, könnte der Zugang zu Materialien freigelegt werden, die bei der Revolution der erneuerbaren Energien helfen sollen. Was dies für die Zukunft des friedlichen abgelegenen Nordwestgrönlands bedeutet, bleibt fraglich.

Zwischen Furcht und Freudentaumel

Jeden Tag legen wir zwischen 20 und 30 Kilometer über einen Zeitraum von 7 bis 10 Stunden zurück, wobei wir nur anhalten, um Fotos zu machen (die Jungs) und Snacks zu essen (meistens ich). Die Bedingungen, denen wir dabei ausgesetzt sind, sind alles andere als einfach. Die Wassertemperatur liegt bei knapp über null Grad, ein Sturz ist eine besorgniser- regende Vorstellung. Selbst eine kleine Ver- letzung kann hier draußen schwerwiegende Folgen haben. Der Wind ist wechselhaft und mit frustrierender Regelmäßigkeit nicht auf unserer Seite. An einem Tag müssen wir gänz- lich pausieren, um uns vor einem aggressiven 30-Knoten-Wind zu verstecken. Das Paddeln ist manchmal ein echter Kampf, aber es ist schwer, nicht über diesen imposanten Fleck Erde zu staunen. Wo wir sind, fühlt es sich nicht an wie von dieser Welt.

Das Eis steht im Mittelpunkt dieses Spiels des Lebens. Jeder Tag bringt uns mit einem neuen Reich an gefrorenen Formen zum Staunen. Zerknüllte Türme und knorrige Speere ragen aus den dunkelblauen Tiefen empor und stellen uns in den Schatten. Riesige Platten, größer als Fußballstadien, umgeben uns.

Das dröhnende Donnergrollen, wenn ein mächtiger Brocken sich löst und mit einem Ächzen im Meer versinkt, ist ein Geräusch, das sich nicht vergessen lässt

Jeder Tag bringt uns mit einem neuen Reich an gefrorenen Formen zum Staunen.

Für mich sind die Geräusche, die sie machen, unvergesslich. Sie atmen, sie tropfen, sie gähnen und stöhnen. Das dröhnende Donnergrollen, das zwischen den Landmassen widerhallt, warnt, dass die größten Gestaltwandler der Natur in der Nähe zusammenbrechen. Oder ein allmächtiger Brocken kündigt mit einem Knacken an, dass er alsbald ins Wasser stürzen möchte, um eine meterhohe Welle zu verursachen, die sich gnädigerweise schnell auflöst. Wenn dies passiert, sprudeln und knistern die Trümmer oft wie Reiskrispies. Unberechenbare Bestien, die sich auflehnen und schwanken, kippen und sich im Handumdrehen um die eigene Achse wenden.

Auf unserer Route sind aber nicht alle Eisberge wilde Riesen. Wir überqueren eine Reihe von mehr als 7 Kilometer breiten Fjorden, die mit zerschmettertem Eis und soliden festen Klumpen in jeder Form und Größe gefüllt sind, durch die wir uns den Weg bahnen müssen, um auf die andere Seite zu gelangen. In Zeiten wie diesen werden mit größerer Regelmäßigkeit Witze über Eisbären gemacht, während wir nervös das Treibeismeer nach unbekannten Gesichtern absuchen.

Instinkt ins Wasser

Das Terrain aus mit Flechten bewachsenen Felsen ist unversöhnlich. Es ist unmöglich, von dieser puren Abgeschiedenheit nicht gedemütigt zu werden.

Und jetzt stehen wir da, 600 Meter über dem Meeresspiegel neben diesem mystischen See auf der grönländischen Eisdecke. Voller Ehrfurcht, Aufregung und Staunen. Es überrascht nicht, dass die zunehmende Präsenz dieser Wasseransammlungen mit dem Klimawandel zusammenhängt. Da das grönländische Eisschild in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund des globalen Temperaturanstiegs schneller denn je geschmolzen ist, gilt es heute als der größte Einzelverursacher des Anstiegs der Meeresspiegel. Während ich auf dem Eis stehe, denke ich über das Ausmaß dieser Dimensionen nach, die es zu unseren Lebzeiten noch nicht gegeben hat.

Der See liegt eingebettet in den Schnee, mit nur einer kleinen Kräuselung an einem Ende. Sie sieht aus, wie ein Bach, der sich nach draußen schlängelt und einen Tunnel in die Tiefe darunter sucht – wie eine Sprechblase. Wir starren auf den See, in dessen Mitte sich ein großer ominöser dunkelblauer Kreis befindet. Keiner von uns weiß, was es ist.

Wie eine Sprechblase mutet der Schmelzwassersee auf dem Inlandeis mit seinem bachartigen Ablauf an. In der Mitte ist er mit einem eigentümlichen Loch gespickt.

»Möchte jemand versuchen, auf den See zu paddeln?«, fragt Jean-Luc zögernd. »Ich gehe«, sage ich. Es ist instinktiv. Wir sind den ganzen Weg gekommen, stundenlang über Felsen und Eis geklettert, um dort zu stehen, wo wir jetzt sind. Es war ihr Traum, nicht meiner. Ich bin keine Fotografin, es machte Sinn, dass ich es bin, die dort draußen auf dem See paddeln geht, damit sie jemanden haben, den sie fotografieren können. Mit dem Board unter dem Arm schreite ich auf die Wasseroberfläche zu und versinke komödiantisch mit jedem riesigen pantomi- mischen Schritt in tiefem Schneematsch. Das Eis reicht mir stellenweise bis zu den Oberschenkeln. Ich beäuge weiterhin dieses merkwürdige kobaltblaue Bullauge, das wie ein höhlenartiger Trichter auf dem Grund des Sees ruht. Als ich die Kante erreiche, klettere ich auf das Brett und stoße mich ab. Langsam ziehe ich mein Paddel durch das ruhige Wasser.

Es ist ein Kampf, nicht zu stolpern, zu rutschen oder umzuknicken.

Die Sonne bricht durch die Wolken und ich werde von ihrer Energie getroffen. Ich muss der glücklichste Mensch der Welt sein, denke ich. Ein spiritueller Moment, von dem ich weiß, dass er mein Leben prägen wird. Ich bin auf diesem See, diesem Zeichen des Wandels, einem schönen, aber tragischen Symbol dafür, wie schnell sich dieser Lebensraum verändert.

Jubelnd steigen wir wieder hinunter. Das Gelände ist hart, mit einer Reihe von Herausforderungen, darunter ein Fluss, den es zu überqueren gilt, riesige Felsbrocken, über die man klettern muss, matschiges Moos, in das man einsinken kann, und lose Steine unter unseren Füßen, auf denen wir den Halt verlieren – es ist ein Kampf, nicht zu stolpern, zu rutschen oder umzuknicken. Ich freue mich darauf, wieder ans Meer zu kommen.

Routine im Unbekannten

In der letzten Woche bewegen wir uns nach Norden durch mehr Eis und felsige Inseln, die jetzt schneereicher und steiler werden. Unsere Tage haben eine Routine. Wir essen unser Frühstück, bauen das Lager ab, schlüpfen in die bananenfarbenen Trockenanzüge und durchnässten Neoprenschuhe, füllen Wasserflaschen auf, hieven die Bretter auf die Fjorde, schnallen alles fest und stoßen für einen weiteren Tag ins Unbekannte vor.

Zweimal versperrt uns das schiere Volumen des Packeises unsere Wege und wir müssen Halbinseln umrunden. Dies fügt weitere Meilen hinzu und bedeutet, dass wir uns auf einer Seite dem offenen Ozean stellen müssen. Das Terrain, eine Mischung aus mit Flechten bewachsenen Felsen und jetzt schneebedeckten Gipfeln, ist karg und unversöhnlich. Es ist unmöglich, nicht von der schieren Abgeschiedenheit gedemütigt zu werden. Wie würde dieser Ort aussehen, wenn er zum Abbau von Mineralien genutzt werden würde?

Obwohl es für die Region typisch ist, auf Wale zu treffen, begegnen wir keinem. Auch das scheint nicht mehr so sicher wie früher. Dafür sehen wir unzählige Vögel, darunter den Eissturmvogel und wunderschöne weiße Küstenseeschwalben. Eine denkwürdige Interaktion haben wir mit einem Seehund. Jean-Luc und ich paddeln an einem Vormittag direkt gegen ihn und glauben, er sei tot, bis wir sehen, wie ein paar Blasen auftauchen. Er sieht uns aus großen Augen an und schießt dann dramatisch in das Heiligtum des tiefen Wassers.

Dieses feindliche Land hält uns wach und entzündet ein Feuer in unseren Herzen.

Die einzigen Menschen, die wir hier draußen sehen, sind Fischer aus der Stadt Nuussuaq, mit weniger als 200 Einwohnern, die auf der Suche nach Seehunden und Heilbutt sind, den sie mit bis zu 500 Meter langen Leinen fischen.

Wehmut am Ziel

Wir paddeln nach Kullorsuaq, dem Ende unserer Reise, wehmütig, aber glücklich. Es ist die nördlichste Siedlung des Upernavik-Archipels, wurde 1928 gegründet und ist mit rund 450 Einwohnern eines der traditionsreichsten Jagd- und Fischerdörfer Grönlands. Noch vier weitere Tage warten wir auf die Heimreise, nie mit Gewissheit, wann unser Abenteuer aufgrund des Nebels zu Ende ist. Flüge werden verschoben. Es ist eine Geduldsprobe. Die Natur bestimmt das Leben. Verändern sich Wetter und Umgebung, ändern sich auch die Lebensweisen der Menschen.

SUP Tour auf einen Blick

Strecke: von Upernavik nach Kullorsuaq

Dauer: 23 Tage / 450 Kilometer

Tagesetappen: 20 bis 30 Kilometer pro Tag mit 6 bis 9 Paddelstunden auf dem Wasser

Übernachten: 18 Mal Zelten in freier Wildnis

Grönland ist ein Land der Extreme. Endloses Tageslicht oder monatelange Dunkelheit. Das große Paradoxon hier draußen in dieser gefrorenen Wildnis ist, dass das, was dich töten kann, dich auch am Leben erhält. Umgebungen wie diese schärfen die Synapsen und erinnern daran, dass unser Gehirn gemacht ist, um uns beim Überleben zu helfen. Man ist gezwungen, ständig zwischen Risiko und Belohnung abzuwägen. Wir lernen, uns wohlzufühlen, wenn wir uns unwohl fühlen.

Zu Beginn der Reise erwähnte Jean-Luc ein Sprichwort, das sein Vater zu sagen pflegte: »Es ist besser zu wissen, wo du bist, ohne zu wissen, wohin du gehst, als zu wissen, wohin du gehst, ohne zu wissen, wo du bist.« Das unberechenbare Eis hat uns in den Bann gezogen. Dieses feindliche Land hält uns wach und entzündet ein Feuer in unseren Herzen.

5 Abenteuerlieblinge von Jean-Luc auf Grönland

1. Mit dem Huskyschlitten auf Ammassalik

Mit einheimischen Guides und ihren Hunden über die eisige Insel Ostgrönlands fahren und abgeschiedene Siedlungen bestaunen. 

greenlandtours.com

2. Kajaktour und Eisschildtrip

Durch das endlose Labyrinth der Fjorde inmitten tanzender Nordlichter paddeln, um anschließend zu Fuß das Eisschild zu besuchen. 

tasermiutgreenland.com

3. Tierbegegnungen mit dem SUP

Auf dem Nuuk-Fjord mit dem Stand-Up-Paddle- Board zwischen schwimmenden Eisbergen in See stechen und auf Wale und Seehunde treffen. 

watertaxi.gl

4. Auf Skiern über die Gipfel

Eine Skitour durch die unberührte verschneite Winterwelt Grönlands erleben und in winzigen Hütten in den Bergen übernachten. 

greenland.is

5. Wandernd im Unesco-Welterbe

In Wanderstiefeln die kalbenden Gletscher und das von der UNESCO ausgezeichnete arktische Farmland mit seinen mittelalterlichen Ruinen in Südgrönland erkunden.

greenland.is

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