Das Wasser hat kaum mehr als 12 Grad, aber die Aussicht ist so dekorativ, dass wir die Kälte vergessen. Wir befinden uns zwischen Jokkmokk und Gällivare, am unteren Teil des Wasserfalls Stora Sjöfallet und baden in kleinen Naturpools mit kristallklarem Wasser. Im Hintergrund thront das Bergmas- siv Áhkká mit seinen Gletschern. Im lulesamischen Dialekt bedeutet Áhkká »alte Frau«. Der Wasserfall rauscht, ansonsten ist es ganz still. Früher war Stora Sjöfallet bekannt als nordisches Pendant zu den Niagarafällen. Ursprünglich bestand er aus fünf verschiedenen Wasserfällen, aber als man in der Umgebung Staudämme baute, um Wasserkraft zu produzieren, wurde die Flut gedrosselt. Heute führt Stora Sjöfallet nur noch drei Prozent seiner ursprünglichen Wassermenge. Trotzdem lockt er nach wie vor Touristen aus aller Welt in den Nationalpark.
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Wir sind hier, um das Naturum Laponia zu besichtigen. Es dient als Besucherzentrum für vier Nationalparks, zwei Naturreservate und neun Sami-Dörfer, die alle zum Welterbe Laponia gehören. Obwohl das von Architekten entworfene Gebäude schon vor sieben Jahren eingeweiht wurde, sieht es noch immer aus wie neu. Man darf es nicht mit Schuhen betreten. Hierher kommen Touristen, um sich Tipps für Tagestouren zu holen und um mehr über das gesamte Gebiet zu erfahren. »Aber fast nie fragt hier jemand nach dem Muddus«, sagt der Guide Anton Hirschfeldt. Muddus liegt 120 Kilometer weiter östlich und ist einer der unbekannteren Nationalparks in Schweden. Die Landschaft, ein gewaltiges Mosaik aus Mooren, Urwald und tiefen Schluchten, gilt als einzigartig. Es ist der größte Wald-Nationalpark des Landes, aber die Konkurrenz ist erdrückend. Muddus grenzt an den Sarek, der als schönste Gebirgslandschaft Schwedens bekannt geworden ist, und in der Nähe befindet sich der beliebte Wanderweg Kungsleden.
Underdog der Nationalparks
»Die Leute, die kommen, wollen Berge sehen. Die meisten sausen an Muddus einfach vorbei«, sagt Anton. »Ich selbst war oft dort und fand es fantastisch. Vielleicht ist das der Hipster in mir – ich will nicht da hin, wo alle sind. Muddus ist der Underdog unter den Nationalparks.« Über Muddus sagt man auch, es sei einer der Orte, wo Schweden am allerstillsten ist. Als Anton sich zum Naturguide ausbilden ließ, wurde ihm oft berichtet, dass viele aus- ländische Touristen vor allem nach Schweden kommen, um Stille zu erleben. Aber hier, am Stora Sjöfallet, hört man ununterbrochen das Rauschen des Wasserfalls. Besonders, wenn der Wind von dort kommt oder es windstill ist. »Trotzdem ist es ein extrem ruhiger Ort«, sagt Anton. »Immer wenn ich meine Familie in Göteborg besuche, denke ich, das ist doch krank, wie laut es da unten ist. Und in Muddus ist es natürlich noch stiller als hier.«
Vielleicht ist das der Hipster in mir. Ich will nicht da hin, wo alle sind.
Tatsache ist, dass in weiten Teilen der Welt stille Orte immer seltener werden. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Städte enorm gewachsen und die Anzahl der Autos ist ex- plodiert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leben 40 Prozent der Europäer ständig mit einer Lärmkulisse von mehr als 55 Dezibel. Der hohe Geräuschpegel setzt nicht nur Stresshormone frei, sondern erhöht auch den Blutdruck. Das ist kein Zufall. Historisch gesehen hat sich die Menschheit in einem naturnahen Geräuschmilieu entwickelt, in dem alles Laute normalerweise eine Bedro- hung bedeutete. Deshalb reagieren wir auf Geräusche noch immer instinktiv oft mit Stresssymptomen. Lärm muss nicht stark sein, um Schaden anzurichten. Es genügt schon ein Quietschen, um Adrenalin fließen zu lassen.
In manchen Städten ist der Lärm so ausgeprägt, dass Amseln, die an Straßen nisteten, auf denen Krankenwagen fahren, die Melodie der Alarmsirene übernahmen und ähnlich sangen, in der Hoffnung, dadurch einen Partner anzulocken. Bei Kohlmeisen, die in urbaner Umgebung leben, wird der Gesang schlichter, aber lauter, damit er überhaupt zu hören ist. Nicht einmal das Tierleben unter dem Meeresspiegel bleibt von Lärmeinwirkung verschont: Wale und Delfine, die mit einem Echolot navigieren, um Nahrung und Schutz zu suchen, werden durch den Krach von Schiffen gestört. Auch in den Bergen steigt der Geräuschpegel: Im Winter nimmt sowohl auf den Straßen als auch abseits davon der Schneescooter-Verkehr stetig zu. Im Sommer gibt es immer mehr Helikoptertransporte im Gebirge, nicht zuletzt rund um den Kebnekaise und zu den dortigen Fjällstationen. Wir haben beschlossen, auf die Jagd nach der Stille zu gehen. Werden wir sie in Muddus finden?
Es gibt im Nationalpark Muddus fünf Übernachtungshütten, die alle ganzjährig geöffnet sind. Am nächsten Morgen sind wir vor Ort, um zur beliebtesten Hütte zu wandern. Vom Eingang bei Skaite, oder Skájdde, wie es auf Lulesamisch heißt, sind es sieben Kilometer. Wir hatten einen fast leeren Parkplatz erwartet. Doch hier stehen ziemlich viele Autos, obwohl es September ist.
Spuren der Vergangenheit
Anna Rimpi vermutet, dass die meisten Be- sucher aus der näheren Umgebung kommen und einfach nur spazieren gehen. Sie ist Archäologin und arbeitet für den gemeinnützigen Verein Laponiatjuottjudus, der das Welterbe Laponia verwaltet. »Das hier war über lange Zeit nur das Ende einer Forststraße. Jetzt gibt es einen Eingang, der außerdem barrierefrei ist«, sagt Anna. »Zur Einweihung kamen viele Einwohner aus Nachbargemeinden, die vorher noch nie in Muddus waren. Sie waren sehr positiv überrascht. Der Park ist eine wahre Perle!« Anna wird mit uns zur Hütte wandern. Wir planen eine Übernachtung, aber Anna hat nur leichtes Gepäck und wird schon am Nachmittag zurückgehen.
Das Wasser ist blank wie ein Spiegel und der Nebel tanzt über dem Fluss.
Zuerst machen wir einen Abstecher zum Stora Luleälven. Hierher kommen die Leute zum Angeln, aber gerade ist keine Menschenseele zu sehen. Das Wasser ist blank wie ein Spiegel und der Nebel tanzt über dem Fluss. Ein Stück weiter will Anna uns etwas zeigen. Ein Plastikband, um einen Baum gebunden, verrät, dass wir die richtige Stelle gefunden haben. Unter Preiselbeerreisig und Kiefernnadeln versteckt sich ein Stück Geschichte. Wir sehen die Reste einer alten Feuerstelle. Anna hält etwas in der Hand, das sich als Erdsonde entpuppt, ein hohler Metallstab, den man in die Erde bohren kann. Sie lässt die Sonde mit einem lauten »Klong« gegen einen der Steine donnern.
»Ein Stein, der im Feuer war, hat einen speziellen Klang«, sagt sie. »Ich kann die Sonde auch in den Boden einführen und mir die Erde anschauen. Das Rote in der Erde ist eine Aus- fällung von Eisen. Kohle kann man hier auch finden.« Sie hält die rostrote Erdprobe hoch. Anna hat die archäologischen Reste im Park inventarisiert und fertigt gerade die Schilder an, die bei einigen der Sehenswürdigkeiten aufgestellt werden sollen. Wie alt zum Beispiel diese Feuerstelle ist, lässt sich ohne genauere Untersuchung nicht bestimmen. Von einigen hundert bis zu 1 500 Jahren ist alles möglich. Im Laufe seiner langen Geschichte ist dieses Gebiet jedenfalls ausgiebig genutzt worden. Seit der Eiszeit haben hier immer Menschen gewohnt. »Im Winter 1886 liefen hier oben die Sägen heiß und es dröhnte von Axtschlägen«, erzählt Anna. »Unmengen von Wald wurden damals abgeholzt und überall wimmelte es von Pferden, Rentieren und Menschen. Als dann die Forstwirtschaft aufhörte, wurde es stiller und stiller. Bald waren die Dörfer in der Umgebung fast vollkommen entvölkert. So still wie heute war es in Muddus nie. Und noch immer kommt kaum ein Tourist her.«
Ruhe für das Ohr
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Mensch die Stille braucht. Zwei Stunden Stille am Tag tragen dazu bei, dass sich im Hippocampus neue Hirnzellen entwickeln können. Das ist der Teil des Gehirns, der für das Gedächtnis und die Gefühle zuständig ist. So erklärt es Thomas Lagö, medizinischer Spezialist. Er gilt als internationaler Experte auf dem Gebiet und ist als wissenschaftlicher Berater tätig. »Das Ohr ist ein Muskel. Genau wie bei einem Elitesportler wird die Leistung nicht dadurch verbessert, dass man ununterbrochen trainiert – man muss sich dazwischen ausruhen«, sagt Thomas. »Wenn der Körper ständig Geräuschen ausgesetzt ist, wird das zum Stress. Menschen, die unter Tinnitus leiden oder sich müde fühlen, schlage ich eine Pause fürs Gehör vor. Würden mehr Leute die Bedeutung der Stille ernst nehmen, würden viele eine ganz neue Welt entdecken – und sie nie wieder aufgeben wollen. Die Stille im Wald ist eine großartige Energiequelle.« Das Rauschen der Bäume wird von den meisten als heilsam empfunden, eine urbane Geräuschkulisse nicht.
Hier und da liegen sturmgefällte Bäume, aufgetürmt zu einem Mikado für Fortgeschrittene.
Wir verlassen die archäologische Stätte am Luleälven und setzen unsere Wanderung fort. Wir wollen in der Hütte übernachten, die nahe am eigenen Wasserfall des Nationalparks liegt. Der ist tatsächlich bedeutend größer als Stora Sjöfallet, aber viel weniger bekannt. Wir gehen ganz dicht an einem mächtigen, gedämpft rauschenden Canyon vorbei. Hier und da liegen sturmgefällte Bäume, aufgetürmt zu einem Mikado für Fortgeschrittene. Anna bleibt vor einer unscheinbaren Grube stehen. Es ist eine Fanggrube und nicht weit von hier gibt es weitere, die vermutlich dazu dienten, wilde Rentiere zu jagen. »Es ist spannend, sich einer anderen Zeit und ihren Menschen zu nähern. Zwar sind nur noch ihre Spuren da, aber man ist hier nie einsam«, sagt sie. Nach einigen Kilometern sind wir am 42 Meter hohen Wasserfall angekommen. Vor dem Zeitalter der Wasserkraft gab es in der Gegend etliche, jetzt ist der Muddusfall der letzte dieser Größe.
Anna verlässt uns und wandert zurück. Die Hütte ist etwas dunkel, aber gemütlich. Wir zünden ein Feuer an und bekommen Gesellschaft von Marjatta und Karolina Boström, die direkt von einer Beerdigung kommen. »Papa hat uns Anfang des Sommers verlassen. Er sprach oft von Muddus«, sagt Karolina. »Nur wenige Gebiete sind groß genug, um Geräusche der Zivilisation fernzuhalten, aber hier hört man nur Natur«, sagt sie.
Stiller Moorozean
Die nordischen Länder machen sich um die Stille besonders verdient. Schweden, Norwegen und Finnland gehören zu den leisesten Ländern der Erde. Im norwegischen Fjell ist motorisierter Sport verboten. In Finnland hat man ein Inventar der stillsten Orte angelegt und mehrere hundert gefunden, die nicht mehr durch Lärm verschmutzt werden dürfen. Lisa Johansson arbeitet bei der Naturschutzbehörde und befasst sich mit Fragen der Lärmbelastung. Sie hebt hervor, dass die Verantwortung für das Geräuschvolumen bei den Kommunen liegt. Etwa die Hälfte der schwedischen Gemeinden hat ihr Gebiet als relativ still und störungsfrei ausgewiesen. »Auch für Kommunen, die von der Fläche her groß und dünn besiedelt sind und die vorläufig noch genügend stille Orte haben, ist es wichtig, über diese Fragen nachzudenken. Es braucht nicht viel, um die Ruhe zu stören«, sagt Lisa.
Die Naturschutzbehörde hat einen Leitfaden herausgegeben, nach dem die Kommunen vorgehen können, um Störungen zu beurteilen, vom Verkehrslärm über Freizeitboote bis zu Schießplätzen. Die Behörde hat außerdem vorgeschlagen, dass der Schneescooter-Verkehr im Fjäll sich auf die Straßen beschränken soll – und das könnte demnächst zu einer Gesetzesänderung führen. »Wir haben in Schweden zwar keine offiziellen Stille-Reservate, dafür aber viele geschützte Gebiete in Nationalparks und im Fjäll«, sagt Lisa. »Nur haben nicht alle die Möglichkeit, sie aufzusuchen. Deshalb ist es wichtig, auch in stadtnahen und leicht zugänglichen Gegenden auf den Geräuschpegel zu achten.«
Als wir am nächsten Morgen aufwachen, hängt immer noch Regen in der Luft. Das samische Wort für ein großes Moor lautet »áhpe«. Es bedeutet zugleich Meer. Und manchmal scheinen die Moore sich hier wirklich so weit zu erstrecken wie der Ozean. Überall Sumpfbeerenblätter, die sich schon feuerrot färben. Für die Beerenernte aber sind wir etwas zu spät. Wieder zurück am Parkeingang, nehmen wir ein letztes Bad. Es ist womöglich noch kälter als am Stora Sjöfallet. Dann beginnt es auch noch in Strömen zu gießen. In Gällivare bestellt sich jede einen großen Hamburger und wir merken schnell, dass die Stille, das plötzliche Verstummen der Welt in Muddus, bei uns deutliche Spuren hinterlassen hat. Eigentlich ist es im Restaurant recht ruhig, aber uns kommt es trotzdem laut vor. Ein Vater und eine Tochter zanken über einen Spielzeugkauf. Ein paar Jugendliche kaufen Eis. Ein Kühlschrank oder eine Gefriertruhe, wird draußen auf dem Parkplatz auf einem Anhänger festgebunden. Im Nachtzug nach Hause quietscht es wie noch nie. Muss es denn wirklich So still wie heute war es in überall so laut sein?