Die Ruhe mitten im Sturm
Geträumt hatten sie von einem langen Wochenende mit Sonne, Hundeschlittenfahrt und Skitouren. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Als der schlimmste Schneesturm des Winters über Lappland hinweg fegte, musste das Team von NORR in eine Schutzhütte flüchten – und stellte fest, dass man auch eine Orkanböe genießen kann.
Wir kommen keinen Schritt mehr voran. Der Wind bläst so heftig, dass wir uns alle vier dicht aneinander drängen und uns gegen die Luftmassen lehnen als wären sie eine Wand. Der Sturm lässt die Kleider knattern, die Sicht ist gleich Null und mir peitschen eisige Schneeflocken ins Gesicht, so dass ich stoßweise atmen muss, um keinen Schnee in den Mund zu bekommen. Wir sind nur noch ein paar hundert Meter von dem Felsblock entfernt, wo wir ein wenig Windschutz zu finden hofften, die Felle von den Skiern ziehen und abfahren wollten. Ohne ein Wort oder einen Blick zu wechseln sind wir uns schnell einig, dass wir es wohl nicht bis dorthin schaffen werden. Mitten auf dem ungeschützten Berghang haben wir keine andere Wahl, als darauf zu warten, dass der Wind nachlässt. In diesem weißen Chaos überkommt mich plötzlich eine meditative Ruhe. Um meinen Kopf herum donnert es, aber drinnen ist es ganz still. Es ist, als ob die Natur uns sagen wollte:
»Jetzt haltet mal die Klappe und macht, was ich will.«
Plan A war eine Tour, die ich seit Jahren vorhatte, aus der aber nie etwas geworden war. Im Hundeschlitten von Nikkaluokta aus auf dem schneebedeckten, geforenen Bach durch das Tal Vistasvággi zu fahren, mit Zwischenstation in der Vistas-Hütte des Schwedischen Tourismusverbands, dann weiter bis Nallo, mit der Nallo-Hütte als Basislager ein paar Skitouren auf die steilen Gipfel ringsum zu gehen und mit dem Hundeschlitten wieder zurückzukommen.
Aber jedes Jahr kam etwas dazwischen, meistens war es das Wetter. Im vorigen Jahr wurde die Reise am Tag vor der Abfahrt abgeblasen, nachdem eine Warmfront aufgezogen war und das nördliche Lappland in eine Schneepfütze inklusive Lawinengefahr verwandelt hatte. Hubschrauber flogen im Pendelverkehr in das Gebiet, um Skifahrer zu evakuieren, die in den Tälern festsaßen.
Jetzt wollen wir es noch einmal versuchen. Meine Freunde Patrick Da Luz, Danne Brylde, der Fotograf Nicklas Blom und ich stehen im Nieselregen vor der Touristenstation von Nikkaluokta. Es ist Freitag, der 15. April. Seit vorgestern liegt zwar nicht gerade eine Warmfront, aber sehr mildes Wetter über der Gegend. Barbara Willen, die Hundeschlittenführerin, hatte angerufen und mitgeteilt, der Schnee würde die Hunde mit dem Schlitten nicht mehr tragen. Die Schneebrücken über dem Bach könnten einbrechen. »Selbst wenn wir es bis Nallo schaffen, riskieren wir, dass wir von dort nicht mehr wegkommen. Aber ich habe mit Erik Sarri in Nikkaluokta gesprochen, er kann euch mit dem Motorschlitten hinfahren«, sagte Barbara.
Vorfreude auf den Winter
Wir beschlossen es darauf ankommen zu lassen und den Nachtzug nach Norden zu nehmen. Die Stunden vor der Abfahrt waren nicht ganz ohne Stress. Es kam ein Anruf von Sara Widell, die gerade eine Ausbildung zur Bergführerin macht und uns begleiten soll: Die Wetterprognosen würden immer schlechter. Es sei nicht sicher, dass Erik Sarri uns nach Nallo fahren könne. Plan A wurde durch Plan B, C, D und E ersetzt – als ich am Abend mein Telefon checkte, sah ich, dass Sara und ich insgesamt zehn Gespräche geführt und 22 SMS ausgetauscht hatten, während ich die Kinder vom Kindergarten abholte und mein Zeug zusammenpackte. Im Zug gestand uns Danne, dass er Fieber hatte, aber trotzdem mitkommen wollte. »Und wie sollen wir dich transportieren, wenn wir über das Gebirge zurück müssen?« fragte Patrick empört. Danne sah etwas geknickt aus und warf noch eine Schmerztablette ein. Jetzt ist der legendäre Schneescooterpilot Erik Sarri unsere letzte Hoffnung. An der Rezeption der Touristenstation in Nikkaluokta hat man uns gesagt, dass er sich gerade oben im Vistasvággi aufhält. »Kann er uns da hinfahren?« »Das müsst ihr Erik fragen, wenn er zurückkommt.«
Als Erik von seinem Scooter klettert, berichtet er, dass die Schneebrücken überall einbrechen. Er zeigt auf die Wolken, die sich im Westen auftürmen. »Da braut sich ein richtiges Mistwetter zusammen, und es gibt nur zwei Möglichkeiten für euch, Kebnekaise oder Tarfala. Und wir müssen uns beeilen.«
Ich war schon mehrmals auf der Kebnekaise-Fjällstation und in Tarfala. Beide Orte eignen sich sehr gut als Basislager für Skitouren in der Umgebung. Die Fjällstation, wo Sara auf uns wartet, hätte Abendmenüs mit drei Gängen und eine Sauna zu bieten, wenn wir im Sturm dort festsäßen. Tarfala dagegen wäre das Wildnis-Abenteuer, das wir uns eigentlich erhofft haben: Dort gibt es nur die Übernachtungshütte des Schwedischen Tourismusverbands und eine kleine Forschungsstation, ansonsten nichts als schwarzgraue Berge, pfefferminzblaue Gletscher und weißen Schnee. »Ich kann euch nach Tarfala fahren, aber ich kann euch dort nicht wieder abholen. Ihr müsst selbst sehen, wie ihr herunterkommt«, sagt Erik Sarri, als wir Gepäck und Skier auf den Scooter laden.
Auf dem Weg zum Kebnekaise taut es, wir müssen durch strömendes Wasser fahren. Gleichzeitig wird der Wind immer stärker, so dass die Zweige der Fjällbirken sich biegen. Unterwegs passieren wir drei junge Typen, die sich auf Skiern vorwärtskämpfen. Später erfahren wir, dass sie nie auf der Fjällstation ankamen, sondern sich im Unwetter verirrten. In der Nacht wurde die Bergwacht alarmiert und suchte das Gebiet ab. Erst um zwei Uhr nachts wurden die Jungs gefunden, durchgefroren, aber unverletzt.
Wir holen Sara von der Fjällstation ab und fahren weiter nach Tarfala. »Habt ihr gesehen, wie die Schneeammern ins Tal hinuntergeflogen sind?«, fragt Erik uns. Man kann sich leicht ausrechnen, was das bedeuten kann. Als wir in der Tarfala-Hütte ankommen, befinden sich dort fünfzehn Personen (und zwei Hunde). Acht Norweger mittleren Alters, fünf nicht mehr ganz junge Engländer und zwei ältere Schweden. Erik und Sara berichten von dem aufziehenden Unwetter. Hektische Aktivität setzt ein. Sehr bald ist die Hütte leer, bis auf die beiden Schwedenonkel, die ruhig vor ihrem Kaffee sitzen bleiben. »Have a nice weekend in the storm!« sagt einer der Engländer mit leicht irrem Lachen und stößt sich auf seinen Skiern ab.
In der Meteorologie gibt es keine exakte Definition des Begriffs »Schneesturm«, dafür aber eine internationale Übereinkunft, wie ein gewöhnlicher Sturm zu definieren ist: durchschnittliche Windstärken von mehr als 24,5 Metern pro Sekunde. So ein Sturm bringt auch große Bäume zu Fall, und auf dem Meer sieht man hohe Wellenberge mit Brechern und weißen Schaumkronen. Die Orkangrenze liegt bei 32,5 Metern pro Sekunde.
Aber das Winterwetter – vor allem oberhalb der Baumgrenze – bringt Schnee und Kälte mit sich, was die Risiken bei starkem Wind noch erhöht. Der Schnee erschwert die Sicht und sammelt sich in Wehen, die auf Skiern schwer zu bewältigen sind. Der Kälteeffekt steigt mit der Windgeschwindigkeit: Zehn Grad minus fühlen sich tatsächlich doppelt so kalt an, wenn der Wind von null auf zehn Sekundenmeter beschleunigt hat. Oberhalb der Baumgrenze trifft der Sturm kaum noch auf Hindernisse. Im Gegenteil, er kann durch die Landschaft noch an Stärke zunehmen, zum Beispiel, wenn er durch ein enges Tal gepresst wird.
Eine weitere Komplikation entsteht, wenn kräftige Windböen Schnee aufwirbeln, so dass eine Wolke von Eiskristallen horizontal über den Boden fegt. Routinierte Alpinisten beurteilen die Windstärke danach, welche Höhe diese Schneeverwehungen erreichen. Alle diese Faktoren spielen eine Rolle, wenn man die Risiken starker Winde im Fjäll einschätzen will. Die Windstärke kann also durchaus unter 24,5 Metern pro Sekunde liegen, wenn von einem Schneesturm die Rede ist. Wir sind noch nicht ganz so weit, aber auf dem besten Weg.
Zuweilen hört man ein Donnern im Schornstein, wenn ein kräftiger Windstoss kommt.
Nachdem wir unsere Sachen im größten Schlafraum der Hütte verstaut haben, planen wir eine kurze Abendtour. Noch ist die Sicht ziemlich gut, wir sehen die schönen, von Spalten durchzogenen Gletscher im Südwesten und können die mächtige Gasskasbakti-Wand im Nordwesten erahnen. Aber weiter oben liegt ein Wolkenriegel über dem Gebirge, und zuweilen hört man ein Donnern im Schornstein, wenn ein kräftiger Windstoß kommt.
Wir testen unsere Transceiver und starten die Überquerung des Tarfalasees auf Skiern – gegen den Wind. Als wir auf den See hinausfahren, frischt der Wind auf. »Hast du Karte und Kompass dabei?« frage ich Sara. Sie nickt, sie hat den Kurs schon ausgemacht. Wir gehen im Zickzack den Abhang hinauf. Patrick gehört zur ersten Generation schwedischer Snowboarder. Wir haben uns in Chamonix kennengelernt, als wir beide in den Zwanzigern waren. Danne, unser gemeinsamer Kumpel, ist ebenfalls Snowboarder. Beide sind auf sogenannten Splitboards unterwegs – Snowboards, die für den Aufstieg auf den Berg der Länge nach geteilt, also in zwei breite Skier verwandelt werden. Für die Abfahrt werden sie dann wieder zu einem Brett zusammengeschraubt.
Schneeverwirbelungenu und erschwerte Sicht
Als es dunkel wird, kehren wir um. Wir gönnen uns ein paar schöne Testschwünge. Dann brauchen wir nur noch die Arme auszubreiten, um uns vom Wind über den See treiben zu lassen. Das ist fast so schnell wie mit dem Lift. Nach einem ausgiebigen, schmackhaften Abendessen mit Schokoladenkuchen als Nachtisch hören wir den Wetterbericht. Der schwedische Wetterdienst sendet eine Warnung der Kategorie eins mit »starkem oder sehr starkem Wind in der Fjällregion von Nordlappland«.
Die Rede ist von einer durchschnittlichen Windstärke über 18 Meter pro Sekunde, mit dem Zusatz: »Erschwerte Fortbewegung, bei Pulverschnee Schneeverwirbelungen, die die Sicht behindern«.
Hier bei uns wird der Wind noch heftiger sein. Das Tarfalatal ist für seine starken Stürme bekannt. Hier wurde im Dezember 1992 der schwedische Windgeschwindigkeitsrekord aufgestellt, als unglaubliche 81,1 Meter pro Sekunde gemessen wurden. Einen Monat später ging es mit 75,4 Metern pro Sekunde erneut zur Sache. Der Sturm machte Kleinholz aus der Sauna der Forschungsstation, und die große Messstation wurde um einige Dezimeter verschoben.
Es gab schon eine Menge solcher Meldungen aus Tarfala. Ein Stück von uns entfernt haben die Hüttenwirte ihr kleines Haus. Sie erzählen, dass vor ein paar Jahren eines ihrer Fenster vom Wind eingedrückt wurde, mit Fensterfutter und allem. Mittlerweile ächzt die Hütte schon ziemlich laut unter den Sturmböen. »Shit!« sagt Danne mit weit aufgerissenen Augen, wenn ein Windstoß gegen die Außenwand donnert. Aber die Holzscheite glühen im Kamin, und Kerzen erhellen den Essraum, in dem wir sitzen und Tee trinken.
Am nächsten Morgen brechen die beiden älteren Herren auf. Sie werden wohl kaum in Not geraten, denn sie scheinen nur für flaches Gelände gerüstet zu sein. Sie werfen mitleidige Blicke auf unsere farbenfrohe Skikleidung. Für sie ist vermutlich jede Produktentwicklung nach der Erfindung des Baumwollanoraks überflüssiger Quatsch.
Nachdem wir auf die Karte geschaut und versucht haben auszurechnen, wo es wohl am wenigsten weht, beschließen wir, ein Stück ins Tal hinunterzufahren und uns in einer breiten Rinne zu halten, die Hydrologen heißt. Sie ist eventuell lawinengefährdet, aber wenn wir immer an der Kante entlanggehen, sollte das kein Problem sein. Wir haben dort Rückenwind, und es geht abwärts. Die Schneeflocken wirbeln so dicht, dass man vollkommen die Orientierung verliert und die anderen in der Gruppe bestenfalls als Schatten wahrnimmt.
Keine Zeit für Fehlentscheidungen
In der Hydrologen-Rinne ist es etwas ruhiger, und außerdem hat Sara auf halbem Weg eine Überraschung für uns – eine zugeschneite Gletschergrotte. Man sieht nur eine kleine Einbuchtung im Schnee, aber Sara war schon öfters hier und gräbt uns den Zugang frei. Als wir hineingekrochen sind, öffnet sich vor uns ein gigantischer Eistunnel. Hier könnte man das spektakuläärste Fest der ganzen Fjällwelt feiern! Wir begnügen uns mit Kaffee und Butterbroten, sind aber total beeindruckt. Außerdem ist es hier windgeschützt und still – ein erholsamer Kontrast zu Sturm und Schneetreiben da draußen.
Dann folgt das, was während unserer Tage in Tarfala zur Routine werden wird: Wir arbeiten uns an einer Bergflanke hinauf, entweder auf Fellen oder mit den Skiern am Rucksack, bis der Wind in den höheren Lagen so kräftig geworden ist, dass wir ganz einfach nicht mehr weiterkommen. Wir stecken Skier, Stöcke und Rucksack in den Schnee, so dass nichts weggeweht werden kann. Lassen unsere ausgezogenen Handschuhe nicht aus den Augen, ziehen die Felle ab, steigen in die Bindung und versuchen ruhig und methodisch vorzugehen, obwohl der Schnee uns ins Gesicht peitscht (ohne Skibrille wäre das alles fast unmöglich). Von Zeit zu Zeit kontrollieren wir gegenseitig unsere Gesichter auf weiße Frostflecken.
Ich muss an ein Motto des bekannten Überlebensexperten und Schriftstellers Lars Fält denken: »Die Natur ist ein schweigsamer und gerechter Lehrer.« Würde man hier einen Fehler machen, bekäme man sehr schnell die Quittung. Das gilt auch für Kleidung und Ausrüstung – jede Schwachstelle wird sofort entlarvt. In meinem Fall ist es eine Hose, die im Rücken nicht hoch genug sitzt.
Wenn ich mich vorbeuge, um etwas aus dem Rucksack zu holen, bildet sich ein kleiner Spalt zwischen Jacke und Hose. An dieser Stelle kalt und nass zu werden, fühlt sich nicht so gut an. Allerdings: Besonders schweigsam ist die Natur diesmal nicht.
Ein anderer, an den ich während der Tage in Tarfala denken muss, ist der Amerikaner Hugh Herr. Wer auf Youtube nach seinem Namen sucht, kann sehen, wie er auf Kletterrouten unterwegs ist, die nur wenige Leute bewältigen – obwohl er Beinprothesen trägt. Zu Beginn der 80er Jahre war er einer der vielversprechendsten jungen Kletterer der USA und galt als Wunderkind. Bis er im Januar 1982 in einer Eisrinne auf den Mount Washington in New Hampshire kletterte, zusammen mit seinem Freund Jeff Batzer. Als sie oben waren, machten sie den Fehler, noch ein Stück weiterzuklettern, um den Gipfel des Berges zu erreichen. Das schien eine leichte Übung zu sein, verglichen mit dem, was sie gerade geleistet hatten. Aber plötzlich verschlechterte sich das Wetter, und sehr schnell hatten sie sich verirrt. Es gelang ihnen, vom Berg herunterzukommen, aber sie wussten nicht, wo sie sich befanden, und zogen sich schwere Unterkühlungen zu. Das Ganze nahm ein tragisches Ende.
Die Rettungsmannschaft brauchte drei Tage, um sie zu finden. Bei Hugh Herr mussten beide Beine unterhalb des Knies amputiert werden, Jeff Batzer verlor ein halbes Bein, mehrere Zehen und Finger. Aber sie überlebten. Hugh Herr konnte entgegen allen Prognosen wieder anfangen zu klettern (und wurde später Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston). Die große Tragödie war, dass ein Mitglied der Rettungspatrouille in einer Lawine umkam – woran sich die jungen Kletterer natürlich mitschuldig fühlten.
Das Schicksal von Hugh Herr und Jeff Batzer und ähnliche Fälle werden in dem Buch »Mountain Disasters« beschrieben, einer Anthologie zu dem Thema, was in den Bergen alles schief gehen kann. Fehlentscheidungen, unterschätzte Risiken und der ewige, unberechenbare Faktor X sind die drei roten Fäden, die all diese Abgestürzten, Amputierten und Verschollenen zusammenbinden.
Am gefährlichsten sind wohl genau die Situationen, in denen man glaubt, man hätte alles unter Kontrolle.
Ein aktuelles Beispiel: Etwa eine Woche, bevor wir nach Tarfala kamen, war eine kleine Gruppe erfahrener Skiläufer oben auf einem der Gletscher unterwegs.
Einer von ihnen wollte die anderen fotografieren, machte die Skier ab und ging ein Stück weiter weg, um ein gutes Bild zu bekommen. Da gab der Schnee unter ihm nach, und er fiel in eine Gletscherspalte. Dort wurde er eingeklemmt, weil die Spalte sich in einer Tiefe von fünf Metern verengte. Unter ihm ging sie aber weiter und führte unter den Gletscher. Als sein Freund ihn befreien wollte, fiel er ebenfalls hinunter. Beide konnten zum Glück von der Bergwacht geborgen werden. Es ist eine gefährliche Umgebung, in der wir uns hier befinden, und die Wetterverhältnisse sind genau an der Grenze zu dem, was wir noch bewältigen können.
Wir versuchen, die Risiken im Voraus auszumachen und uns gegenseitig dabei zu helfen, den Überblick zu behalten. Eine große Hilfe ist zweifellos Sara, aus der eine sehr gute Bergführerin werden wird. Aber am gefährlichsten sind wohl genau die Situationen, in denen man glaubt, man hätte alles unter Kontrolle.
Auf einmal ist alles Dunkel
Als wir wieder in der Hütte sind, kochen wir uns ein sättigendes Abendessen. Dann sitzen wir zusammen und erzählen uns mehr oder weniger wahre Geschichten aus unserem Leben, während das Feuer knistert. Von Zeit zu Zeit stockt das Gespräch. Der Wind nimmt weiter zu und manche Sturmböen bringen das Geschirr in den Regalen zum Scheppern. In unseren Biergläsern bilden sich mikroskopisch kleine Wellen. Die Stimmung ist entspannt, um nicht zu sagen: locker.
Nach einer Weile gehe ich hinaus zum Klo, wo auch die Eimer mit dem Abwasser geleert werden. Es liegt nur etwa 50 Meter entfernt, deshalb habe ich mich nicht besonders warm angezogen. Ich leere den Eimer und kämpfe mich durch den Wind zum Haus zurück. Da kommt die bisher schwerste und längste Böe die mich vollkommen mit Schnee einhüllt.
Um mich herum wird alles dunkel, ich sehe weder die Hütte noch das Klohäuschen noch unsere Skistöcke. Aufgeregt denke ich: »Ist das jetzt nur eine Böe, oder ist der Wind noch stärker geworden?« Im letzteren Fall würde ich nicht mehr zurückfinden. Furcht steigt in mir hoch, und gleichzeitig bin ich wütend auf mich selbst – so geht es, wenn man sich zu sehr entspannt. »Er starb auf dem Rückweg vom Klo.« Nach ein paar Minuten wird es ruhiger, und ich sehe zu, dass ich wieder ins Haus komme.
Trotz allem sind die Tage in Tarfala auch eine schöne Erfahrung. Hier gibt es keinen Strom, kein tadellos funktionierendes Mobilfunknetz, kein fließendes Wasser. Wir können uns nur mit einfachen, elementaren Dingen beschäftigen: Holz hacken, das Wasserloch freischaufeln, den Kamin anheizen, Essen kochen, abwaschen, die Kleider trocknen, das Eis von den Türfüllungen hacken. Essen, trinken und uns ausruhen.
Schon bald ist der Schneesturm eine Art Normalzustand geworden. Man findet seinen Rhythmus, versucht den Böen standzuhalten und bewegt sich weiter, wenn der Wind etwas nachlässt. Man geht langsam die Berghänge hinauf, Schritt für Schritt und lässt das Wetter bestimmen, wann es Zeit ist, umzukehren. Es wäre aussichtslos, miteinander reden zu wollen, wir müssten schreien.
Jeder ist in sich versunken. »Ich summe die ganze Zeit Legalize it von Peter Tosh. Reggae ist hierfür der beste Soundtrack!«, ruft Nicklas, als wir an einem windgepeitschten Abhang im Stehen eine Kaffeepause machen. Die Abfahrten unterbrechen den Trott, obwohl die Sicht so schlecht ist, dass man ziemlich langsam fahren muss.
Am letzten Abend nimmt der Wind noch mehr zu. Nachträglich erfahren wir, dass als Höchstgeschwindigkeit 38,4 Meter pro Sekunde gemessen wurden – Orkanstärke. Es ist die letzte Kraftanstrengung des Sturms, während der folgenden Nacht beginnt er abzuflauen.
Am nächsten Morgen gleiten wir durch das Tal hinunter zum Ausgangspunkt, schwer beladen mit unserem Gepäck. Genau in dem Moment, als wir das Tarfaladal verlassen, reißen die Wolken auf, und wir können den Kebnekaise und die anderen Berge deutlich sehen. Plötzlich beträgt die Sichtweite in alle Richtungen mehrere Kilometer. Die Sonne wärmt uns das Gesicht. Uns ist, als wären wir in einer anderen Welt zu Gast gewesen.