Ein Bild wie aus einem Reisekatalog für die Malediven: Smaragdgrünes Wasser und blendend weiße Strände, die in der Abendsonne baden. Aber wenn man den Blick nur etwas weiter nach oben richtet, verraten die schneebedeckten Bergmassive, dass man sich viel weiter im Norden befindet, und käme man gar auf die Idee, in dem acht Grad kühlen Wasser zu schwimmen, wäre jeder Zweifel ausgeräumt: Wir sind auf Senja in Nordnorwegen, ein ganzes Stück nördlich des Polarkreises. Hier sind Roger und ich viel länger hängen geblieben als geplant, vor allem deshalb, weil es ganz einfach zu herrlich ist, um abzureisen.
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Nachdem wir in den letzten Jahren ein paarmal auf den Lofoten waren, haben wir Senja angesteuert, die Nachbarinsel im Norden, von der es hieß, sie sei genauso schön, aber mit dem Bonus, dass man dort den Touristenmassen entkommen könne. Die Mitternachtssonne scheint hier jedes Jahr von Mitte Mai bis Ende Juli, was für endlos lange Tage in der freien Natur einzigartige Voraussetzungen schafft. Senja ist Norwegens zweitgrößte Insel nach Spitzbergen, mit einer Oberfläche von 1500 Quadratkilometern. Wegen ihrer faszinierenden Natur wird sie oft als Norwegen im Miniaturformat beschrieben. Die klassische Gipfeltour führt auf den Berg Segla, also fangen wir damit an.
Gigantischer Lippenstift
Ausgangspunkt ist Fjordgård, ein kleines Dorf hinter zwei Tunneln und kurvigen Straßen. Die Wanderung selbst ist ziemlich leicht und gut markiert, die Tour ist die beliebteste von allen und wird jeden Sommer von Tausenden unternommen, die auf eine Aussicht bis zum Horizont und einen Haufen Likes auf Instagram hoffen. Wir aber machen uns auf den Weg, als die Tagestouristen schon ihre Autos für die Rückfahrt vollpacken. Bald sind wir oberhalb der Baumgrenze, und der Segla türmt sich vor uns auf wie ein gigantischer, granitfarbener Lippenstift. Steil stürzen seine Hänge in den nächsten Fjord, und es gelingt uns nicht, sämtliche Gipfel zu zählen, die wir in der Ferne ausmachen können.
Wir entscheiden uns dafür, auf den Hesten Kurs zu nemen, den Nachbarberg mit der besten Aussicht auf den Segla. Aber Finnland ist uns zuvorgekommen. Am Bergkamm auf halber Höhe ist Platz für genau ein Zelt: Ein finnisches Paar hat es bis dorthin geschafft, und nun sitzen sie hier und spielen Mensch ärgere dich nicht. Sie geben uns aber den Tipp, dass es da noch einen weiteren versteckten Platz zwischen all den schrägen Felsblöcken geben soll. So steigen wir einige Meter höher, während wir nach links und rechts spähen. Zum Glück haben wir keinen Zeitdruck – die Sonne geht ja ohnehin nicht unter. Ein paar Minuten vor dem Gipfel des Hesten werden wir schließlich fündig: Eine plattgedrückte Moosfläche, groß genug, um ein Zelt zu platzieren. Wir lassen uns ein einfaches Abendessen schmecken. Die Landschaft um uns ist in rosafarbenes Mitternachtslicht getaucht. Die Aussicht auf Meer und Berge, Seen und Fischerboote ist grenzenlos.
Zur Einschlafzeit scheint die Sonne aufs Zeltdach.
Nachts fühlt sich Senja anders an. Abenteuerlicher, spannender, wie ein ganz fremder Ort. Auch unsere innere Verfassung ist anders. Denn normalerweise genießt man ja dieses magische Abendlicht nur ein paar Stunden lang. Jetzt hält es die ganze Nacht an. Wir verlieren jedes Zeitgefühl, aber irgendwann in den frühen Morgenstunden legen wir uns, vor Müdigkeit gebeutelt, doch hin. Es fühlt sich komisch an, dass zur Einschlafzeit die Sonne aufs Zeltdach scheint, und viel Schlaf bekommen wir nicht. Das Zelt wird zur Sauna, und man kann sich aussuchen, ob man lieber draußen bei den Mücken frische Luft atmen oder im mückenfreien Innenraum zerschmelzen will. Bloß gut, dass das nächste Abenteuer sich auf dem Meer abspielt, wo Kühlung garantiert ist.
Naturschutz und Lebensunterhalt
Die Insel Senja liegt eingeklemmt zwischen den Lofoten und Tromsö. Historisch gehen alle kleinen Fjorddörfer auf Fischersiedlungen zurück, und auf einigen der Inseln kann man sogar noch alte Walschädel finden. Senja hat nur knapp 8000 feste Einwohner, aber während der Hochsaison, im Winter wie im Sommer, erhöht sich diese Zahl beträchtlich. Ganz klar, dass die Berge die größte Attraktivität besitzen, sowohl für Skifahrer als auch für Wanderer, aber es kommen auch viele Angeltouristen. Aus den Erfahrungen der Lofoten klug geworden, arbeitet man jetzt allerdings zukunftsorientiert auf einen nachhaltigen Tourismus hin und versucht, den Ansturm, dem die südlicher gelegenen Inseln jeden Sommer ausgesetzt sind, hier gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Zwei wichtige Aspekte dabei sind, dass die Touristen lernen, ihre eigene Verantwortung für die Natur zu tragen und nichts außer ihrer Fussspuren zu hinterlassen, und dass die Besucher sich möglichst ohne technische Hilfsmittel fortbewegen. Die Hotels und Veranstalter auf Senja arbeiten in einer Umgebung, die zu den ökologisch intaktesten der Welt gehört, und sie kämpfen hart um das Gleichgewicht zwischen den Erfordernissen des Naturschutzes und der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
»Ich hatte immer panische Angst vor Wasser und hätte nie geglaubt, dass ich einmal mit dem Kajakpaddeln anfangen würde. Jetzt ist das Kajakcockpit meine Energiequelle«, sagt Hege Enge Dekerhus, die auf Senja als Kajakguide tätig ist.
Sie war eigentlich eher ein Partygirl und, wie gesagt, gänzlich wasserscheu. Aber dann beschlossen sie und ihr Mann, sich ein gemeinsames Hobby zuzulegen, und als sie ihre Angst überwunden und sich ins Kajak gesetzt hatte, musste ihr Mann fast Gewalt anwenden, um sie wieder aus dem Kajak herauszubekommen. Seither paddelt sie, oft und lange.
Tropen und Arktis
In dem kleinen Dorf Skaland beladen wir die Kajaks vom Kai aus. Eigentlich wollten wir Senja jetzt schon verlassen haben, um uns in anderen Gegenden Nordnorwegens umzusehen, aber wir kommen einfach nicht los, weil es hier viel zuviel zu entdecken gibt. Trotz gründlicher Recherchen vor der Reise hatten wir die Inselgruppe Bergsöyan im Bergsfjord an der Westküste von Senja vollkommen übersehen. Und so ahnen wir nicht, dass uns eines der aufregendsten Paddelabenteuer unseres Lebens bevorsteht. Der Plan für diese Nacht ist, die Inseln vom Wasser aus zu erkunden. Hege wird uns den Weg zeigen, sie paddelt seit vielen Jahren in diesen Gewässern und kennt die besten Zeltplätze. Wir gleiten auf das kalte, klare Wasser hinaus, während die Sonne langsam tiefer sinkt.
Es sind einige Kilometer von Skaland bis zu den beiden Inseln, die wir ansteuern – die große und die kleine Faeröya. Sie sind durch einen schmalen, flachen Kanal getrennt. Und dann breitet sich die Kataloglandschaft vor uns aus: Eine türkisfarbene Bucht, die sich an einen weißen Strand schmiegt. Wir können es fast nicht glauben, dass auf den Bergen im Hintergrund Schnee liegt. Tropen und Arktis im Doppelpack, tatsächlich. Der Strand besteht aus Millionen zermahlener Korallen, und schade ist nur, dass wir unsere Drysuits anhaben, sodass das echte Gefühl von Sand zwischen den Zehen sich leider nicht einstellen kann. Aber bei acht Grad Wassertemperatur wäre das Unterkühlungsrisiko zu groß, wenn das Kajak mal umkippen sollte.
Die Landschaft ist in rosafarbenes Licht getaucht.
Zwischen kleinen Inseln mit lustigen Namen wie Spekkholmen, Höyholmen und Skumholla kreuzen wir umher, fahren an alten Fischerdörfen vorbei und beschließen dann, auf Kråköya an Land zu gehen, wo sich laut Hege einer der besten Zeltplätze befindet. Nachdem wir die Zelte aufgebaut und das obligatorische, eiskalte Abendbad, hinter uns gebracht haben, wird eine Flasche Wein aus dem Wasser geangelt.
»Der Unterschied zwischen dem hellen Sommer und dem dunklen Winter ist so unglaublich groß, dass ich am liebsten ununterbrochen im Freien sein möchte, solange das Licht da ist,« sagt Hege., »Die Mitternachtssonne macht uns völlig unabhängig von der Tageszeit.Der Polarwinter hingegen, also die Zeit, in der die Sonne gar nicht aufgeht, dauert von Ende November bis Mitte Januar. »Unser Sommer ist zwar kurz, aber dafür zum Glück hell. Und Paddeln bei Mitternachtssonne, das ist kaum zu toppen.«
In den Paddelgewässern treffen sich Robben, Wale und Tümmler. In der Luft regieren die Seeadler, und wenn wir in Richtung Horizont paddelten, wäre Grönland das nächste Land, das wir erreichen würden. Das macht uns demütig und neugierig zugleich. Wer weiß, vielleicht taucht ja am Horizont ein Schwertwal auf.
Die Zelte wollen wir vor den frühen Morgestunden nicht benutzen, und so gleiten die Kajaks nach dem Abendessen wieder aufs Wasser hinaus. Der Wind beruhigt sich, die Meeresoberfläche wird spiegelblank, und wir können nur noch in vollen Zügen genießen.
Schlaftrunkene Qual der Wahl
Wenn man auf Senja unterwegs ist, besteht die größte Schwierigkeit darin, sich zu entscheiden, auf welche Berge man steigt. Denn alle Gipfel kann man unmöglich schaffen. Soll man eine richtig lange Tour planen und den höchsten Gipfel erklimmen, den 1017 Meter hohen Breidtinden? Oder lieber eine Kammwanderung auf dem beliebten Barden unternehmen? Oder doch den prächtigen, ungewöhnlich geformten Keipen wählen? Im wahrsten Sinne des Wortes übernächtigt von den wenigen Stunden, in den vergangenen Tagen, in denen wir überhaupt in den Schlaf gefunden haben, einigen uns darauf, die Reise mit dem Husfjellet (dt. Hausberg) abzuschließen. Es ist eine abwechslungsreiche Wanderung durch den Wald, über die Baumgrenze hinaus und über Bergkämme hinweg. Wir packen nur einen leichten Rucksack, weil wir uns für die letzte Nacht den Luxus eines Hotels mit Verdunkelungsgardinen geleistet haben, und machen uns in der Abendsonne auf den Weg, um die 630 Höhenmeter bis zum Gipfel zurückzulegen. Es ist angenehm, einmal nicht das Zelt und die Schlafsäcke schleppen zu müssen, und während wir uns leichtfüßig bergauf bewegen, kommen uns Familien mit Kindern entgegen, die schon auf dem Rückweg sind.
Auf halber Strecke holen uns zwei Norwegerinnen ein, die sich ebenfalls für eine Abendtour entschieden haben. Kamilla und Kristina Torbergsen sind tatsächlich gen Süden gefahren, um Senja zu erreichen, denn sie wohnen sechs Stunden weiter nördlich. Sie sind Mitternachtssonnen-Fans, genau wie wir.»Wenn wir abends losgehen, haben wir die Gipfel für uns und außerdem ist das Licht viel schöner«, sagt Kamilla.
Die beiden Frauen haben uns schnell überholt, weil wir das norwegische Tempo nicht gewöhnt sind. Bald sind Kamilla und Kristina nur noch zwei Punkte hoch oben am Berg. Auf der letzten Etappe wird es ziemlich steil, bevor wir den sehr speziellen Gipfel des Husfjellet erreichen. Er besteht aus verschiedenen Kämmen, die von oben gesehen fast ein Kreuz bilden. Wer waghalsig ist, kann ein letztes, luftiges Stück bis nach ganz oben wandern, und der höchste Punkt, auf dem man dann steht, ist nicht größer als ein halber Zeltplatz. Dort angekommen, sehe ich, dass es auf der anderen Seite ein paar hundert Meter senkrecht in die Tiefe geht. Mit zitternden Knien stellen wir noch einmal fest, dass man von dieser Aussicht niemals genug bekommen kann: Berge und Meer im Gegenlicht der Mitternachtssonne im Westen und unzählige wilde Gipfel im Osten.
Dann legt sich auch noch ein mystischer Nebel über die Fjorde, und wir fühlen uns wie in einem Aquarell von Lars Lerin. Schöner kann Nordnorwegen nicht mehr werden, bestätigen wir uns gegenseitig, bevor wir schließlich den Rückweg antreten, mit nur noch einem, unabdinglichen Ziel: In einem Hotelbett den dringend notwendigen Schlaf zu nachzuholen.
Hellichte Nacht
Die Mitternachtssonne
ist ein Naturphänomen, das im Sommer südlich der Arktis und nördlich des Polarkreises eintritt – unter anderem in den nördlichen Teilen von Norwegen, Finnland und Schweden. Am nördlichen Polarkreis steht die Sonne zur Sommersonnenwende, die in diesem Jahr am 20. Juni eintritt, 24 Stunden am Himmel. Je weiter nördlich du dich befindest, desto länger ist die Zeitspanne, in der die Mitternachtssonne scheint.
66° 33’ 46” N
ist die Position des nördlichen Polarkreises. Der südliche Polarkreis liegt bei 66°33‘ 46” S. Aufgrund der Anziehungskräfte von Mond und Sonne, die auf die Erde einwirken, verschieben sich die genauen Positionen der Polarkreise um etwa zehn Meter pro Jahr.
100 Tage
(ungefähr) lässt sich die Mitternachtssonne in Schwedisch Lappland erleben. In Norwegen hat Spitzbergen die höchste Zahl an Mitternachtssonnentagen. Dort geht die Sonne zwischen dem 20. April und dem 22. August nicht unter.