Die schneeweißen Sandkörner knirschen unter meinen Füßen. Am Horizont trifft der blassblaue Himmel auf das glitzernde Meer. Und es würde mich fast nicht wundern, wenn sich hinter mir ein paar mediterrane Steinvillen in den Himmel neigen. Doch als ich mich umdrehe, erblicke ich am Ufer vereinzelte rote Holzhäuschen mit weißen Fensterrahmen und weiter hinten, in den grünen Sommerfeldern, Höfe aus Fachwerk.
Es ist nicht die Provence, sondern die Landschaft Österlen an Skånes (dt. Schonens) Ostküste, die ich heute gemeinsam mit Jean-Luc und Justin entlang des Radwanderweges Sydostleden erkunde. Morgen geht es dann weiter an die Westküste, wo wir auf dem Kattegattleden die Bjäre-Halbinsel umrunden werden. Das liebliche Österlen soll dem Südosten Frankreichs täuschend ähneln, während der raue Südwesten der schwedischen Provinz an die Bretagne erinnert. Auch kulinarisch, so hörten wir, trifft man in Skåne hier und da auf einige französische Einschläge.
Vor uns liegt also eine doppelte Expedition auf zwei Rädern mit dem Ziel, beide Küstenregionen kennenzulernen, zu verstehen, was Landschaft und Menschen in Schwedens südlichster Provinz prägt und was sie so besonders macht. Bis zu unserem heutigen Etappenziel in Andrarum sind es 50 Kilometer. Weit bin ich noch nicht gekommen. Wenige Minuten hinter unserem Start in Simrishamn haben mich die sandigen Dünen von meinem Drahtesel gelockt. Nur zu gerne möchte ich direkt schwimmen gehen. Jean-Luc und Justin allerdings, die meinen abrupten Bremsvorgang verpasst haben, sind schon einige hundert Meter weiter vorne auf der Strecke. Jetzt holen mich ihre Rufe zurück aus meinem Tagtraum.
Königskunst und Priesterpool
Im Dreiergespann passieren wir Baskemölle, ein typisches schonisches Dorf, das seit jeher von Fischerei und Landwirtschaft lebt. Neben einheimischen Bauern und Fischern gehören auch viele Künstler zu den Einwohnern Österlens. In den 30er Jahren verbrachte Prinz Eugen, der jüngste Sohn des schwedischen Königs Oskar II., seinen Sommer in der Region. Inspiriert von dem besonderen Licht und südländischen Flair malte er Landschaftsgemälde, die er mit nach Stockholm brachte. So wurde Skånes Ostküste im ganzen Land bekannt.
Auch der günstige ländliche Wohnraum machte Schonens Osten attraktiv für Kreative. Künstlerkollektive mit ihren Ateliers und Werkstätten haben sich entlang der gesamten Küste angesiedelt. An der Tjörnedala Konsthallvorbei geht es nach Vik. Die sich windende Asphaltstraße führt so steil bergab, dass wir ein beachtliches Tempo auf unseren Rädern erreichen und mit wehenden Haaren im letzten Moment die Kurve zur Prästens badkar (dt. Badewanne des Priesters) bekommen. Der Sandvulkan bildete sich vor 500 Millionen Jahren am Ozeangrund, als der Meeresboden in diesem Bereich noch vulkanisch aktiv war. Hundert dieser Formationen gibt es im Österlen, aber Prästens badkar ist die einzig zugängliche. Geologen aus aller Welt reisen zu dem schneckenförmigen Gebilde in den Felsen, das einer Sage nach von einem Priester als Waschtrog genutzt wurde.
Der nächste Abstecher führt nach Knäbäckshusen, einem Dorf mit reetgedeckten Fachwerkhäusern, vor denen Rosengärten blühen. Ursprünglich befand sich das kleine Fischerdorf Knäbäcken 15 Kilometer nördlich, am Rande des Militärübungsfeldes Ravlunda. Ravlunda wurde im Laufe der Jahre immer weiter ausgedehnt, bis Knäbäcken 1956 unter großen Protesten abgerissen wurde. Auf den Namen Knäbäckshusen getauft, wurde es originalgetreu weiter südlich wiedererrichtet.
Durch das Dorf gelangen wir zur winzigen Kapelle S:t Nicolai und hinunter an den Rörum Strand. »Willkommen an der Côte d’Azur«, sagt Jean-Luc, der ursprünglich aus Frankreich stammt. »Die Kiefern erinnern extrem an Palmen.« Tatsächlich ragen die windgepeitschten Nadelbäume nahezu bis ans Wasser und schaffen mit ihren schwankenden sattgrünen Kronen ein mediterranes Flair. Wir spazieren ein Stück barfuß durch den Sand. Ein magisches Licht hat den Horizont in einen Schleier gehüllt und lässt Himmel und Meer geheimnisvoll schimmern.
Süße Düfte
Der Südostleden führt weiter in den kleinen Ort Rörum. Mit einer Vollbremsung mache ich halt, als mir ein süßer Crêpes-Geruch in die Nase steigt und rufe Jean-Luc und Justin zurück. Wir stehen vor der Franskans Crêperieaus der der verlockende Duft strömt. »Nicht auszudenken, wenn wir daran vorbeigefahren wären«, sagt Justin. Wenig später lassen wir uns die französischen Pfannkuchen mit Zucker und Zitrone schmecken.
Von Rörum könnte man eine Extratour in den Stenshuvud-Nationalpark unternehmen, der mit seinen drei Gipfeln direkt ins Meer mündet. Jean-Luc, Justin und ich aber entscheiden uns dafür, auf der ursprünglichen Route zu bleiben. Auf einer Allee, die einen weiten Blick über Weiden und Äcker eröffnet, passieren wir das Kunstcenter von Kivik. Eine Apfelplantage reiht sich an die nächste. Dank ihres milden Meeresklimas produziert die Region Österlen 90 Prozent aller schwedischen Äpfel. Das kleine Städtchen Kivik mit seinen engen Gassen und bunten Holzhäuschen ist bekannt für seinen Apfelmarkt, der hier jedes Jahr Ende September stattfindet. In Kiviks Musteri, einer der vielen Mostereien der Region, werden Apfelsaft, Cider und Calvados produziert.
Mit einem süßen Apfelduft in der Nase radeln wir weiter landeinwärts, vorbei an Feldern mit strahlend gelben Sonnenblumen. Auf endlosen welligen Waldstraßen führt uns der Weg in der Dämmerung immer tiefer ins verwunschene Inland. Auf einmal türmen sich hobbitartige mit Gras bewachsene Erdhügel vor uns auf. Wenig später gelangen wir zu einer Ansammlung zwergenhafter Fachwerkhäuser mit Reetdächern. Das Alunbruket Bed&Breakfast, unser Domizil für die heutige Nacht, ist erreicht. Es ist fast dunkel, als wir über die Türschwelle treten.
Zu Gast bei Löwenherz
Alunbruket in Andrarum war Mitte des 17. Jahrhundert eine bedeutende Industrie in Schweden. Kaliumaluminiumsulfat wurde hier gewonnen, um Garn zu färben, Leder zu gerben und Papier zu beschichten. 900 Menschen arbeiteten und lebten in Alunbruket, das eigene Geschäfte, Schulen, ein Gefängnis und sogar eine eigene Währung besaß. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Bruch schließlich stillgelegt. Übrig blieben einige kleine Fachwerkhäuschen und die vielen mit Gras bewachsenen Abbauhügel.
»Es wurden Unmengen an Holz benötigt, um die Feuer im Bruch in Gang zu halten, deshalb wurden im Umkreis von 20 Kilometern alle Bäume gefällt. Zu Zeiten der Alunindustrie war hier alles grau. Nun steht Alunbruket unter Denkmalschutz und die Natur kann sich erholen«, erzählt Johan Carlsson, der die Kaffeestube und das Bed&Breakfastin vierter Generation betreibt. Johans Urgroßmutter Hilde eröffnete das Café 1930 in einer der kleinen Katen. Die Kaffeestube wurde zu einem beliebten Sonntagsausflugsziel. Später richtete die Familie auch ein kleines Bed&Breakfast für Übernachtungsgäste her. »Wir versuchen, die Geschichte zu erhalten, aber auch neuen Einflüssen Raum zu geben. Unseren Kaffee mahlen wir heute selbst aus frischen Bohnen. Wir nutzen lokale ökologische Rohwaren und produzieren Säfte aus Früchten, die sonst aufgrund ihres Aussehens aussortiert worden wären«, sagt Jonas. »Aber noch heute backen wir das Wienerbröd nach Hildes Rezept. Menschen kommen mit ihren Enkeln zu uns und berichten, dass sie die Backwaren meiner Urgroßmutter schon gegessen haben, als sie selbst noch Kinder waren.«
Wir versuchen, die Geschichte zu erhalten, aber auch neuen Einflüssen Raum zu geben.
Es duftet nach frischem Brot, als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage. Nach einem ausgiebigen Frühstück trinken wir Kaffee aus Hildes alten Porzellantassen im sonnigen Garten, in dem Stockrosen blühen. Mein Blick gleitet über die mystische Landschaft, die im Morgenlicht leuchtet. Das Märchen der Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren kommt mir in den Sinn. Die Filmszenen aus dem Kirschblütental Nangijalawurden in den NorraBrösarps Backar gedreht, die wenige Kilometer hinter Alunbruket liegen.Die Zeit scheint hier stillzustehen. »Komm!«, reißt mich Justin aus meinen Kindheitsträumen. »Auf an die Westküste.«
Küstenwechsel
Von Ängelholm geht es heute auf dem Kattegattleden im Westen Skånes knappe 60 Kilometer nach Båstad. Jean-Luc, Justin und ich folgen dem Radwanderweg entlang des Ängelholm Strandes und überqueren den Fluss Rönne. In Skepparkroken ziehen uns kleine bunte Fischerbuden in ihren Bann. Wir machen halt vor einer blauen Holzkate. Eine steife Brise wirbelt das Wasser auf. Der Geruch von Seetang und Meersalz liegt in der Luft. »Wirklich ein bisschen wie die Bretagne!«, schreit Jean-Luc, den ich gegen den Wind kaum verstehen kann. »Und gleichzeitig total anders. Dieses magische Licht und diese besondere Weite. So faszinierend skandinavisch!«.
Der Weg führt uns ins Inland und wir entern die Bjärehalvön mit ihren Feldern und Wiesen. Hier und da steht ein Gehöft, das von alten Steinmauern umgeben ist. Auf der Halbinsel leben die Bauern von Fleisch- und Milchwirtschaft. Kühe und Schafe grasen auf den ausgedehnten Flächen und halten die Landschaft offen. Wir stoppen an einer Koppel und streicheln Pferde, die Justin mit ein paar saftigen Grasbüscheln an den Zaun lockt. Ihre windzerzausten Mähnen erzählen von dem rauen Küstenklima.
Rote Preiselbeeren und grüne Tanten
In Torekov stoßen wir wieder auf die offene See. An der Fischbude im Hafen hat sich eine lange Schlange gebildet. Auch wir reihen uns ein, um gegrillten Hering mit Kartoffelpüree und Preiselbeeren zu ergattern. Mit unserer schmackhaften Beute lassen wir uns am Pier nieder und müssen diese vor ein paar gierigen Möwen verteidigen.
Im Süden türmt sich die Halbinsel Kullaberg mit ihren zerklüfteten Felsen auf. Über schmale, sandige Wege führt der Kattegattleden weiter entlang des Meeres. Justin gerät auf den Sandkörnern derartig ins Schlingern und stößt dabei einen entsetzen Laut aus, sodass Jean-Luc und ich nicht aufhören können, zu kichern. Weiter geht es landeinwärts über kleine Straßen, die sich sanft durch die Felder ziehen.
An der Wasseroberfläche treibend, lassen wir die Erinnerungen an unser Küstenabenteuer Revue passieren.
Bei Hanarp biegen wir ab, um Tant Grön(dt. Tante Grün) einen Besuch abzustatten. Nils Nilsson hat das Delikatessengeschäft mit seiner Frau Anna eröffnet. »Wie alt unser Hof ist, kann ich gar nicht genau sagen, aber er findet sich schon auf Karten von 1821 wieder«, erzählt Nils. »Anna und ich betreiben ihn in siebter Generation. Ende der 90er begannen wir damit, in einem kleinen Hofladen unsere eigenen Himbeeren und ein wenig Gemüse von benachbarten Bauern zu verkaufen. Vor einigen Jahren trafen wir dann auf einer Reise einen Franzosen, der uns bei einem Glas Rotwein von der Idee überzeugte, in unserem Geschäft Käse anzubieten«, schmunzelt Nils.
Heute verkauft das Paar in Tant Grön100 unterschiedliche Käsesorten und andere Spezialitäten aus ganz Europa. »Lokal produzierte Waren machen den größten Teil unseres Sortiments aus. Wir möchten zeigen, dass unsere Region nicht nur während der Sommerzeit hier und da eigene Produkte hervorbringt, sondern dass es das ganze Jahr über Köstlichkeiten von der Bjärehalvön gibt«, sagt Nils. Jean-Luc, Justin und ich lassen uns an dem Tisch vor dem Hofladen nieder und kosten ein selbst gemachtes Früchtesorbet, bevor wir uns auf den letzten Teil unserer Etappe begeben.
Bad in Båstad
Vorbei an Norrviken, einem Gartenmuseum mit sieben unterschiedlichen Themengärten rund um eine herrschaftliche Villa, gelangen wir in das Örtchen Boarp. Von hier eröffnet sich ein spektakulärer Blick über das schimmernde Meer. Im Norden hebt sich Halmstad in die Höhe. Auf endlos steilen Serpentinen geht es abwärts. Der Fahrtwind treibt uns Tränen in die Augen und so verpassen wir in einer Haarnadelkurve beinahe die Abzweigung nach Båstad.
Am Wasser radeln wir hinein in unser Etappenendziel. Das Küstenstädtchen ist in die goldenen Strahlen der untergehenden Sonne getaucht. Das Hotel Skansen, in dem wir heute Abend einkehren werden, steht an der Uferpromenade. Eine Badebrücke führt hinaus zum Kallbadhuset direkt im Kattegatt, in dem es eine Sauna mit Meerblick gibt. Nach einem ausgiebigen Abendessen entspannen wir die von der langen Radtour müden Muskeln im heißen Dampfbad. Zur Abkühlung schwimmen wir ins Meer hinaus. An der Wasseroberfläche treibend, lassen wir die Erinnerungen an unser Küstenabenteuer Revue passieren. Skånes magisches Licht und seine raue und doch so grüne Landschaft mit ihren herzlichen Bewohnern haben uns auf eine eindrucksvolle Reise mitgenommen und uns Material für unendliche schwedische Tagträume geschenkt.