Brennende Berge: Ruska im schwedischen Fjäll
In Finnland pilgert man genau dann ins Fjäll, wenn die Bäume und Büsche sich in den Feuerfarben des Herbstes kleiden. In Schweden dagegen lässt man diese Saison ausfallen. Wir wollen eine Lanze brechen für das Fjäll im Herbst: Nie ist es dort schöner.
Die Luft ist frisch und klar, der Himmel hoch und blau. Und dazu noch ein Feuerwerk an Farben auf dem Waldboden, in den Bäumen. Hört sich alles ziemlich klischeehaft an – aber genau so sieht das Fjäll jetzt, Mitte September, im Nationalpark Stora Sjöfallet aus. Trotz der Farbenpracht sind wir fast allein, jedenfalls fühlt es sich so an. Auf den knapp hundert Kilometern Anfahrt in die Berge haben wir kein Auto überholt und sind auch keinem begegnet. Ganz anders als in jenem Herbst als wir in Finnland waren, um das gleiche Phänomen zu erleben: die Ruska, den »Indian Summer« des Nordens. Es ist schon komisch, dass die jeweiligen Vorlieben je nach Nationalität so total verschieden sein können, obwohl Finnen und Schweden doch Nachbarn sind. Wir Schweden wollen entweder Fjäll oder Meer, der Wald macht uns offenbar ein wenig Angst. Håkan und ich scheinen da eine Ausnahme zu sein. Auch die Urwälder im Fjäll locken zu dieser Jahreszeit kaum jemanden an, nicht einmal zur Zeit der Herbstfarben.
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Was für ein Unterschied zu den Finnen! Während einiger intensiver Herbstwochen pilgern unglaubliche Besuchermengen von Südfinnland nach Finnisch Lappland. Auch junge Leute kommen, um die Herbstfarben zu erleben. Es ist, als ob ganz Finnland nur auf den Herbst gewartet hätte. Die Züge nach Norden sind schnell ausgebucht, wenn in den Nachrichten gemeldet wird, dass die Farben da sind. Zur selben Zeit bereiten sich hier in Schweden die meisten Hütten und Ferienanlagen im Fjäll auf den Saisonabschluss vor. Wir wandern zwischen den knorrigen, verdrehten Kiefern des Altwaldes hindurch und lassen die Baumgrenze hinter uns. Einige Laubbäume und Büsche sind schon kahl, die Sicht ist besser als noch vor ein paar Wochen. Normalerweise sind es die Moore, die zuerst die Farbe wechseln, und jetzt sind manche feuerrot, andere schon braungolden.
Wenn die Stille anders klingt
Unten an der Küste, wo wir wohnen, war der Herbst stürmisch und wir befürchteten schon, dass der Wind hier oben alle Bäume kahl gefegt hätte. Zum Glück war der Herbst aber auch trocken und die Birken stehen mit goldgelbem und leicht orangefarbenem Laub da. Hier und da sticht eine Eberesche oder eine Espe in flammendem Tiefrot aus der Menge hervor. Im Herbst ist die Stille über dem Fjäll eine ganz andere als im Sommer. Die Geräusche, die wir hören, meist Vogelgezwitscher oder plätscherndes Wasser, sind deutlicher zu vernehmen und haben eine größere Reichweite. Sie werden nicht mehr vom Sommergrün gedämpft. Jetzt, wo ein großer Teil der Natur beginnt, sich auf den kommenden Winter einzustellen, gibt es mehr Raum, mehr Weite und man kann auch weiter sehen.
Normalerweise sind es die Moore, die zuerst die Farbe wechseln, und jetzt sind manche feuerrot, andere schon braungolden.
Hier, von der Flanke des Juobmotjåhkkå, haben wir einen perfekten Ausblick über das Tal. Auf der anderen Seite des Wassers, weiter westlich, glitzern die schneebedeckten Gipfel des Sarek und ganz hinten thront Áhkká, die Königin von Stora Sjöfallet. Unter uns auf dem blanken Wasser meinen wir fast, das Touristenboot M/S Langas zu hören, das zwischen Kebnats, Saltoluokta und Sjöfallsbryggan verkehrt. Hätten wir vor hundert Jahren hier gestanden, hätten wir auch das Naturschauspiel gesehen, das dem Nationalpark seinen Namen gab. Stora Sjöfallet – so hießen die mächtigen, wilden Wasserfälle, die einst vom See Suorvajaure in den See Langas hinabstürzten. Jetzt ist davon vergleichsweise nur noch ein Rinnsal übrig. Aus den oberhalb gelegenen Seen hat man Wasserspeicher gemacht, um unsere bequeme Welt mit Elektrizität zu versorgen. Aber noch immer ist die Natur in dem lang gestreckten Tal unglaublich schön. Oben sehen wir viele rauschende Bäche und Wasserfälle, die sich aus großer Höhe an den Berghängen herunter in die Stauseen stürzen.
Farben des Fjälls
Das Zelt ist aufgebaut und am Nachthimmel leuchtet der Vollmond wie ein Scheinwerfer. Die Stirnlampe kann in der Tasche bleiben, als ich für die abendlichen Erledigungen nach draußen gehe. Wie immer spähe ich am Himmel nach dem Nordlicht, aber der Mond scheint so hell, dass man nichts anderes mehr sieht. Mit den Herbstfarben ist es wie mit dem Nordlicht, sie sind die ganze Zeit da, aber es muss noch etwas hinzukommen, damit sie sichtbar werden. Im Sommer wird die Farbenvielfalt der Pflanzen durch die Stärke des Chlorophylls überdeckt, aber wenn es kälter wird, bilden die Blätter ein bestimmtes Farbspektrum aus.
Im Herbst, wenn die Pflanzen sich auf die Winterruhe vorbereiten, brauchen sie ihre gesamte Energie. Kohlehydrate und Chlorophyll werden dann den Blättern entzogen und zu den Knospen, zum Stamm und zu den Wurzeln transportiert, um Wachstumskraft für das nächste Jahr zu liefern. Wenn das Chlorophyll aus den Blättern verschwindet, sieht man die Farben, die vorher verborgen waren. Die Nuancen und die Intensität der herbstlichen Färbung variieren von Jahr zu Jahr. Es sind vor allem Faktoren wie Wärme und Feuchtigkeit, die die Farbentwicklung beeinflussen. Gibt es einen ausgeprägten Wechsel zwischen warmen Tagen und kalten Nächten, sind die Farben intensiver als bei lauen Nachttemperaturen. Ist es feucht oder sogar nass, werden die Blätter nicht richtig bunt, sondern dunkel und bräunlich. Hoch oben im trockenen Fjäll ist die Färbung daher wesentlich stärker als in den feuchten Küstenregionen.
Panoramawanderung
Als wir am nächsten Morgen das Vorzelt öffnen und über die Landschaft schauen, ist die Luft wieder frisch und klar. Der Raureif ist noch nicht weggetaut und Håkan schnappt sich sofort wieder die Kameras. Es dürfte schwer sein, für ein Frühstück einen inspirierenderen Rahmen zu finden, als wir ihn haben. Und wir haben es auch nicht eilig, schließlich sind wir nirgendwohin unterwegs. Wir wollen einfach nur die Herbstfarben genießen. Kein Dunst stört die Sicht. Man hat jetzt das Gefühl, unendlich weit und scharf sehen zu können. Wir wandern, wie wir gerade Lust haben, von Motiv zu Motiv, von Ausblick zu Ausblick. Das Fjäll ist mit der ganzen Palette der Herbstfarben dekoriert sowie mit einigen Nuancen, die noch vom Sommer übrig sind. Die Kontraste sind deutlich, die Kiefern mit ihren dunkelgrünen Kronen und braunen Stämmen haben kräftige Konturen. Hier oben im Fjäll wachsen nicht mehr so viele Bäume, sodass die wenigen, die da sind, umso klarer hervortreten.
Hier und da sticht eine Eberesche oder eine Espe in flammendem Tiefrot aus der Menge hervor.
Bei unserem ruhigen Wandertempo achten wir auch stärker auf kleine Details, einen Auswuchs an einem Baumstamm, die Form eines Felsens. Wir haben Zeit, uns umzuschauen und in aller Ruhe die Umgebung zu betrachten. Und doch sind es vor allem die Bäume und ihre Farben, die ich wahrnehme, während ich mit Håkan gemächlich an der Bergflanke entlang ein Stück nach unten wandere. Er fotografiert auf Hochtouren, inspiriert durch das Naturschauspiel.
Der samische Herbstsommer
Hinter einer Anhöhe kommt uns langsam eine kleine Gruppe grasender Rentiere entgegen. Wir gehen gegen die Windrichtung, wohl deshalb haben sie uns noch nicht bemerkt. Wir bleiben stehen, die Kameras kommen wieder in Anschlag. Einige Rentiere haben sich schon zum Wiederkäuen hingelegt, andere grasen weiter. Sie sehen gesund aus, diese Rentiere. Perfekt vorbereitet auf die Jahreszeit und den kommenden Winter – oder die Schlachtung. Für die samische Urbevölkerung ist jetzt »tjaktjagiesse« (dt. Herbstsommer) – die Jahreszeit, in der die Rentiere bereits Muskeln und Fettschichten aufgebaut haben, sich aber noch vor der Brunftperiode befinden. Bald wird man die Herden zusammentreiben und die männlichen Tiere auswählen, die geschlachtet werden sollen. Das muss vor der Brunft passieren, damit das Fleisch gut schmeckt. Im Anschluss an die Schlachtung beginnt dann der richtige Herbst, »tjaktja« auf Samisch. An manchen Stellen ist das Fjäll dunkel, fast grau-lila, und gibt damit für die intensiven Herbstfarben einen ruhigen Hintergrund ab. Es ist vollkommen verständlich, dass die Finnen eine Wallfahrt unternehmen, um den Herbst und die »Ruska« zu erleben.
In unserem Nachbarland ist das Farbschauspiel sogar Thema in den Nachrichten. Vielleicht könnte es in Schweden bald genauso sein. Denn das mit dem Herbst und der Stille ist wirklich etwas ganz Besonderes. Wir wandern weiter nach Westen, machen lange Pausen, gehen Umwege statt Abkürzungen. Die Straße unten im Tal schlängelt sich wie ein graues Band durch die Landschaft, das nur hier und da sichtbar wird. Das muss Schwedens längste Sackgasse sein, 140 Kilometer von der E45 bis Ritsem. Die ideale Route für alle, die zur Zeit der Herbstfarben eine wunderbar unkomplizierte Wanderung machen wollen.