Nach dem dritten Skitag wendet die MS Anna Rogde ihren Bug nach Norden, in Richtung Senja. Während wir noch bei der Insel Gratangen vor Anker lagen, servierte uns die Köchin Merethe Blumenkohlsuppe und Butterbrote. Einige von uns nahmen ein blitzschnelles Bad in dem vier Grad kühlen Wasser. Danach eine Runde Après-Ski –Beerenschnäpse und Whisky, um die heutige Abfahrt vom Gipfel des Blåfjells zu feiern. Bevor wir in See stechen, werden alle losen Gegenstände–Skischuhe, Steigfelle, Laptops – unter Deck verstaut. Nichts soll herumrutschen oder umkippen, wenn die Kajüte schaukelt.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
Oben an Deck ist schon alles festgezurrt. Der alte Schoner Anna Rogde ist seit 150 Jahren in diesem rauen Fahrwasser unterwegs. Die Mannschaft weiß, dass alles, was nicht befestigt ist, über Bord geht. Jetzt werden wir auf das offene Meer hinausfahren, um das Hafenstädtchen mit dem lustigen Namen Torsken (dt. der Dorsch) anzusteuern. Es liegt auf der Ostseite der Abenteuerinsel, wie Senja hier in Nordnorwegen genannt wird. Senja ist die zweitgrößte Insel Norwegens, von Fjorden zerschnitten und dicht bedeckt mit Berggipfeln.
Während der ersten Tage haben wir uns mehr oder weniger auf See aufgehalten, in den Buchten des Sch.rengürtels von Vesterålen, den die Insel Andøya wie ein mächtiger Pier gegen die Nordsee schützt. Hinter Andøya erstreckt sich das offene Meer bis Grönland. Wenn ein Sturm von Westen kommend über die Inseln fegt, hat er einen ganzen Ozean hinter sich. Deshalb ist es keine leichte Entscheidung, wann man Kurs auf die äußere Küste von Senja nimmt. Erst jetzt, am Nachmittag des dritten Tages, hat der Seegang sich hinreichend beruhigt, meinen Skipper Roy und seine Crew.
Weltältester Schoner auf Fahrt
Schon bevor wir auf das offene Meer hinauskommen, schaukelt es ordentlich. Zwei Meter hohe Wellen rollen von Nordwesten heran. Der Bug hebt sich und fällt auf der anderen Seite schwer herunter, sodass das Deck vom Wasser überspült wird. Roy, Kåre, Salo und die anderen Norweger nehmen es gelassen. Die Anna Rogde ist aus robustem Holz gebaut und wird von dem gemeinnützigen Verein, zu dem die Männer gehören, liebevoll gepflegt. Sie gleicht einem schwimmenden Museum. Der Verein bietet Ausflugsfahrten für Schulklassen im Wechsel mit kommerziellen Touren wie der unseren an. Im Großen und Ganzen ist hier alles aus Massivholz , auch die beiden hohen Masten und ihre Bäume. Insgesamt können neun Segel gehisst werden. Trotz der Takelage fahren wir mit Motor, seit wir den Heimathafen Harstad an der Nordseite von Hinnøya verlassen haben. Calle, einer unserer beiden schwedischen Bergführer, erzählt uns, dass die meisten Leute sich sowieso vor allem für die Berge und das Skifahren interessieren. Um Gipfeltouren unternehmen zu können, bei denen die Schneeverhältnisse genauso sicher sind wie der Fahrspaß, müsste man in ziemlich hohem Tempo zwischen verschiedenen Buchten kreuzen. So wie auch wir das machen.
»Könnten wir zwei Wochen draußen sein, könnten wir uns eher nach dem Wind richten und zu verschiedenen Orten segeln. Aber jetzt haben wir nur fünf Tage zur Verfügung – und ein Terrain mit hoher Lawinengefahr. Deshalb tuckern wir mit Motorkraft«, sagt Calle und wirft einen sehnsüchtigen Blick zu den imposanten Segeln. »Die Crew hat aber versprochen, dass wir die Segel noch ausprobieren dürfen, bevor die Tour zu Ende ist.«
Außer der Crew sind nur Calle und ich noch oben an Deck. Das Après-Ski hatte sich in ein Mikro-Ischgl mit Guns n’ Roses und Jägermeister verwandelt, bis die Müdigkeit ihren Tribut forderte. Jetzt liegen alle zugedeckt in ihren Kojen und schlafen oder lesen. Auch ich würde mich eigentlich gern ausruhen, aber das geht nicht. Wenn ich unten in der Kajüte bin, werde ich seekrank. Das weiß ich seit den Segeltouren meiner Kindheit mit Großvater. Gleichzeitig habe ich seine Liebe zum offenen Meer geerbt. Deshalb stehe ich in meinen Skiklamotten auf dem schwankenden Deck der Anna Rogde. In der Ferne zieht Andøya vorbei. Nach einer Stunde haben wir den Windschutz der Insel verlassen. Die Wellen werden größer. Als wir uns Senja nähern, vergesse ich die Seekrankheit.
Ich glaube, das sind die schönsten Berge, die ich je in meinem Leben gesehen habe.
Ich glaube, das sind die schönsten Berge, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Und morgen werden wir dort Ski fahren. Manche Leute würden die Reise, auf der wir uns befinden, unter Slow Travel einordnen. Sich in einer Landschaft fortzubewegen in einem Rhythmus, der bewirkt, dass man den Alltag hinter sich lassen und die Sinne für neue Eindrücke öffnen kann. Zuerst nahmen wir den Nachtzug von Stockholm nach Narvik. Dann aßen wir Pizza in einem kleinen Einkaufzentrum in der Nähe des Bahnhofs, bevor wir den Bus bestiegen, der uns in das Küstenstädtchen Harstad brachte. An Bord der Anna Rogde wurde unsere Gruppe, neun Skifahrer und zwei Bergführer, auf fünf kleine Kabinen mit in die Wände eingebauten Stockbetten verteilt. In der Abenddämmerung erreichten wir das kleine Dorf Dale auf Grytøya. Da waren wir schon 24 Stunden unterwegs – und hatten noch nicht einmal die Skischuhe ausgepackt.
Beim Abendessen hatten Calle und sein nor- wegischer Kollege Mikal erzählt, wie sie sich vor zehn Jahren kennenlernten, als sie beim Helikopterski jobbten. »Das ist schon komisch, weil wir beide inzwischen gegen Helikopter- ski sind«, sagte Calle und grinste. Er ist in der schwedischen Ski-Szene bekannt als der Guide, der als Erster per Zug in den Skiurlaub fuhr, aus Umweltgründen. Mikal arbeitet meist auf Lyngen in Nordnorwegen, wo er wohnt.
Wir sind neun Teilnehmer. Ulf ist mit drei Nachbarn aus Stockholm angereist: Anders, Håkan und Johan. Außerdem Linus und Markus aus der Segelcrew. Christopher, Tommy und ich reisen allein. Christopher berichtet, dass er sich auf jeder Steigung mit Fellen unter den Skiern sicher fühlt, aber eher unsicher, wenn es bergab geht. Bei Tommy ist es umgekehrt. Er hat im Laufe der Jahre so gut wie alle Tiefschneedestinationen abgehakt und teilt auch nicht Calles und Mikals Abneigung gegen das Erreichen der Gipfel per Helikopter ganz im Gegenteil. »Mit Steigfellen auf die Berge zu klettern, betrachte ich als notwendi- ges Übel«, sagt er mit grimmigem Lächeln.
Tiefschnee mit Meerkulisse
Der Anmarsch beginnt in einem Dorf mit zehn Häusern. Wir umrunden große Schafkoppeln und fahren über verschneite Äcker. Mikals Führung beginnt schon im Dorf. »Leute, die Gipfeltouren machen, vergessen oft, dass hier Menschen wohnen«, sagt er. »Manche parken ihre Autos einfach irgendwo, pinkeln in den Schnee und fahren quer durch die Gärten. Doch wir sind hier nur zu Gast, das dürfen wir nicht vergessen.« Dann kommen wir in den Birkenwald. Auf steileren Abschnitten bewegt sich Mikal im Zickzack nach oben, sodass wir mit einer Steigung von 12 Grad gehen. »Berg- auf ist das der optimale Winkel, dann ist man nicht gleich erschöpft. So können wir uns den ganzen Weg bis zum Gipfel ausruhen.«
Manche pinkeln in den Schnee und fahren quer durch die Gärten.
Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich ausgeruht fühle, als wir kurz vor dem Gipfel eine Kaffeepause machen. Der Körper ist die Bewegung nicht gewohnt, es braucht Zeit und Energie, die Balance und die richtige Schrittlänge zu finden. Oberhalb der Baumgrenze fegt ein eisiger Wind über das Gebirge. Trotzdem: Als wir die Steigfelle abgenommen und Bindungen und Skischuhe auf die Abfahrt eingestellt haben, fühlt es sich gut an. Die Aussicht auf die schneeweiße Inselwelt von Vesterålen mit dem tiefblauen Meer ist schwindelerregend. Und noch besser fühlt es sich an, als wir unten im Wald ankommen. Hier ist der Schnee nicht vom Wind zusam- mengedrückt, sondern fluffig. Die Birken stehen licht, man kann frei schwingen.
Wir versammeln uns unten im Tal und trinken die zweite Tasse Kaffee. Die Anspannung, die seit dem Morgen in der Luft gelegen hatte, ist verschwunden. Wir schaffen noch eine Tour bergauf bis zur Baumgrenze, bevor es Zeit ist, auf die Anna Rogde zurückzukehren. Während wir eine Kleinigkeit essen, macht die Besatzung die Leinen los und nimmt Kurs auf die näher am Festland gelegene Insel Andørja, wo es einen hinreichend großen und geschützten Landungssteg gibt.
Calle und Mikal diskutieren über Lawinen- prognosen und das Wetter. Sie sagen, es sei schwierig, sich für Routen zu entscheiden. Aber sie wollen es mit der nahe gelegenen Insel Gratangen versuchen. Dort kann die Anna Rogde nicht anlegen, sondern muss ein paar hundert Meter vom Land entfernt ankern.
Wir steigen auf ein Schlauchboot um und Salo fährt uns zum Strand. Auch hier beginnt der Aufstieg in einem kleinen Dorf. Bald sind wir im Birkenwald, aber anders als in dem lichten Wäldchen gestern wird es hier dichter und dichter. Wir schlängeln uns zwischen den Bäumen voran und ein paar in der Reihe fan- gen an zu murren. Schließlich haben wir die Baumgrenze überquert und setzen uns für eine Kaffeepause in den Schutz eines Felsblocks. Näher am Gipfel ist der Schnee weggeweht, wir müssen Harscheisen montieren, um Halt zu finden. »Ich hätte nie gedacht, dass wir die brauchen«, sagt Håkan zufrieden. »Das fühlt sich ja wirklich brutal männlich an.«
Im Inneren beruhigt sich etwas und ich werde auf angenehme Weise demütig.
Als wir in Harstad an Bord gingen und ich merkte, dass wir mehr als 15 Männer und nur eine Frau – die Köchin Merethe – sein würden, hatte ich gedacht: Das kann ja was werden. Manchmal genügen schon zwei Idioten, damit Gruppendruck, Hierarchien und eingefahrene Verhaltensmuster aus Männern einen anstrengenden Haufen machen. Aber in unserer Gruppe passiert das nicht. Auch wenn die Stimmung zwischendurch mal ganz schön machomäßig ist, bleibt sie fair und positiv – und manierlich. Merethe wird nach jeder Mahlzeit derart mit Dank überschüttet, dass sie vermutlich denkt, wir Schweden könnten uns nor- malerweise so große Portionen nicht leisten. Die Abfahrt ist nicht gerade traumhaft, abwechselnd Eisglätte und pappiger Schnee, aber so ist das ab und zu bei Gipfeltouren.
Magie der Gipfel und Felswände
Wir nähern uns Senja. Tatsächlich habe ich, während wir unterwegs waren, die ganze Zeit an Deck gestanden. Ich mag es, dort zu weilen und mit Kåre zu reden, der für die Motoren zuständig ist und für den die Arbeit auf dem Schiff der Weg zurück ins Leben nach einer großen Krise war. Und mit Salo, der als Jugendlicher vom Gymnasium abging, um Seemann zu werden. Calle und Mikal sind auch oft an Deck, wir diskutieren über das Klima und das Skifahren. Aber manchmal verstummt das Gespräch und wir schauen auf die mächtigen Klippen von Senja. Der Blick wandert über Bergkämme und Gipfel, über die vereisten Felswände, verschneite Hänge, knorrige Fjellbirken. Im Inneren beruhigt sich etwas und ich werde auf angenehme Weise demütig.
Am nächsten Morgen fahren wir mit dem Schlauchboot über den Fjord bis zum Berg Storkeipen und beginnen den Aufstieg. In der Ferne sehen wir wellige Berge, die an Lappland erinnern. Direkt vor uns sind sie steil und dramatisch und unten erstreckt sich ein kleiner Fjord. Wir schauen auf das Meer. Da draußen liegt Svalbard, 1 000 Kilometer in nördlicher Richtung. Diesmal findet Mikal für unsere kleine Gruppe ein paar schöne Strecken mit Pulverschnee. Am nächsten Tag gehen wir auf den Store Salberget. Dann ist es Zeit für die Heimfahrt – und die versprochene Segeltour.
Salo teilt uns in Teams ein, vier Personen pro Segel. Zwei hissen und zwei holen das Seil ein. Segel um Segel füllt sich mit Wind. Wir haben Südwind, Stärke sechs, und fahren mit sieben Knoten. Für Tommy und Markus, begeisterte Segler, ist dies der schönste Moment der Reise. »Interessant, wie so ein großer Schoner auf verschiedene Manöver reagiert«, sagt Markus, während der Rest der Gruppe sich zum Après- Ski des Tages in die Kajüte verkrümelt.
Was nimmt man von so einer Reise mit außer den Eindrücken von der Natur, dem Bordleben und den Skitouren? Ich frage in der Gruppe ein bisschen herum. Johan plant mit seiner Frau eine Weltumsegelung, er hat besonders gern Salos Erzählungen vom Leben auf See zugehört. Aber Calle hat andere Gedanken. »Kummer macht mir, wie verdammt viel Diesel wir in fünf Tagen verbraucht haben«, sagt er. Darüber habe ich auch schon nachgegrübelt. Einerseits war es viel Diesel, andererseits haben wir ein robustes altes Schiff benutzt.
Wir setzen uns für eine Kaffeepause in den Schutz eine Felsblocks.
Man stelle sich vor, heutige Schiffe würden gebaut, um 150 Jahre zu halten – aus Holz. Und ein weiterer Aspekt: Calle und Mikal haben auf ihre Art mehrere Gespräche über Nachhaltig- keit und Umweltschutz angestoßen. Eine ein- zigartige Natur aus der Nähe zu erleben, kann auch ein Weg zu größerem Engagement sein. Wer dieses Gefühl vielleicht am besten formuliert, ist Christopher. Er ist Pfarrer in Stock- holm. Ulf hat ihn gefragt, ob er die Reise mit einer Andacht beschließen wolle.
Als wir kurz vor Sonnenuntergang im Heimathafen anlegen, versammeln wir uns an Deck. Christopher liest aus dem Lukasevangelium vor. Davon, wie Jesus den Fischern zu einem größeren Fang verhilft, indem er sie in tiefere Gewässer schickt, wo sie normalerweise ihre Netze nicht auswerfen. In seiner kurzen Predigt erklärt Christopher, man könne dies so deuten: »Wenn wir uns auf neue Wege wagen, können sich die Tiefen unseres Inneren öffnen.« Ich stimme ihm zu. Vielleicht haben auch wir auf dieser Reise in den tiefen Gewässern vor Senja ein paar Fische gefangen.
Segeln & Ski
Die Anna Rodge fährt keine regulären Touren nach Senja, kann aber von einer Gruppe für Segel- und Skitouren gechartert werden. Mehrere Bergguides wie Calle, aber auch Reiseunternehmen bieten Trips nach Senja, Vesterålen und die Lofoten an. Nicht nur mit dem Boot, auch auf dem Landweg ist die Anreise möglich. visitnorway.com