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Schnee von gestern?

Schnee ist wegen des Klimawandels keine Selbstverständlichkeit mehr. Im Fjellgebiet Pallas in Finnisch Lappland hat Heidi Kalmari den Naturerlebnissen nachgespürt, die einen erwarten, wenn man die sensible winterliche Landschaft mit wachsamen Augen betrachtet.

Der vom Wind verwehte Schnee verfängt sich in meiner Mütze. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu. Es ist März und der Höhenzug Pallastunturi, auf dem wir uns befinden, erstrahlt unter den Wolken des Winterhimmels in weißer Pracht. Schnee gehört zu einem finnischen Winterausflug wie das Amen in der Kirche. Mit besorgtem Blick auf den Klimawandel könnte sich diese Selbstverständlichkeit, mit der wir Finnen den Schnee betrachten, jedoch schnell ändern. Mit der Klimaerwärmung verschiebt sich auch in Finnland die Schneegrenze stetig weiter nach oben. Immer öfter ist der Winter nicht weiß, sondern dunkel und feucht. Regen und Stürme nehmen zu, Temperaturen sind unbeständig. Erst, wenn etwas droht zu verschwinden, merkt man, was man daran hat

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Erst wenn etwas droht zu verschwinden, merkt man, was man daran hat.

Gemeinsam mit dem Bergführer Juuso Holstein habe ich mich auf die Bergkette Pallastunturi in Finnisch Lappland begeben, um zu begreifen, was der Schnee nicht nur für uns Menschen, sondern auch für die Tier- und Pflanzenwelt an Wert und Bedeutung hat. Juuso ist seit sieben Jahren beruflich im Fjell unterwegs, unter anderem als Lehrer und Guide für die örtliche Skischule. Im Jahr 2019 startete er zusammen mit seinem Freund und Snowboarder Esko Liukas das Projekt 12 Monate im Schnee und lud monatlich ein neues Skivideo ins Netz, wohlgemerkt auf Naturschnee fahrend. Selbst im Juli wurden sie in Pyhäkuru hier im Pallastunturi fündig. Noch.

Schnee ist nicht gleich Schnee

Wie bei den Inuit gibt es im Finnischen Dutzende Wörter für Schnee. Nur ein paar Skilängen den Gipfel hinab und wir sehen, warum: Schnee kann nass sein, weich oder trocken und hart oder nach feuchtem Wetter löchrig oder verweht. Hier im Pallas-Yllästunturi-Nationalpark gibt es von allem etwas. Die Hänge des Fjells lassen sich am besten mit speziellen Fjellski befahren. Sie sind etwas breiter als klassische Langlaufski und kommen sowohl bei Abfahrten im Pulverschnee als auch auf ebenem Gelände gut zurecht. Dank ihrer scharfen Kanten meistern sie auch vereistes oder steiles Gelände.

Pallas ist eines der ältesten Skigebiete Finnlands, hat aber als Nationalpark vergleichsweise wenige Skilifts zu bieten. Hier fühlen sich vor allem diejenigen wohl, die lange Ski- oder Wandertouren in der Ruhe der Natur genießen. In den letzten Jahren hat das Gebiet vor allem unter Freeridern und Snowkitern an Beliebtheit gewonnen, die das offene und weite Gelände schätzen. Doch bei Touren abseits der Pisten ist neben einer gewissen Sachkenntnis auch Vorsicht angesagt. Zwar stellen Lawinen schon immer eine Gefahr dar, doch gibt es heute mehr davon als früher.

Juuso ist nicht nur Guide sondern auch ausgebildeter Lawinentechniker. Er kann also das Lawinenrisiko vorhersagen. Hierfür verfolgt und bewertet er die Witterungsbedingungen und die Beschaffenheit des Schnees. Als wir auf der Bergspitze stehen, prüft Juuso die weiße Decke am Hang, indem er sie mit seinem Ski zerstampft. Außen hat sich eine fünf Millimeter dicke Eisschicht gebildet. Unter der durch die Feuchtigkeit verdichteten Ober- fläche liegt sanfter Neuschnee vom Vorabend. Hart wird Schnee unter anderem durch Wind, Frost und Luftfeuchtigkeit.

»Neue Schneeflocken haben viele scharfe Zacken. Doch wenn der Wind die Kristalle auf dem Hang herumwirbelt, verlieren sie ihre Zacken und werden rund. Die runden Kristalle verdichten sich leichter mit anderen«, erläutert Juuso. Für Langlauf eignet sich harter, aber etwas nachgiebiger Schnee am besten, während eine solche Oberfläche bei Abfahrten Erfahrung und Technik erfordert.

Wir machen halt am Taivaskero, dem höchsten Berg der Fjellkette, dessen Hang inmitten von fünf Fjells gelegen Richtung Süden verläuft. Das Gebiet zählt außerdem sechs weitere Gipfel: den Laukukero, Pyhäkero, Lehmäkero, Palkaskero, Orotuskero und den Pallaskero. Juuso erklärt, dass wir uns gerade im Vatikuru-Tal befinden, wo der Schnee zur Hälfte windgeschützt liegt. »Der Wind bläst von dort über den Grat und reicht noch ein wenig weiter, ungefähr bis hier herunter. Aber 200 Meter weiter unten kommt kein Wind mehr an. Dadurch sammelt sich dort dann der Schnee in riesigen Haufen. Die perfekte Witterung zum Skifahren und Wandern ist ein leichter Wind, der die Oberfläche konstant frei fegt. Bei starkem Wind und Schneefall fällt das Vorankommen schwerer«, sagt Juuso.

Wie bei den Inuit gibt es im Finnischen Dutzende Wörter für Schnee.

Wir setzen unsere Tour auf den Taivaskero-Gipfel fort. In der dahinter gelegenen Pyhäkuru- Schlucht hat es im Winter 2021 außergewöhnlich viele Lawinen gegeben, wie fast überall in jener Saison in Lappland. Das Lawinenrisiko steigt mit dem fortschreitenden Klimawandel, denn bei unstetigen Temperaturen um den Gefrierpunkt wechseln sich Schneeschmelze und Vereisung ab. Ein instabiler Schneedeckenaufbau ist anfälliger für Lawinen. Gleichzeitig ist die Zahl der Skifahrer und anderer Outdoor-Sportler gestiegen. Auch das erhöht das Risiko für Lawinen, denn meistens wird die Schneedecke durch Menschen, ob per Ski oder Motorschlitten, losgelöst.

Kunstwerke aus eisigen Flocken

Juuso holt seine Schaufel hervor und veranschaulicht das Problem. Die Schneeoberfläche am Hang ist hart und gebunden, jedoch folgt unmittelbar darunter der sogenannte Zuckerschnee, eine Art bindungsloser Tiefenreif. Diese Schicht ist etwa 30 Zentimeter dick und unter ihr liegt wieder eine Eisschicht. »Wenn die Temperaturen so schnell hoch und runter gehen, entstehen solche Schneeschichten. Wenn eine lose Schicht einbricht und der Schnee an der Neigung keinen Halt mehr hat, löst sich eine Lawine. Dann wird die Fläche darunter für den Schnee quasi zum Schlitten.«

Juuso prüft den Schnee, der Aufschluss über die Witterung gibt.

Touristen über die vorherrschenden Schneebedingungen zu informieren, wird zu einem immer wichtigeren Service im Pallas-Yllästunturi-Nationalpark. Im Foyer des Hotels Pallas hängt eine Karte des Fjells, auf der stets aktuelle Informationen über die jeweilige Schneelage angezeigt werden. Eine Smartphone-App, über die man sich aktuelle Schnee- und Wetterdaten zu den verschiedenen Parkbereichen ausgeben lassen kann, ist gerade in Entwicklung. »Wir veröffentlichen außerdem zwei Schneeberichte pro Woche. Darin steht dann, wie die Lage in den nächsten Tagen aussehen soll«, so Juuso.

In der Palkaskuru-Schlucht bestaunen wir die mächtigen Höhlen im Schnee.

Vom Taivaskero geht es für uns bei starkem Gegenwind den Hang hinunter. Wir fühlen uns wie Polarforscher in der Arktis, aber schnell öffnet sich die Wolkendecke und wir bewundern den Schnee als gigantisches Kunstwerk. Die weiße Decke sieht aus wie eine riesige Baisertorte, verziert mit vom Wind gezeichneten Linien und Wellen und gespickt mit zahlreichen Minibergen aus angehäuftem Schnee. Hier und da passieren wir weiße Statuen, wo sich der Schnee an den Routenmarkierungen zu lustigen Figuren formiert hat.

Weiter geht es abwärts in Richtung Palkaskuru. Der Schnee am Hang ist perfekt weich. Vereinzelt sind schon wieder Bäume zu sehen und weiter unten finden wir Spuren eines Baches. Im Sommer soll hier eine beeindruckende Moorlandschaft liegen, in der Juuso regelmäßig Moltebeeren pflückt. In
der Palkaskuru-Schlucht bestaunen wir die mächtigen Höhlen im Schnee. Schneehöhlen dienen als Vorrichtungen, die Tiere wie das Moorschneehuhn für sich und ihre Brut bauen. Schnee ist für viele Tiere des Nordens wie das Wiesel, den Luchs oder den Hasen überlebenswichtig. Die Schneedecke bietet nicht nur Schutz vor Wind und Frost, sondern auch ein gutes Versteck. Schneehöhlen sind auch für Robben unentbehrlich, die unter der Schneedecke ihre Jungen gebären.

Bei den großen Höhlen vor uns handelt es sich jedoch nicht um von Tieren gebaute Rückzugsorte, sondern um prächtige Schneeformationen mit Wirbeln und Dächern, die entstehen, wenn der Wind den angehäuften Schnee nach und nach gegen die Wand einer Bodensenke drückt. »Man kann sich vorstellen, wie die Landschaft hier im Sommer aussieht. Das Gelände gibt vor, wo sich der Schnee anhäuft«, erklärt Juuso.

Der Himmel zieht sich zu und verwandelt die Fläche in eine mystische Mondlandschaft, nur um sie im nächsten Moment in der Sonne glitzern zu lassen.

Zur Schneeschmelze im Frühjahr kommen die unter der Schneedecke verborgenen Pflanzen zum Vorschein. Viele Gewächse wie der Gletscher-Hahnenfuß oder das Dreigriffelige Hornkraut brauchen Schnee, um zu gedeihen. Er ist ein wichtiges Element in der Überlebensstrategie der Fjellflora, denn die Pflan- zen sind es gewohnt, einen Teil des Jahres bedeckt zu sein. Die Schneedecke schützt sie im Winter und versorgt sie beim Schmelzen mit ausreichend Wasser und Feuchtigkeit.

Wenn sich die Schneeverhältnisse verändern, sind viele Pflanzen im Fjell bedroht. Messungen an verschiedenen Wetterstationen in Nordeuropa belegen einen eindeutigen Wandel: Die jährliche Schneeperiode hat sich in den letzten vier Jahrzehnten mancherorts um drei Wochen verkürzt. Alle zehn Jahre gibt es also eine knappe Woche weniger Schnee. Pflanzenökologe Pekka Niittynen ist sich sicher, dass nicht alle Pflanzen und Tierarten die anstehenden Veränderungen überleben werden. Mit dem Ausbleiben von Schnee verschwindet auch die natürliche Vielfalt.

In der Obhut des Waldes

Zwischen dem Pallaskero und Palkaskero liegt eine klare Quelle, nahezu versteckt zwischen den umgebenden Schneedünen. »Ein alter Volksglaube besagt, dass auf ihrem Grund eine Tür zum Jenseits liegt. Es heißt, dass Kobolde sie nutzen, um zwischen den Welten zu reisen«, sagt Juuso. Wir betrachten noch eine Weile das fast türkis aus der Quelle sprudelnde Wasser. Nach einer Rast tauschen wir unsere Fjellski gegen Kurzskier ein, eine Mischung aus Langlaufski und Schneeschuh, die am Schuh befestigt werden. Das Kunstfaserfell unter dem Ski verleiht beim Aufstieg Haftung. Mit Kurzskiern können kleine Abfahrten genommen werden. Für steile Hänge sind sie aber nicht geeignet, ebenso wenig für bergiges Gelände. Im Tiefschnee und im Flachen sind sie dafür eine große Hilfe.

Die Schneegegebenheiten können bereits auf einer kurzen Tour sehr unter- schiedlich ausfallen. Aufgrund der wärmeren Temperaturen ist eine zuverlässig dicke Schneedecke auch im tiefsten Winter bei Weitem nicht mehr gewiss.

Wir steuern ein nahe gelegenes Wäldchen an. Mitten durch den Schnee verläuft ein kleiner Bach. Die Akustik im Wald ist eine andere als im Fjell. Es ist still. Fast so, dass man den Schnee schmelzen hören könnte. Juuso macht mich auf die Spuren im Schnee aufmerksam: Hier war ein Hase unterwegs dort hinten ein Moorschneehuhn. Auch Tiere lieben feste Schneedecken, weil sie sich darauf so mühelos fortbewegen können.

Die Beschäftigung mit Schnee ist nicht nur ein Vergnügen, sondern vor anstehenden Ski- oder Wandertouren auch sinnvoll. Wer die verschiedenen Beschaffenheiten kennt, findet leicht die passende Route und Ausrüstung. Insbesondere heutzutage, wo das Wetter schneller umschlagen kann als früher, sollte man den Schnee und das Gelände gut lesen können. Falls plötzlich ein düsteres Schnee- gestöber einsetzt, ist es gut zu wissen, wie man aus Schnee eine kleine Hütte baut. In igluartigen Unterschlüpfen kann die Temperatur auf dem Gefrierpunkt gehalten werden, während sie im Freien in den zweistelligen Minusbereich sinkt.

Am Bach entlang geht es noch ein Stück weiter den Berg hinauf. Im kleinen Zickzack stapfen wir in Richtung Gipfel, bevor wir zwischen den Bäumen die kurzen Abhänge hinuntersausen. Am meisten mag Juuso am Schnee, dass er die Natur auf ganz andere Weise zugänglich macht. »Wenn es geschneit hat, stehen einem auf einmal alle Wege offen.«

Mit dem Ausbleiben von Schnee verschwindet auch die natürliche Vielfalt.

Schnee ist wesentlicher Bestandteil der Natur und des Jahreskreislaufs, sowohl für uns Menschen als auch die uns umgebende Flora und Fauna. Wer die Welt rein aus Sicht des Schnees betrachtet, den erwarten neue Einblicke und großartige Erlebnisse, die es gilt, auch für kommende Generationen so lange wie nur irgend möglich zu wahren.

Tourenski in Pallas

Tourenskifahren wird auch in Finnland immer populärer. Hierzu bedarf es sogenannter Steigfelle, die unter Alpin-, Fjell- oder Langlaufskiern befestigt werden und den Aufstieg ohne Skilift erleichtern. Viele touristische Zentren in Lappland bieten Kurse und geführte Skitouren an. Aufstieg und Abfahrt mit Steigfellen sind zum Schutz der Natur nur auf den hierfür ausgewiesenen Strecken innerhalb der Öffnungszeiten erlaubt. 

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