Es ist vier Uhr morgens, als mein Wecker klingelt. Ich habe kaum geschlafen, war einfach zu nervös. In zwei Stunden beginnt mein erster Ultra-Marathon. 53 Kilometer liegen vor mir. Sofort bin ich hellwach, und unzählige Gedanken schießen mir durch den Kopf. Ich versuche, mir Mut zuzusprechen: Das wird heute großartig. Ganz sicher. Es ist Anfang September. Seit dem Halbmarathon vor zwei Monaten bin ich zehnmal gelaufen. Vier dieser Läufe waren länger als 20 Kilometer, der längste erstreckte sich über 32 Kilometer. Mehr war nicht möglich. Ob das Training ausgereicht hat, wird sich noch zeigen.
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Laufen auf den Färöer-Inseln
Der 53 Kilometer lange Lauf findet Anfang September statt. Auch kürzere Distanzen von 42, 21 und 10 Kilometern sind möglich. Zudem gibt es ein Rahmenprogramm mit Filmvorführungen und Partys. Daten für 2025 stehen noch nicht fest. atjanwildislands.com
Mein Freund Patric klopft an die Tür. Der Faroe Ultra Trail ist zwar ein Einzelwettbewerb, aber wir haben beschlossen, den Tag gemeinsam zu bestreiten. Wir verlassen das Hotel und schleichen durch das nächtliche Tórshavn, die Hauptstadt der Färöer. Ein Bus bringt uns zum Start ins Dorf Leynar. Dort gehen wir zum Strand. Jemand hat ein Feld in den Sand gemalt – das muss die Startlinie sein. Aus Lautsprechern ertönt Musik. Zehn Minuten nach der geplanten Startzeit gibt Renndirektorin Sarah Pritchard ein kurzes Briefing. Ich verstehe fast nichts – das Rauschen der Wellen ist zu laut. Dann fällt der Startschuss. Gänsehaut. Es geht los.
Direkt schon nasse Füsse
Sofort geht es bergauf, kurz hinauf zur Hauptstraße, der wir für ein kleines Stück folgen, bevor unser Weg nach links abzweigt und einen kleinen See halb umrundet. Das Feld ist noch relativ nah beisammen, aber das spielt eigentlich keine Rolle. Wir wollen nur ankommen, Spaß haben und die Färöer genießen – 18 vulkanische Inseln im Nordatlantik, 450 Kilometer entfernt von Island. Es gibt keine Wälder auf den Eilanden, nur Grasland, Moore und Heide. Die Vogelwelt ist dafür umso reicher – die Färöer-Inseln sind ein Paradies für Vogelbeobachter, besonders wegen der riesigen Papageitaucher- und Basstölpelkolonien.
Keine 15 Minuten später erreichen wir das erste Highlight unseres Laufs: Weltweit wohl einzigartig gibt es beim Faroe Ultra einen Verpflegungspunkt mit Michelin-Stern. Vor dem Restaurant Koks, einem der renommiertesten Speisetempel Skandinaviens, stehen Schnapsgläser mit Holunderblütensaft bereit. Dazu werden weiße Rüben mit geräucherter Rogen- Creme und frischen Kräutern gereicht. Das gibt weder Energie noch macht es satt, aber es fühlt sich ziemlich luxuriös an.
Jemand hat ein Feld in den Sand gemalt. Das ist wohl die Starterbox.
Keine 200 Meter weiter holt uns die Realität ein: Ein kreuzender Fluss, ohne Brücke oder Steine zum Hinüberhüpfen, lässt Schuhe, Socken und Füße nass werden. Und das schon bei Kilometer drei. Dann geht es hinauf in die Wolken. Vor uns liegen 3500 Höhenmeter – bergauf und wieder hinab – denn das Ziel liegt auf demselben Niveau wie der Start. Noch hängen die Wolken knapp über uns, und Patric und ich folgen der lockeren Reihe von Läufern vor uns in die graue Suppe. Das subpolare maritime Klima sorgt auf den Färöern für milde Winter und kühle Sommer. Das Wetter ist oft wechselhaft mit häufigem Niederschlag. Dank des Golfstroms bleibt es auf den Inseln jedoch weitgehend frostfrei.
Digitale Motivation
Während ich in Norwegen wohne, lebt Patric in Süddeutschland. Nicht ein einziges Mal konnten wir zusammen trainieren. Wir wollten beide schon lange einen Ultra-Marathon laufen, und als das Rennen auf den Färöern angekündigt wurde, war es schnell beschlossen. Unsere gegenseitige Kontrolle und Motivation lief nur über die Screenshots unserer Lauf-App-Erfolge. Aber es scheint zu passen. Wir laufen in unserem Tempo, für keinen von uns ist es zu schnell oder zu langsam. Mal ist Patric vorn, mal bin ich es.
Bei Kilometer 9,5 erreichen wir in Myranar den ersten echten Verpflegungsstopp. Drei junge Pfadfinderinnen halten Schüsseln mit geschnittenem Obst bereit, hinter ihnen stehen zwei große Wasserkanister. Ich verdrücke zusätzlich ein Gel und ein paar Cracker. Alle zehn Kilometer, so habe ich mir vorgenommen, will ich etwas gegen Hunger, Dehydrierung und Krämpfe tun – und alles andere, was einem noch auf so einem Lauf passieren kann.
Kurz vor der Banane, die ich mir als Snack einverleibe, lichtet sich der Nebel. Der Blick reicht über eine beruhigende Landschaft: sanft gewellte Hochebenen, ein größerer Hügel mit einem Wolkenkranz unterhalb seines Gipfels. Die Natur auf den Färöern ist rau und vielerorts unberührt. Dramatische Klippen wechseln sich ab mit grünen Wiesen und tiefen Fjorden. Auf den Inseln ist kein Punkt weiter als fünf Kilometer vom Meer entfernt. Es ist ganz still. Der Wind könnte heulen oder Regentropfen könnten auf unsere Kapuzen trommeln. Doch es ist ein ungewöhnlich ruhier Herbsttag. Selbst die großen Windräder, die aus dem Nebel ragen, rühren sich nicht.
Allmählich schwindet die anfängliche Euphorie. Es wird zäher. Die Route gewinnt an Höhe, wir laufen auf einen Grat zu, aber plötzlich zweigen die Markierungen scharf links ab. Hinunter in eine tiefe Senke. Und von dort wieder auf den Grat, nur ein kleines Stück weiter hinten. »Reine Schikane, damit wir am Ende auf die Höhenmeter kommen«, mache ich mir bei Patric Luft. Aber beschweren hilft nichts, und eine halbe Stunde später haben wir das unnötige Hindernis überwunden. Der Himmel und das Meer zu unserer Linken strahlen tiefblau, die Wolken verstopfen weit entfernt Fjorde und Täler. Die Sicht auf das Hinterland der Färöer, mit seinen vielen weidenden Schafen, das man sonst kaum zu sehen bekommt, ist atemberaubend. Zu viele Insel-Highlights liegen normalerweise direkt in Straßennähe, da erklimmt selten jemand die Berge und schaut sich an, was dahinter liegt.
Weltweit einmalig gibt es Michelinstern gekrönte, kulinarische Verpflegung.
Die nächste Stunde geht es stetig schräg voran, nirgendwo kann man beide Füße in normalem Winkel nebeneinanderstellen. Die Kilometer ziehen sich zäh wie Kaugummi dahin. Irgendwann ändern wir abrupt die Laufrichtung, queren einen Fluss, von Stein zu Stein. Die Füße sind gerade so schön warm, nun werden sie wieder nass. Auf einem kleinen Bergsattel entdecken wir ein Holzhäuschen. Ein paar Pferde grasen davor und immer wieder verschwinden Läufer darin, um kurz darauf einen Steilhang hinter dem Gebäude zu erklimmen. Die Holzhütte hier oben wird von Schäfern genutzt, wenn sie im Herbst ihre Tiere zusammentreiben. Gestern haben ein paar Freiwillige Kekse und Fliederbeersaft heraufgetragen, den sie uns nun aufgewärmt und reichlich gezuckert anbieten. »Ich glaube, hier gefällt es mir gerade besser als im Koks«, höre ich jemanden sagen.
»Wir müssen uns etwas beeilen«, meint Patric. »Denk an die Cut-off-Zeit in Saksun bei Kilometer 48«. Ich versuche zu rechnen. Es sind noch 13 Kilometer, und wir haben noch zweieinhalb Stunden Zeit. »Wenn wir pro Kilometer nicht mehr als 10 Minuten brauchen, sind wir sicher«, rechne ich. »Das sollten wir wohl schaffen.« Doch es kommt anders. Das Gelände klebt an unseren Schuhsohlen, es ist der härteste Teil der Strecke. Ich versuche, vor Patric zu eilen, um ihn zu motivieren, oder schnell hinterher zu rennen, wenn er vorn ist, um uns beide anzustacheln, aber es geht einfach nicht voran.
Wir folgen der Gruppe aus Läufern hinein in die graue Nebelsuppe.
Es gibt wenig laufbare Abschnitte, die Knöchel pochen, immer wieder müssen wir in Gräben absteigen, die die Hänge durchziehen. Kaum ein Kilometer vergeht schneller als in 12 Minuten. Das zerrt an den Nerven. Bei Kilometer 41 beginnt der Abstieg, den wir uns lange herbeigesehnt haben. Hinab ans Meer. Dort liegt, nach fünf atemberaubend schönen Kilometern auf Gras, mit seilgesicherten Passagen an Steilwänden und auf schwarzem Sand sowie rund 2.000 ätzenden Metern auf Asphalt, endlich der Checkpoint vor uns.
Schimpfen und freuen
Wir haben es geschafft, 20 Minuten vor dem Zeitlimit. Patric ist platt, ich hatte vor fünf Kilometern eine Pause mit den Worten »Komm, den Riegel essen wir gleich in Saksun« verhindert und habe jetzt ein schlechtes Gewissen. Zum Glück gibt es einen großen Tisch voller selbstgebackenem Kuchen. Aber auch zwei schlechte Nachrichten: Erstens: Die Cola ist nur für die Kinder der Kuchenbäcker. Und zwei- tens: Die Route wurde verkürzt. Anstatt der eigentlich noch anstehenden 17 Kilometer nach Tjørnuvík, bleiben uns nur sieben. Zu viele Athleten hätten sich im dichten Nebel bereits verlaufen. Dort gibt es überall Steilufer. Das ist viel zu gefährlich.
Ich bin maßlos enttäuscht. Es ist nicht so, dass sich mein Körper nicht freuen würde. Aber mein Kopf hört nur: verkürzt. Ich bin gekommen, um 65 Kilometer zu laufen, und habe mich sehr darauf gefreut. »55, das ist ja nur ein bisschen mehr als ein Marathon«, schimpfe ich vor mich hin, doch so ist es. Also weiter, einmal noch über den nächsten Berg. Keine Sicht, dabei wäre es wunderschön hier, den Blick zurück über Saksun und das kreisrunde, von Felswänden gesäumte Meeresinlet schweifen zu lassen.
Kurz vor der Passhöhe kommen wir für einen Moment vom Weg ab, weil ich nicht aufpasse. Nach kurzzeitiger Verwirrung finden wir aber schnell auf den richtigen Pfad zurück. Die Euphorie ob des nahen Ziels gibt uns die nötige Kraft. Als wir aus dem Wolkenbrei vor uns Musik und grölende Menschen vernehmen, weiß ich nicht, ob ich schneller rennen und die Ziellinie lässig überqueren, oder abbremsen soll, um die letzten Meter richtig auszukosten. Wir sind da. Wir bekommen eine Medaille um den Hals und eine Dose Bier in die Hand, während das Meer und die weißen Wellen an einen schwarzen Strand schwappen.
Erlebnistipps von Lars für die Zeit nach dem Lauf
Tórshavn: Spaziergang durch die Altstadt von Tórshavn voller windschiefer Häuser mit grasbe- wachsenen Dächern und roten Fassaden.
Gjógv: Streifzug durch das an der Küste der Insel Eysturoy gelegene Dorf Gjógv mit ungewöhn- lichem Naturhafen und spektakulären Felsen- schlucht, die sich bis ins Meer öffnet.
Leuchtturm von Kallur: Tolle Wanderung zum Leuchtturm auf der Insel Kalso, der wild auf einer Klippe hoch über dem Meer thront.
Bøsdalafossur Wasserfall: Ein kleiner Fuss- marsch zu einem besonderen Wasserfall, der vom See Sørvágsvatn direkt ins Meer fällt.