Als wir zum ersten Mal das Paddel durch das tiefblaue Wasser ziehen, löst sich plötzlich die ganze Spannung in uns. Ein halbes Jahr lang haben wir auf diesen Moment gewartet, die Idee zum Abenteuer reifen lassen, geplant und trainiert, Wochenendexpeditionen und Ausrüstungstests in den Schweizer Bergen hinter uns gebracht, bei Wind und Wetter. Und die Tage gezählt.
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Voll beladen unterwegs
Nun gleiten wir auf unseren voll beladenen SUP-Boards durch den Skarsfjord, umgeben von dieser mächtigen maritimen Natur, die Norwegens Nordküste so einzigartig macht. Zug für Zug lassen wir unseren Startpunkt auf der Westseite der Insel Ringvassøya hinter uns. Es ist sechs Uhr abends und noch immer strahlt die Sonne hoch am Himmel. Sie wird uns in den kommenden drei Wochen Tag und Nacht begleiten, sich oft hinter Wolken verstecken, doch nie ganz untergehen – hier oben, am 70. Breitengrad.
Unsere letzten großen Paddelabenteuer in nördlichen Gewässern liegen nun schon einige Jahre zurück. Wir haben die Fjorde und Eisfelder Nordwest-Grönlands im Seekajak durchquert und sind vierzig Tage im Kanu den Yukon River hinabgefahren. Dass wir heute auf einem luftgefüllten Surfbrett im Nordatlantik stehen, verdanken wir unserem Freund Karel, der sich in den letzten Jahren zu einem wahren SUP-Experten entwickelt hat. Er überzeugte uns schließlich von diesem alternativen Fortbewegungsmittel und wir verliebten uns in den Gedanken, regelrecht über das Wasser wandernd die Natur zu erleben.
Unberührt und unvorhersehbar
Und weil wir das Neue genauso lieben wie das Abenteuer, ließen wir uns von Karels Leidenschaft anstecken und begannen mit den Planungen. Zuerst kam der Ort: Wunderschön sollte er sein, in einer Region mit unberührter Natur und unvorhersehbarem Wetter. Wir suchten nach Landschaften, die neben besonderer Atmosphäre körperliche Herausforderungen versprachen – und einen Hauch von Gefahr. Auf keinen Fall wollten wir hier auf Kreuzfahrt- und andere großen Schiffe stoßen, die das Wasser aufwirbeln – genauso wenig wie auf Wellness-Gruppen mit Avocadotoasts. So folgten wir der Karte immer weiter Richtung Norden. Bis wir jenseits des Polarkreises, rund fünfzig Kilometer oberhalb von Tromsø, schließlich einen Ort ganz ohne Straßenanbindung fanden, der genau unseren Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Isolation zu entsprechen schien: die Inseln Rebbenesøya, Grøtøya und Nordkvaløya.
Nun trennen uns noch acht Kilometer von unserem ersten Ziel, der Südspitze von Rebbenesøya, wo wir die Nacht verbringen werden. Der Abend ist perfekt, das Meer ruhig und friedlich. Auf den SUPs stehend, fühlen wir uns ganz im Einklang mit dem Meer. Die Landschaft des Skarsords lächelt uns entgegen, wir atmen den Wind der Freiheit und nehmen die Stille in uns auf. Die arktische Luft kündet davon, dass die langen Sommertage bald von den kalten nördlichen Brisen abgelöst werden und der Herbst Einzug halten wird. Aber noch ist es endlos hell – und mit etwas Glück werden wir die Mitternachtssonne mit dem Horizont tanzen sehen.
Dramatische Insel als treue Begleiterin Wir sind bereits drei Tage auf dem Wasser, als wir die einsame Insel Sandøya westlich von Rebbenesøya passieren. Links von uns ist weit und breit kein Land in Sicht – nur offenes Meer bis Grönland. Zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert gab es auf Sandøya mal eine Fischersiedlung. Hier wurde einst Kabeljau gefangen und gehandelt, der auf seinem Weg von der Barentssee in wärmere Laichgebiete bis heute in unzähligen Mengen an den Inseln vorbeizieht. Inzwischen haben wir uns an die Mitternachtssonne gewöhnt und daran, dass die Sommertage 24 Stunden dauern.
Tägliche Abenteuer
Jeden Morgen, oder auch am Abend, beginnt ein neues Abenteuer. Bevor wir auf das Wasser gehen, beladen wir unsere vier Meter langen Boards. Die Campingausrüstung sowie Essen, Wasser und Kleidung wird in wasserdichten Taschen an die Boards geschnallt – ganz zu schweigen von unserer Fotoausrüstung. Wir paddeln fast jeden Tag zwischen fünf und zehn Stunden. Norwegen bietet uns eine bunte Mischung an Wetterbedingungen, doch insgesamt kommen wir gut voran. Abseits vom Ansturm der menschlichen Zivilisation beobachten wir die ganze Zeit das magische Schauspiel der Natur.
Die Landschaft des Skarsords lächelt uns entgegen, wir atmen den Wind der Freiheit und nehmen die Stille in uns auf.
Der Ozean hat die dramatische Landschaft rund um Rebbenesøya über Jahrtausende geformt und einige der atemberaubendsten Ausblicke geschaffen, die wir je gesehen haben. Unterhalb der ins Meer stürzenden Bergwände fühlen wir uns oft winzig klein. So weit nördlich ist das Tierleben vielfältig und faszinierend. Fast stündlich erleben wir Vorbeiflüge von Papageientauchern, Besuche der Küstenseeschwalbe auf ihrer epischen Flugwanderroute aus der Antarktis und sehen gleitende Seeadler vor schwindelerregenden Klippen. Von Zeit zu Zeit strecken ein paar neugierige Robben ihre Köpfe aus dem Wasser und grüßen vorbeikommende Delfine aus sicherer Entfernung.
Raue Schönheit
Die Vogelinsel Sørfugløya, die sich in einiger Entfernung imposant aus dem Meer erhebt, wird uns zu einer Art unzertrennlicher Freundin. Sie begleitet uns am Horizont und zieht uns immer wieder in ihren Bann. Wenn die Sonne scheint, zeigen die Klippen die Narben jahrelanger schwerer Winterwinde und ihre Pyramidensilhouette schimmert, vor dem Hintergrund des Abendhimmels, wie eine Fata Morgana. Bilder von Filmklassikern wie King Kong und Skull Island kommen uns in den Sinn. Abgesehen von ihrer Schönheit ist die Insel eines der wichtigsten Vogelschutzgebiete Skandinaviens. In den frühen Sommermonaten versammeln sich dort Zehntausende Papageientaucher, Tordalken und Trottellummen, um zu nisten, ihre Jungen aufzuziehen und sich in der arktischen Sonne zu wärmen.
Wir erleben viele windige und regnerische Momente. Doch wann immer die Sonne für kurze Zeit durch die Wolken blitzt, belohnt sie uns mit magischem Licht. Wenn die Windverhältnisse uns vom Paddeln abhalten, erkunden wir die Inselwelt zu Fuß. Die Szenerien an Land sind ebenso beeindruckend wie die auf See und bieten großartige Ausblicke über das Nordmeer.
Die exponierte Westküste ist rau und bedrohlich, aber unsere SUPs ermöglichen uns, nahe ans Ufer zu kommen, und verschaffen uns so leichten Zugang zu den besten Campingspots. Nach dem Aufbau des Lagers hat das Fischen immer die höchste Priorität, bietet es doch die beste Voraussetzung für sowohl Reflexion und Meditation als auch luxuriöse Abendessen. Zu unseren kulinarischen Highlights gehören Miesmuscheln als Vorspeise und exzellente Fischcurrys als Hauptgericht. Wir lieben es, uns Zeit zu nehmen, am Ende eines jeden Tages zusammenzusitzen, uns auszutauschen und dabei die Umgebung zu bewundern. Und schließlich, eingelullt vom Meeresrauschen, mit einem Gefühl des Wohlbefindens einzuschlafen.
Mit dem Paddel gegen die Naturgewalten
Am sechsten Tag haben wir Rebbenesøya und Grøtøya hinter uns gelassen und nehmen nach einer Zwischenstation an der Nordspitze des Naturschutzgebietes Store Måsværet die vier Kilometer lange Überfahrt zur Insel Nordkvaløya in Angriff. Der Himmel ist mit schweren Wolken behangen und präsentiert das gesamte Spektrum an Grautönen. Unerwartet erwacht ein frischer Wind zum Leben und fordert uns extrem heraus. Gegenwind ist der größte Gegner eines Stand-Up-Paddlers.
Von einem Paddelschlag zum nächsten wird alles in Frage gestellt. Jeder Zug, jede Anstrengung muss Wirkung zeigen. Um weiter voranzukommen, gilt es, alles in unsere Paddel zu stecken. Die Wellen lassen uns wie einen Korken steigen und fallen, aber auch bei diesen schlechten Bedingungen trotzen die vollgepackten SUPs dem Ozean mit Überzeugung und unsere Körper fühlen sich eins mit dem Board. Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf dem GPS beträgt nur noch zwei Kilometer pro Stunde und die Küste scheint nicht näher zu kommen. Wir paddeln nun seit mehr als zwei Stunden ununterbrochen Seite an Seite. Anstrengung und Anspannung sind so intensiv, dass zum ersten Mal auf der Reise Zweifel aufkommen: Können wir diesen Kampf gegen den Wind gewinnen? Auch die Wassertemperatur bleibt eine Sorge.
Der Himmel ist mit schweren Wolken behangen und präsentiert das gesamte Spektrum an Grautönen. Unerwartet erwacht ein frischer Wind zum Leben und fordert uns extrem heraus.
Jedes Versagen unserer aufblasbaren Boards einige Kilometer vom Land entfernt würde bedeuten, dass uns das Gewicht der Ausrüstung dem eisigen Wasser ungewollt näherbringt. Der Regen peitscht in unsere Gesichter, während eine Gruppe von Küstenseeschwalben vom Wetter unbeeindruckt über unsere Köpfe jagt, um sich dann in rasender Geschwindigkeit spielerisch in die Lüfte zu erheben. Wir ziehen energisch unsere Paddel durchs Wasser und beobachten den düsteren, von kleinen weißen Schaumkronen übersähten Horizont.
Bei drei Kilometern pro Stunde trennen uns nur noch wenige hundert Meter vom Land. Je näher wir der Küste kommen, desto mehr bieten uns die Klippen der Insel Windschutz. Wir können nun den kleinen Strand unterhalb des Sees Rekvikvatnet vor uns klar vom Wasser unterscheiden und nutzen unsere letzte Kraft, um die von steilen Bergwänden umgebene Bucht zu betreten. Wir sind erschöpft, aber glücklich, endlich in Sicherheit zu sein. Zeit zu fischen!
Abschiedstanz mit der Mitternachtssonne
Wir kamen in die Arktis, um die Faszination der Mitternachtssonne einmal hautnah zu erleben. Doch nach der Hälfte der Zeit wurde deutlich, dass dieses Phänomen nur schwer greifbar ist. Als die Abende einbrachen, Wolken aufzogen und sich bis zum Horizont ausdehnten, bildeten diese eine undurchdringliche Mauer. Es gab klare Nächte, an denen alles für die große Show bereit schien, doch im letzten Moment wurde die Sonne ganz plötzlich doch wieder zu schüchtern und versteckte sich hinter den Wolken.
Bis zum Schluss fühlte es sich so an, als ob das Wetter nie die Rolle spielen würde, die wir erhofft hatten. Jetzt trennen uns nur noch etwa dreißig Kilometer von Mikkelvik, dem Ziel unserer Rundreise. Der Gedanke daran erfüllt uns mit Melancholie. Als wir nach 14 Tagen und 200 Kilometern in unsere letzte Nacht hineinpaddeln, bringt der blaue Himmel tatsächlich noch einmal den Mut auf, gegen die Wolken anzukämpfen – und schenkt uns den so sehnlich erwarteten Augenblick: Die Mitternachtssonne tanzt endlich mit dem Horizont.
Als ob sich die Natur entschieden hätte, uns zum Abschluss einen unserer größten Wünsche zu erfüllen, endet die Reise mit diesem einmaligen Ereignis – und macht das SUP-Abenteuer im Norden Norwegens zu einer außergewöhnlichen und unvergesslichen Erinnerung zwischen uns drei Freunden.