Brusthohe Felsblöcke türmen sich vor mir auf, bedeckt von einer zentimeterdicken Schneeschicht. Ich recke mich und schaue nach oben. Versuche, den Gipfel zu erahnen. Diese Kletterpartie hatte niemand erwähnt. Weder die Truppe Trondheimerinnen, die gestern Abend in der Jøldalshytta bei uns am Esstisch saß, noch der Hüttenwirt, den ich am Morgen interviewte. Alle haben uns die anspruchsvollste der drei Routen zur Trollheimshytta empfohlen – über die drei Spitzen der Trollhøtta: »Bei dem Wetter auf jeden Fall. Der Blick dort oben ist fantastisch.«
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So machten wir uns bei schönster Septembersonne auf Richtung Gipfel. In bester Sherpa-Manier balancierte mein Begleiter und Fotograf Lars seine schwere Ausrüstung samt Gepäck über matschige Hänge und Geröllfel der den Berg hinauf. Vor uns sprang fröhlich Lagotto-Hündin Rut und wies uns den Weg. Bis hierher.
Nun sitzt sie matt und mit zitternden Beinen neben mir auf dem eisigen Felsen, blickt mich an und scheint zu fragen, wo wir denn eigentlich gelandet sind. Um weiter zu kommen, muss ich sie immer wieder auf den nächsten Block heben und dann hinterherklettern. Ein zäher und nicht ganz risikofreier Prozess für uns beide. Später werde ich lesen, dass diese Route für Hunde ungeeignet ist.
Ich gönne Rut eine Handvoll Futter und mir ein Stück Schokolade. Dann werfe ich einen Blick auf die Karte und folge dem rot eingezeichneten Weg über die eng liegenden Höhenlinien. Weit von hier kann der Gipfel nicht sein und noch steiler wird es nicht. »Nur noch ein paar Meter, dann haben wir es geschafft«, sage ich zu Rut. Sie schaut skeptisch.
Tatsächlich haben wir bald das Schlimmste hinter uns und passieren eine halbe Stunde später den höchsten Punkt der Trollhøtta auf 1 614 Meter. Auf einer windgeschützten Felsplatte essen wir Abendbrot und blicken über die Landschaft, die von der tief stehenden Sonne in ein orangefarbenes Licht getaucht wird. »Wäre schön, wenn wir hier einfach unser Zelt aufschlagen könnten«, meint Lars und lacht: »Das ist der Nachteil einer komfortablen Hüttentour, dass wir unseren Schlafplatz nicht spontan aussuchen können.«
Das Sagenreiche Dreieick
Es ist im wahrsten Sinne des Wortes Bergfest. Wir haben ziemlich genau die Hälfte unserer »Hytte-til-hytte«-Wanderung durch Trollheimen, eine der bekanntesten Fjellregionen in der Provinz Trøndelag, geschafft. Von unserem Platz blicken wir über die Berglandschaft – die Gipfel des Snøta (1 668 Meter) und des Blåhøa (1 672 Meter), die Täler mit den Flüssen Svartå und Folda, das Wasser des Gråsjön. Durch das Gebiet zieht sich eine Vielzahl an Wanderwegen, oft markiert durch das ikonische rote »T« des norwegischen Tourismusvereins (DNT), der dort fünf bewirtschaftete Fjellstationen und vierzehn weitere einfache Übernachtungshütten betreibt.
Dem DNT verdankt Trollheimen auch seinen Namen: »Das Heim der Trolle« beschreibt seit den 1880er Jahren die mystische Atmosphäre der wilden, steinigen Landschaft. Der Troll ist hier allseits präsent. Gleich mehrere Orte beziehen sich auf das nordische Fabelwesen: Von der mächtigen »Trollhøtta« (dt. Trollhütte), die wir gerade bezwungen haben, bis zum winzigen Bergsee namens »Trollauge« ein paar hundert Meter unter uns. Und der höchste Gipfel hier heißt schlicht »Trolla« (1 842 Meter).
Die Kulturlandschaft hier ist über viele Jahrhundertete gewachsen.
Wir wandern hier das »Trekanten i Trollheimen«, das auf drei Etappen die DNT-Hütten Gjevilvasshytta, Jøldalshytta und Trollheimshytta verbindet. Es gilt als Klassiker und eine der populärsten und schönsten Touren in Norwegen. Insgesamt rund 60 Kilometer und – je nach Route – zwischen 2 400 und 2 800 Höhenmeter gilt es zu bewältigen.
Das Popularitätsproblem
Dreieckswanderungen wie diese werden immer beliebter. Das Erfolgskonzept ist die Kombination aus Einfachheit, Sicherheit und Komfort: Man startet und endet am gleichen Punkt, kann in Hütten am Weg schlafen und braucht deshalb nicht Zelt, Schlafsack, Kocher und größere Mahlzeiten mitzuschleppen. Die Route ist gut ausgezeichnet und man ist meist nicht allein auf der Strecke. Das macht die Sache auch für weniger abenteuererfahrene Wanderinnen und Wanderer interessant.
Doch die Popularität hat auch ihre Schattenseite. Am wohl bekanntesten Wanderdreieck in Skandinavien, dem »Jämtlandstriangeln« zwischen den STF-Stationen Storulvån, Sylarna und Blåhammaren, kämpft man inzwischen mit den Folgen des hohen Besucherdrucks: ausgetretene Wege, Müll, CO2-intensive Logistik, vor allem aber mehr Menschen und weniger Einsamkeit, für die das skandinavische Fjäll ja so bekannt ist. Hinzu kommt, dass sich samische Rentierhalter gegen die Beeinträchtigung ihrer Herden durch die wachsende Menge an Wandernden wehren. In der Folge musste der DNT bereits seinen Betrieb verringern und die Saison verkürzen.
Neben dem Naturerlebnis interessiert mich deshalb, ob es hier eine ähnliche Belastung gibt und wie man damit umgeht.
Der Blick vom Gipfel der Trollhøtta ist fantastisch. Da müsst ihr hoch.
Begegnung mit der Kulturlandschaft
»Die meisten unserer Gäste kommen nach wie vor aus Norwegen, viele aber auch aus Deutschland und anderen europäischen Ländern«, sagt Randi Horghagen, Wirtin der Gjevilvasshytta. »Viele ausländische Besucher fragen sich: Was machen die Norweger? Wo gehen die wandern? Bei ihrer Suche stoßen sie dann oft auf Trollheimen.«
Randi arbeitet seit 24 Jahren in der DNT-Hütte am Ufer des Sees Gjevillvatne, die leicht per Auto oder Bus von Oppdal aus zu erreichen und deshalb der bevorzugte Ausgangspunkt der Wanderung ist. Gjevilvasshytta und Jøldalshytta hatten im Jahr 2023 jeweils rund 3 000 Gästenächte, bei der Trollheimshytta waren es ein paar hundert weniger. Rund ein Viertel der Nächte am Jämtlandstriangeln. Die Zahlen waren über viele Jahre stabil und sind seit Corona gesunken. Dass die Entwicklung hier anders aussieht, hat verschiedene Gründe. Die Kapazitäten wurden in den vergangenen Jahrzehnten kaum erweitert und das Trekanten nicht in der gleichen Intensität vermarktet. Überhaupt scheinen sich die Besucherströme in Norwegen besser zu verteilen.
Drei tolle DNT-Hüttentouren in Norwegen
1. Durchs Tal der Träume
Dreitägige Hüttentour von Finse durch das wilde und wunderschöne Tal Aurlandsdalen mit Übernachtungen in der Geiterygghytta und der Aurlandsdalen Turisthytte.
2. Durchs Reich der Riesen
Sechs Tage und 85 km durch das legendäre Hochgebirge Jotunheimen mit Start/Ziel in der Leirvassbu und Übernachtungen in Olavsbu, Gjendebu, Memurubu, Glitterheim, Spiterstulen.
3. Durch die Welt der Fjorde
14 Tage und 190 km lange »Fjordruta« mit Start in Kristiansund, entlang der westnorwegischen Fjorde, über mehrere Inseln und Halbinseln. Manche Hütten liegen direkt am Wasser.
Was aber macht das Wandern gerade in dieser Gegend so besonders? Für Randi Horghagen sind die Touren mehr als ein Naturerlebnis: »Trollheimen ist eine Kulturlandschaft, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Beim Wandern durch die Täler trifft man auf Schafe, Ziegen, Kühe und weiter oben dann auf Rentiere. Diese Bewirtschaftung prägt die Natur und die Begegnungen mit den Tieren sind Teil des Trollheimen-Erlebnisses. Hier ist es auch wichtig, dass man sich rücksichtsvoll verhält.
Auf der ersten Etappe zur Jøldalshytta wird deutlich, was Randi meint. Hier geht es zunächst über Weiden, durch lichte Fjellbirkenwäldchen, vorbei an Scheunen mit grasbewachsenen Dächern. Stets unter den Blicken und dem Blöken der Schafe. Über der Baumgrenze stößt man auf samische Stätten: Sommerlager, die zum Zeitpunkt unserer Wanderung schon verlassen sind. Reste samischer Behausungen, hüllenlose Holzkonstruktionen, in deren Mitte nur noch der eiserne Ofen steht. Daneben verwaiste Gehege, in denen die Rentiere am Ende des Sommers zusammengetrieben und gezählt wurden. Ein surrealer Anblick, vor allem, wenn sich wie bei uns der Nebel über die Szenerie legt. Kurz vor der Ankunft in der Jøldalshytta befindet sich die Sennerei Jelsætra. Hier laufen im Sommer Ziegen frei über Wege und Wiesen. Ein Schild sagt: »Klapp ej geit & Köp en ost« (dt. »Nicht die Ziegen streicheln & Käse kaufen«).
Respekt vor den Rentieren
Am ersten Tag hatten wir unsere ganz persönliche Tierbegegnung. Aus einer vorbeiziehenden Rentierherde löste sich plötzlich eines heraus und kam zielstrebig direkt auf uns zu. Bis auf Streichelabstand – völlig unbeeindruckt von der immer aufgeregter bellenden Rut. Ein paar hundert Meter folgte uns die unerwartete Begleitung, posierte bereitwillig vor der Kamera und lief dann wieder zurück zur Herde, die sich in sicherem Abstand parallel zu uns den Berghang entlangbewegte. Solche Begegnungen können den Eindruck vermitteln, die Tiere hätten keine Probleme mit Menschen – und doch sind sie die Ausnahme. In der Regel gelten Rentiere als scheu und – gerade während der Kalbezeit im Frühjahr – als sehr empfindlich für Störungen.
»Auch in Trollheimen spüren die Rentierzüchter, dass die Lebensräume der Tiere unter Druck stehen und sehen den Wandertourismus als Teil des Problems«, sagt Frode Støre Bergrem, Leiter von Trondhjems Turistforening. »Wir versuchen, negative Auswirkungen zu verringern. Etwa durch ein Buchungssystem, das in kritischen Zeiten Übernachtungszahlen begrenzt. Oder indem wir Routen durch sensible Rentiergebiete umlegen.« Gleichzeitig existiert ein lebendiger Dialog mit den anderen Akteuren in Trollheimen: »Wir treffen uns regelmäßig in den Ausschüssen für die Nutzung der Fjellgebiete. Hier kann man eigene Ansichten vertreten und die Perspektiven anderer kennenlernen.« Frode geht davon aus, dass es zukünftig schwerer wird, neue Hütten und Routen zu etablieren.
Hüttenkultur und Gleichgesinnte
Um so wichtiger scheint es, die existierenden Hütten und ihre Kultur zu bewahren. Gestern Abend saßen wir mit rund zwanzig zunächst Unbekannten am Tisch in der Jøldalshytta. Vor dem Essen hielt Hüttenwirt Karl Olav Mærk die Begrüßungsrede. Danach präsentierte sein Team die Gänge, immer mit kleinen Hintergrundgeschichten zu den lokalen Rohwaren. Und als alles verzehrt war, kannten wir sämtliche Tischnachbarn: die Freundinnen aus Trøndelag, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren. Den Norweger mit seinem Sohn, mit dem er schon vor 25 Jahren das Trekanten gewandert ist. Die zwei deutschen Mädels, die in Trondheim studiert haben und nun hier auf Wiedersehenstour sind.
Insgesamt also eine breite Mischung, doch allesamt recht fitte Menschen mit Fjellerfahrung, die auch mal mit Zelt und Schlafsack unterwegs sein können. Bei der Trekanten-Hüttentour scheint es allen aber auch um etwas anderes zu gehen als das reine Naturerlebnis: in drei Tagen eine gute Zeit miteinander zu verbringen, tagsüber durch das Fjell zu wandern, abends gemeinsam zu essen und gut zu schlafen – anstatt bei Schneeregen im Halbdunkeln mit Zelt und Gaskocher zu kämpfen.
Dramatisches Tollheimen
Als endlich die Trollheimshytta im Licht von Lars’ Stirnlampe erscheint, ist es schon spät. Die Station ist an diesem Septemberwochenende bereits »unbemannt«. Haupthaus und Küche sind geschlossen, aber wir haben den DNT-Schlüssel zum Nebengebäude. Hier treffen wir die deutschen Studienkolleginnen wieder, die auf dem Weg ins Bett sind. Sie haben die gemäßigte Route über die Geithøtta gewählt. Statt Drei-Gänge-Menü gibt es »Heiße Tasse« mit Nudeln aus der Vorratskammer. Danach fallen wir müde ins Bett. Rut schläft auf einer Decke vor uns auf dem Boden. Ich erspare ihr
heute den Käfig, der sonst in Hundezimmern des DNT Pflicht ist. Sie bewegt sich nach diesem Tag eh nicht mehr vom Fleck.
Am nächsten Morgen machen wir uns früh auf den Weg. Die Trollheimshytta liegt mitten im Naturreservat Svartåmoen, einem Urwaldgebiet mit bis zu 500 Jahre alten Kiefern, dessen Schönheit wir im Dunkeln gestern leider nur erahnen konnten. Eine Brücke führt über den Fluss Slettåa, den wir den Berg hinauf folgen, um uns dann auf das Mellomfjellet zu kämpfen.
Oben zeigt Trollheimen sein dramatischstes Gesicht: eine Steinsteppe zwischen aufgewühlten Bergseen. Stürmischer Wind und Regen, dunkelgraue Wolken vor blauem Himmel. Der weite Blick über Trollheimens Gipfelmeer. Wir suchen Schutz hinter einem Felsen, essen Knäckebrote mit Tubenkäse aus dem Selbstversorgerschrank und sprechen darüber, was Trollheimen in den drei Tagen alles geboten hat – wetter- wie landschaftsmäßig.
Trollheimen und das Trekanten waren noch auf unserer Bucket List.
See in Sicht
Bald darauf taucht der Gjevillvatnet-See auf. Die letzten Kilometer durch die schlammigen Bergwiesen weisen die deutlichsten Spurender Wanderer auf. Wie ein Flussdelta ziehen sich die Trampelpfade hinab ins Tal. Man ist dabei, befestigte Wegabschnitte anzulegen. Kurz vorm Ziel treffen wir Manja, Clara und Sandra aus Chemnitz, die gerade ihr Trollheimen-Abenteuer starten. Sie waren schon oft im norwegischen Fjell. Nun steht nach Hardangervidda und Jotunheimen das Trekanten auf ihrer Liste – ohne Hütten. Mit ihren Rucksäcken ziehen sie froh den Berg hinauf, unbeeindruckt von der tiefgrauen Wolkenkulisse.
»Hoffentlich hält das Wetter«, denke ich. Andererseits können sie ja ins Zelt kriechen, wo der Regen am stärksten ist – oder der Platz am schönsten. Sie werden wohl auch ohne Drei-Gänge-Menüs und weiche Betten eine tolle gemeinsame Zeit am »Trekanten i Trollheimen« erleben. Da bin ich mir fast sicher.
Sagenhaftes Dreieck
Dreitägige 60 km lange Wanderung mit Start Gjevilvasshytta und Übernachtungen in der Jøldalshytta und der Trollheimshytta. Anreise per Auto oder per Zug/Bus via Oppdal zur Gjevilvasshytta. Bewirtschaftet von Mittsommer bis Mitte September.
ut.no