Warum machen wir das?« Am Fuß des Bergs Storvätteshågna, auch »Dalarnas tak« (dt. Dach von Dalarna) genannt, ist die Nacht gerade in die Morgendämmerung übergegangen. Meine aufblasbare Matte hat Luft verloren und der Packbeutel, in den ich am Abend meine Daunenjacke gestopft hatte, ähnelt eher einem schlappen Bezug als einem Kissen. Die Hüfte schmerzt, die Augen brennen. Immer wenn ich während der Nacht zu Per hinübersah, schlief er wie ein gefällter Baumstamm. So sah es jedenfalls aus, aber vielleicht ist dies ja auch nur das erste Mal, dass wir gleichzeitig aufwachen. Er scheint die Nacht ähnlich erlebt zu haben wie ich.
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»Keine Ahnung, ob ich überhaupt geschlafen habe«, sagt er, offensichtlich mitgenommen von der ersten Übernachtung auf dem Berg. Wir ziehen uns warm an und kriechen aus dem Zelt. Hauchdünne Dunstschleier liegen über dem taubedeckten Boden. Es fühlt sich gut an, die Glieder zu strecken und ein paar vorsichtige Schritte zum Bach zu machen. Die Sonne steigt über den Berggipfel, 1 204 Meter über dem Meeresspiegel, und erfüllt das Tal mit einem schimmernden Licht, das den Nebel verscheucht, die Wärme und das Leben zurückkehren lässt. Auch der Nieselregen des gestrigen Tages ist vertrieben worden. Langsam verschwinden die dunklen Gefühle an die schlaflose Nacht.
Die Landschaft ist kahl, aber einladend. In einiger Entfernung laufen ein Dutzend Rentiere über einen Hang. Wir befinden uns sechs Kilometer nördlich der Berghütte von Grövelsjön auf unserer allerersten Fjällwanderung.
Ein Strich durch die Rechnung
Die Wanderhütte in Grövelsjön, die zum Schwedischen Wanderverein (STF) gehört, bietet eine herrliche Aussicht auf den See, durch dessen Mitte die schwedisch-norwegische Grenze verläuft. Der Ort gilt als süd- licher Endpunkt der schwedischen Fjällkette. Am Anfang hatten wir vor von hier aus den Berg Långfjället zu umrunden, eine Wanderung von 30 Kilometern, die sich auf zwei oder drei Tage aufteilen lässt. Das wirkte passend, denn wir hatten Freitagnachmittag, Samstag und Sonntag dafür Zeit. Das Gepäck hatten wir sorgfältigst durchdacht. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben, dachten wir. An der Rezeption wollten wir das Ganze dann mit einem Kompass und einer Karte komplettieren.
Doch als wir dem Personal den Plan erklärten, stellte sich heraus, dass die Route teilweise unmarkiert und schwierig zu navigieren ist – besonders für Anfänger wie uns. Ein ziemlich verbreiteter Fehler, meint Josefine Andersson Söderberg, die beim STF in Grövelsjön arbeitet. »Ein Tipp ist, sich das Kartenmaterial rechtzeitig vorher besorgen«, sagt sie. »Setzt euch zu Hause hin und plant eure Route gründlich. Wenn man fünf bis sechs Mal auf die Karte geschaut hat, bevor man losgeht, entwickelt man Ortskenntnis, obwohl man noch nie in der Gegend war.«
Ein anderes Versehen, das offenbar häufig passiert, ist die Verwechslung von Winter- und Sommerwegen. »Man möchte gerne den Kreuzen folgen, was nicht abwegig ist, weil die roten Wegkreuze ein bekanntes Symbol für Fjällrouten sind. Aber mit dem Sommer haben sie nichts zu tun. Da muss man sich nach anderen Markierungen richten.« Schließlich gibt uns Josefine noch einen Rat, den wir direkt befolgen: »Füllt eure Taschen mit griffbereiten Snacks. Sie spenden Energie, sodass ihr unterwegs bessere Entscheidungen trefft.«
Um Hilfe bitten
Wir müssen also umdenken. Die erste Etappe soll nun stattdessen zum Storvätteshågna führen, dem höchsten Berg Dalarnas. Eine Wanderung von sechs Kilometern oberhalb der Baumgrenze mit deutlichen Wegmarkierungen. Genau richtig für den ersten Nachmittag, denken wir. Doch nach ein paar hundert Metern beginnen wir uns zu fragen, wo wir sind. »War das wirklich von Anfang an der richtige Weg? Hätten wir nicht dort links abbiegen müssen?«
Es nieselt und wird allmählich dunkel. Wir merken, dass wir den Umgang mit Kompass und Karte voher hätten lernen sollen und dass wir die Markierungen nicht genügend beachtet haben. Kurz danach taucht ein Schild auf, das auf Jakobshöjden hinweist. »Dann müssen wir jetzt hier sein«, sagen wir und zeigen beide auf denselben Punkt. Oder doch nicht?
In den Bergen ist man tatsächlich nie so weit gekommen, wie man meint.
Wir laufen weiter den markierten Pfad entlang. Es geht steil bergan, auf morastigem Boden. Die Sicht ist schlecht. Der böige Wind macht es schwer, die Karte zu halten. Als wir oberhalb der Baumgrenze stehen, haben wir uns wieder verlaufen. Ein einsamer Wanderer kommt uns entgegen. Wir akzeptieren unseren Anfängerstatus und bitten ihn um Hilfe.
Als wir ihm auf der Karte zeigen, wo wir uns zu befinden glauben, lächelt er freundlich: »In den Bergen ist man tatsächlich nie so weit gekommen, wie man meint.« Er holt sein Mobiltelefon heraus und mit Hilfe der App Fjällkartan zeigt er uns, wo wir eigentlich sind. Die App wird unsere Rettung, sie enthält alle Fjällkarten der schwedischen Vermessungsbehörde und zeigt in Kombination mit dem GPS-System des Handys exakt an, wo wir uns befinden. Die Fjällkarte ist zwar ein Helfer in der Not, erinnert uns aber an unsere mangelhafte Vorbereitung und daran, wie riskant es ist, sich auf die Technik zu verlassen.
Der Abend ist wie geschaffen für Pilzrisotto, Sauna und Kartenspiele.
Das Interesse am Wandern, vor allem im Fjällgebiet, ist in den letzten Jahren förmlich explodiert. Mit immer mehr unerfahrenen Wanderern auf den Routen ist das Sicherheitsbewusstsein gesunken. Das zeigt eine Untersuchung, die von Fjällsäkerhetsrådet (dt. Rat für Sicherheit im Fjäll) im Jahr 2022 durchgeführt wurde. 53 Prozent der Destinationen bestätigten, dass ihre Besucher sich weniger um die Sicherheit kümmern. Das Unterschätzen plötzlicher Wetterwechsel, zu viel Vertrauen in die Reichweite des Mobilnetzes und in die eigene Kondition sind die häufigsten Irrtümer, wie die Analyse zeigt.
Grandiose Fjällwelt
Es nieselt noch immer. Kleine Tropfen kriechen überall hinein und lassen die Brillengläser beschlagen. Aber schon bald erspähen wir den Storvätteshågna als Silhouette über der Baumgrenze. Wir finden einen guten Platz und können endlich das Zelt als Regenschutz aufbauen, werfen den Campingkocher an und machen uns einen Gemüseeintopf mit Quinoa. Weiter unten am See steht ein Trockenklo. Erleichternd zu wissen, dass man nicht erst eine Grube graben und sich dann hinter einen zehn Zentimeter hohen Busch hocken muss, um seine Notdurft zu verrichten. Nach der ersten fast schlaflosen Nacht wählen. wir den markierten Weg in Richtung Hävlin- gen, eine Tour von gut zehn Kilometern, zuerst oberhalb der Baumgrenze und dann unterhalb, zwischen Fjällbirken und Bachläufen.
Wo wir jetzt gehen, ist es zauberhaft schön. Schicht um Schicht werfen wir Kleidungsstücke ab, je höher die Sonne am Himmel steigt. Die Mützen haben wir gegen Caps und Sonnenschutzmittel ausgetauscht. Ungefähr auf halber Etappe machen wir halt an einem plätschernden Bach, wo wir Blaubeeren pflücken und frisches Wasser in die Trinkflaschen füllen. Wasser direkt aus dem Bach trinken zu können, war eine unserer Wunschvorstellungen, und es fühlt sich herrlich an, das zu erleben. Wir folgen den Markierungen bergab bis zum See Hävlingen.
Ungeplanter Luxus
Um die Natur und die Pflanzenwelt auf dem Berg zu schützen, ist es wichtig, sich an die gekennzeichneten Pfade zu halten und keine Abkürzungen zu nehmen, haben wir gelernt. Wenn jemand anfängt, vom Weg abzuweichen und einen neuen Pfad einzutrampeln, folgen ihm schnell andere, was zum Verschleiß des Bodens führt und Tiere stören kann.
Bald erreichen wir die STF-Hütten. Ein Schild lenkt uns in ein Waldstück, das für campende Gäste vorgesehen ist. Nach jener ersten Nacht oberhalb der Baumgrenze schlagen wir unser Zelt mit einem gewissen Neid auf die inhäusig einquartierten Besucher auf.
Wasser direkt aus dem Bach trinken zu können, war eine unserer Wunschvorstellungen.
Unten an der Haupthütte treffen wir Kina Martinsson, die sich hier in der Hochsaison um die Vermietung kümmert. Sie zeigt uns die ganzjährig geöffnete Wanderhütte. »Wir haben aber nicht reserviert«, sage ich. »Hier gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, sagt Kina. »Die kleineren Hütten müssen im Voraus gebucht werden, aber in der großen kann man nicht reservieren. Überweist mir 200 Kronen pro Person, dann kann jeder ein Bett haben.«
Eigentlich wollten wir ja beide Nächte im Zelt verbringen, aber dem Angebot können wir nicht widerstehen. Es gibt eine kleine Küche, Trinkwasser, Feuerholz, insgesamt acht Schlafplätze und zwei Tische mit jeweils vier Stühlen. Wir gehen runter zum See Hävlingen, nehmen ein Bad und bereiten dann unser Mittagessen zu. Am anderen Seeufer liegt Töfsingdalen, einer der am wenigsten besuchten schwedischen Nationalparks. Mit seinem wilden Urwald gilt er als versteckte Perle.
Wir gehen runter zum See, nehmen ein Bad und bereiten unser Mittagessen zu.
Wir lassen die schweren Rucksäcke in der Hütte und nehmen nur die Karte, Energieriegel und Wasserflaschen mit. Es ist völlig windstill, keine einzige Welle kräuselt die spiegelblanke Oberfläche des Sees. Die knorrigen Fjällbirken genießen die Spätsommersonne. Die knallgelbe Wolfsflechte wiegt sich in einem schwachen Windhauch. Nachdem wir über Stege am Ostufer des Hävlingen entlanggewandert sind, kommen wir zu einer Brücke, an der er mit dem See Särsjön zusammentrifft.
Auf der anderen Seite beginnt der Nationalpark. Es kommt uns ganz still vor, obwohl das Wasser unter unseren Füßen dröhnt. Ist es vielleicht das, worum es beim Fjällwandern geht? Die Ruhe? Weit weg vom ununterbrochenen Brausen der Stadt und vom digitalen Alltag. Ohne Termine. Ohne ein Muss. Mit Raum und Zeit, um die Gedanken Wurzeln schlagen zu lassen. Gedanken über die Herausforderungen und Möglichkeiten des Lebens.
Wir haben es geschafft
Als wir zur Hütte zurückkommen, treffen wir ein Paar, das am anderen Ende des Raums zwei Betten belegt hat. Er liegt da, versunken in ein Buch, sie sitzt hinter dem Haus auf einem Felsen, mit Blick auf das Wasser, und malt die Landschaft in Aquarell.
Der Abend ist wie geschaffen für Pilzrisotto, Sauna und Kartenspiele. Wir gehen früh zu Bett und schlafen schnell ein. Morgens füllen wir Holz und Trinkwasser nach, sortieren unseren Abfall und machen die Hütte sauber, bevor wir die Wanderung zurück nach Grövelsjön in Angriff nehmen. Vor uns liegen noch einmal zehn Kilometer. Heute ist es windiger, aber Beine und Rücken sind fit. Zuerst geht es bergauf, dann über den Kamm hinweg und anschließend hinunter zu der Berghütte. Beschwingt erreichen wir unser Ziel – wir haben unser erstes Wochenende in Dalarnas Fjäll ohne weitere Missgeschicke überstanden.
Wandern mit Rücksicht – Tipps vom STF
1. Vorsicht beim Feuermachen
Wähle einen Platz (niemals Felsen), an dem sich das Feuer nicht ausbreitet (am besten Feuerstellen).
2. Abwasch nur an Land
Wasche nicht in Gewässern ab, sondern fülle Wasser ab und nutze biologisch abbaubare Seife.
3. Respekt zeigen
Egal ob Rentier oder Vogel – für Tiere bedeutet es Stress, wenn wir uns nähern. Halte Abstand.
4. Aufräumen
Packe eine Mülltüte ein und nimm deinen gesamten Müll mit, um der Natur nicht zu schaden.
5. Geschäft unter der Erde
Weit weg von einer Toilette? Nutze die Natur aber bitte nur in die Grube, um Tiere und Menschen vor deinen Bakterien schützen.
Josefine Andersson Söderberg arbeitet seit vielen Jahren beim STF Grövelsjön und hat schon zahlreiche zufriedene Wanderneulinge nach ihrer ersten Bergtour in die Hütte zurückkehren sehen. »Hier an der Grenze zu Norwegen sind die Berge freundlich zu allen, auch zu neugierigen Anfängern«, sagt sie. Mein Tipp ist, einfach loszugehen. Du kannst dir so viele theoretische Kenntnisse aneignen, wie du willst, aber erst auf dem Berg lernst du, was du brauchst, damit es dir gut geht, und wie du reagieren musst, wenn du dich überfordert fühlst«, sagt sie.
Nach einer warmen Dusche setzen wir uns ins Hüttenrestaurant, um vor der Heimfahrt am nächsten Morgen unser erstes professionell gekochtes Abendessen zu verspeisen. Wir versuchen, eine Bilanz aus unserer ersten Wanderung im schwedischen Fjäll zu ziehen. Und die einfache Antwort lautet: Es kann kälter und nasser, schwerer und etwas unbequemer sein, als man vermutet. Aber ich glaube auch, dass man es erst richtig genießen kann, wenn man vorher ein wenig kämpfen musste. Man muss es einfach erleben. Per und ich werden wiederkommen.
Die richtige Packliste für eine Fjälltour
Den Rucksack mit den richtigen Dingen zu füllen, ist ein kleiner Trick für sich. Ein häufiger Fehler ist es, zu viel Gewicht mitzunehmen. Du solltest auf jeden Fall dabei haben:
- Unterwäsche aus Wolle/Synthetik zum körpernahen Tragen.
- Eine Shell-Jacke, die auch wasserdicht ist.
- Gut eingelaufene Wanderschuhe.
- Zusätzliche Socken – am besten 2 Schichten, um Scheuerstellen zu vermeiden: eine dünne Wollsocke am Fuß und ein Paar Socken darüber.
- Daunenjacke/Warmer Pullover, Mütze, Handschuhe.
- Saubere und bequeme Kleidung zum Wechseln, plus zusätzliche Unterwäsche.
- Seife, die zum Waschen, Putzen und Geschirrspülen geeignet ist.
- Essen und Trinken. Thermoskanne, Gabel und Löffel.
- Plastiktüte für Abfälle.
- Sitzunterlage für die Pause.
- Reiseapotheke und Erste-Hilfe-Set, einschließlich Blasenpflaster.
- Sonnenbrille, Sonnencreme und Mütze.
- Mückenschutzmittel.
- Bergkarte und Kompass.
- Mobiltelefon und Powerbank
- Taschenmesser, Streichhölzer/Feuerzeug.
- Toilettenpapier + kleine Gartenschaufel zum Ausheben einer Grube.
- Taschenlampe, Stirnlampe.
Mehr Infos findet ihr auch auf: swedishtouristassociation.com