Wir schreiben den 5. Juni. Es ist Grundlovsdagen, dänischer Nationalfeiertag. Und wir können es kaum fassen: Wo sind denn alle? Sie haben doch heute frei? Was machen die Dänen an einem freien Tag? Jedenfalls gehen sie nicht im Nationalpark Thy wandern. Wir aber sind da, irgendwo zwischen Skagen im Norden und dem Limfjord im Süden, auf dem Pfad, völlig allein. Die Sonne scheint, der Wind fächelt uns kühlende Brisen zu. Dann kommen Wolken und einige Regentropfen. Manchmal heftige Windstöße, die uns samt unserer Rucksäcke wegtragen und in einer weichen Sandgrube zu Fall bringen wollen.
Als Leila, Emma und ich auf dem Leuchtturm in Lodbjerg stehen und die Aussicht genießen, werden wir fast umgeweht. Wenig später lässt der Wind nach und wir wandern los. Auf einem Weg, der eine kleine Forststraße ist und sich dann in einen ausgetretenen Pfad verjüngt, um immer sandiger zu werden, bis er teilweise nur noch aus einem Steilhang Sand besteht, an dem wir uns unter Einsatz von Po- und Oberschenkeln auf die nächste Düne hinaufkämpfen – zum nächsten atemberaubenden Ausblick. Die Weite ist magisch.
Man ist ja immer in Versuchung, Vergleiche mit anderen Orten anzustellen, und die steilen Hänge, die dieser Küstenstreifen überall dort bildet, wo die grasbewachsenen Dünen zum Sandstrand abfallen, lassen an die Küsten Irlands oder des Baskenlandes denken. Aber das hier ist Dänemark, Schwedens südlicher Nachbar, nicht gerade als spektakuläres Wandergebiet bekannt. Trotzdem bleibt es uns ein Rätsel, warum uns dieses Fleckchen Erde bisher entgangen ist. Und weshalb anscheinend auch niemand, den wir kennen, etwas davon weiß, dass es einen schlummernden Nationalpark in Nordwestjütland mit überwachsenen Sanddünen gibt, die aussehen wie Heidelandschaften im Fjäll, mit Meeresgischt besprüht.
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Heimatlose Nadelwälder
Am Tag zuvor befinden wir uns ganz oben im nördlichsten Teil von Thy, in der Nähe des Fischerdorfes Hanstholm, wo wir mit Ditte Svendsen verabredet sind, einer Försterin bei der Natur- und Waldschutzbehörde. Am Rand des Wildreservats, das dort schon im Jahr 1949 eingerichtet wurde, stößt sie zu uns. Hier leben unter anderem Rothirsche, Rehe, Fischotter, Kraniche – und natürlich eine Menge kleinerer Vogelarten, die passionierte Ornithologen von nah und fern anlocken.
Ein Wanderweg führt zu den Aussichtsplätzen, von denen man einen Panoramablick über das Reservat hat. Hier sind wir jetzt unterwegs, dicht auf den Fersen unserer kundigen Begleiterin. Nachdem wir an einem malerisch gelegenen Windschutz vorbeigekommen sind, deutet Ditte auf eine Wiese: »Hier soll ein Lagerfeuerhaus entstehen.« Sie benutzt das dänische Wort »bålhus«, und kurz rotieren unsere Gedanken: Was hat sie gesagt? War es ein »badhus« (dt. Badehaus)? Oder »bollhav« (dt. Bällebad)? Wenn drei Schwedinnen in Dänemark auf Tour sind, müssen sie manchmal ein wenig nachdenken, bevor der Groschen fällt. Während Dänen Schwedisch problemlos verstehen, ist es andersherum nicht ganz einfach, die in schwedischen Ohren etwas undeutliche dänische Sprache gänzlich zu erfassen.
Ditte hat viel Geduld. Mit uns, aber auch was die Arbeit betrifft, die notwendig ist, um einen Nationalpark anzulegen. Thy ist nämlich nicht nur »Dänemarks größte Wildnis«, die sich von Agger im Süden bis Hanstholm im Norden erstreckt, sondern auch der erste Nationalpark des Landes, und er wurde erst 2008 eingeweiht. Die Vorarbeiten begannen jedoch schon 2002 und Ditte war von Anfang an dabei. War das ein schwieriger Job? »Ich habe mit den Leuten hier in der Gegend jede Menge Kaffee getrunken«, lautet Dittes vielsagende Antwort. »Aber ich bin es gewohnt, geduldig zu sein. Ich bin ja im Wald ausgebildet worden. Und der Wald ist extrem langsam.«
Sie erklärt uns die Farbfelder auf der Karte. Das Dunkelrote ist staatlich verwaltete Heide- landschaft, dort darf man die Wege verlassen und auch nachts herumlaufen. Dunkelgrün sind staatliche Waldpflanzungen, Hellgrün ebensolche in Privatbesitz. Hellrosa steht für privaten Heidegrund und die gestrichelten Flächen sind Vogelschutzgebiete. Ansonsten ist die Gegend geprägt durch Landwirtschaft, Sommerhäuser, Surfstrände, Fischereihäfen – und vor allem durch die überwachsenen »klitter« (dt. Sanddünen). Diese welligen Hügel, in sämtlichen Grünschattierungen, gespickt mit hellen Strähnen, sehen aus, als kämen sie direkt aus dem Friseursalon mit einer feschen Achtzigerjahrefrisur: Wir können uns nicht sattsehen. Manchmal ist es nicht nur Gras, das dort wächst, sondern eine Insel aus Wald, eine sogenannte Dünenplantage.
Im Jahr 1816 fing man an, hier Bäume zu pflanzen, in erster Linie, um der Sandverwehung entgegenzuwirken. Seitdem haben Sitka-Fichten und Küstenkiefern sich über das ganze Gebiet verbreitet und allmählich wurde aus den Dünenplantagen ein Wirtschaftswald für die Produktion von Bauholz, Nutzholz oder Weihnachtsbäumen. »Jetzt sind wir dabei, den angepflanzten Nadelwald zu entfernen«, sagt Ditte, »denn er gehört ja im Grunde nicht hierher. Wir ersetzen ihn durch Laubbäume, die hier ursprünglich beheimatet waren. Aber es dauert natürlich, bis sie herangewachsen sind.«
Auszeit im Nationalpark
Als der dänische Nationalfeiertag in den Nachmittag übergeht, haben wir aus reiner Entdeckerlust schon eine ganze Menge Umwege und Extratouren abseits der Wanderpfade unternommen. Wir haben uns ans Meer verirrt, sind auf hohe Dünen gestiegen und durch knisterndes, kniehohes Gras gestapft, um dann immer wieder auf unsere Hauptwanderroute zurückzukehren, den Redningsvejen, der in Nord-Süd-Richtung durch den Nationalpark führt und mit einem stilisierten Rettungsboot markiert ist.
Die Landschaft sieht hier zeitweise exakt aus wie im schwedischen Fjäll.
In Lyngby machen wir Rast an der alten Rettungsstation. 1882 erbaut für den Einsatz bei Schiffsunglücken, ist sie heute ein einfacher Übernachtungsplatz mit ein paar Stockbetten, Toilette und Kochplatte. Wir füllen unsere Wasserflaschen nach, sitzen eine Weile auf der Bank vor dem Haus – und erschrecken, als jemand vorbeigeht. »Was war das denn? Ein Jugendlicher?«, fragt Emma erstaunt. Wir sind alle überrascht. Denn uns ist kaum eine Men- schenseele begegnet, nachdem wir, bevor wir losgingen, in Klitmøller vorbeigefahren sind, um in dem fast märchenhaft anmutenden ökol- ogischen Lebensmittelladen ein paar Snacks zu kaufen. Was in Klitmøller zählt, ist Surfen und Umweltbewusstsein. In der Hochsaison, hört man, herrscht in dem süßen kleinen Surferdorf dichtes Gedränge, aber an diesem Morgen war es so still wie in Stockholm am Mittsommertag. Wer den Nationalpark ganz für sich haben will, hat offenbar Anfang Juni das große Los gezogen.
Wir wandern weiter, nähern uns der Dünenwaldplantage Stenbjerg und wenig später finden wir unseren Übernachtungsplatz. Dort, wo sich der moosgrüne Wald zu einer schönen Lichtung öffnet, gibt es einen Windschutz, eine Feuerstelle mit Bänken, eine ebene Fläche für das Zelt und massenhaft Feuerholz. Sogar eine Axt und Anzünder. Es tut gut, das Gepäck abzulegen. Wir haben tatsächlich Matjes, Lachs und Kartof- feln mitgeschleppt und damit nicht genug: Brot, Butter, Crème fraîche, Gemüse. Leila ist für den Speiseplan zuständig und am Gewicht wird nicht gespart. »Das ist jetzt Hygge«, stellt sie fest, als das Feuer brennt und das Essen serviert ist. Man kann nicht anders, als den dänischen Ausdruck zu bekräftigen. Es ist Hygge. Es ist total gemütlich.
Die Nordsee ist kalt, aber wundervoll. Die Abkühlung aktiviert Adrenalin im Körper.
Als wir gegessen haben und die Glut allmählich verglimmt, bremst ein Auto auf dem Kiesweg gleich neben der Lichtung. Drei junge Männer, die nicht direkt auf einer Wanderung sind, aber beschlossen haben, irgendeine Art von Ausflug in Dänemarks größte Wildnis zu machen, stolpern herbei und überlegen eine Weile, ob sie den Windschutz in Beschlag neh- men sollen. Sie haben einen Kasten Bier dabei. Aber sie merken, dass wir im Begriff sind, in unser Zelt zu kriechen und dass wir aussehen wie schwedische Frauen, die beim Schlafen ihre Ruhe haben wollen. Sie ziehen weiter.
Fast wie daheim
Den Frühstückskaffee noch in einer Hand, versuche ich mit der anderen, die Sachen zu sortieren, die in den Rucksack müssen. Wir verabschieden uns von der schönen Lichtung mit der perfekten Organisation (gerade wurde der Müll abgeholt) und wandern in nördlicher Richtung weiter. Heute ist der 6. Juni, Schwedens Nationalfeiertag, und während wir über eine blühende Wiese laufen, singen wir, dass wir im Norden leben und sterben wollen. Auch in Dänemark passt das hervorragend – und wir sind ziemlich sicher, dass uns keiner hört. Noch immer ist außer uns niemand auf Wan- derschaft. Wir können auf jeden Fall behaupten, dass wir feiern – auf unsere Art. Zum Beispiel, indem wir uns einige Zeit bei den hübschen Fischläden in Stenbjerg aufhalten.
Danach müssen wir einen Kilometer an der Autostraße entlanggehen, vorbei an Pferdekoppeln und reizenden Bauernhofidyllen – doch bald sind wir schon wieder auf einem Pfad in unserer Lieblingsumgebung zwischen strubbeligen Sanddünen. Die Landschaft sieht hier zeitweise exakt aus wie im schwedischen Fjäll, mit bodendeckendem Bewuchs von Heidekraut, Moosbeeren und Strauchflechten. Wir hätten ebenso gut auf einem Hochplateau über der Baumgrenze sein können. Jetzt sind wir froh, dass wir uns in Wirklichkeit in Westjütland befinden, wo ein Bad im Meer nur einen kurzen Abstecher entfernt ist. Heute ist es nämlich wärmer und der Wind etwas sanfter, zumindest im Augenblick. Schließlich wird es so warm, dass der Abstecher unvermeidlich wird. Wir müssen baden.
Die Nordsee ist kalt, aber wundervoll. Die Abkühlung aktiviert Adrenalin im Körper und nachdem der erste Kälteschock sich gelegt hat, breitet sich ein herrliches Gefühl der Entspan- nung aus. Wir picknicken und sitzen dann einfach nur zurückgelehnt am Sandstrand und genießen. Natürlich ganz allein. Bis unerwartet ein Amerikaner auf uns zukommt und uns mit »hej!« begrüßt. »Nur dass ihr es wisst, da zieht ein Gewitter auf«, sagt er und zeigt nach Süden. Wir schauen uns um. O Schreck! Der Himmel sieht aus wie ein böser blauschwarzer Bluterguss, der Stück für Stück bis zum Strand vordringt. Wir schnappen unsere Sachen und laufen, so schnell es geht, in Richtung Nørre Vorupør. Rein in das hübsche Dorf, wo Metzger, Bäcker und Cafés ausgeschildert sind. Genau in dem Moment, als es anfängt, wie aus Eimern zu gießen, schaffen wir es unter ein schützendes Dach. Es donnert und blitzt. Der Regen, der herunterstürzt, löscht die Welt aus. Dann hört es plötzlich auf und die Sonne schaut hervor. Auch das Wetter ist wie im schwedischen Fjäll und so fühlen wir uns fast wie zu Hause, hier im Natonalpark Thy, der uns immer mit einem so unerwartet fantastischen Sanddünenwander- panorama in Erinnerung bleiben wird.