Ein junges Paar sitzt an einem Windschutz in Tyresta und hat ein Feuer entfacht. Etwas entfernt parkt ein geländegängiger Kinderwagen. Ein älteres Ehepaar freut sich über sein erstes Enkelkind. Die Mutter lässt eine Hand auf dem Kinderwagen ruhen, während die andere einen Golden Retriever an der Leine hält, dessen gelbbraunes Fell Ton in Ton mit den fallenden Birkenblättern harmoniert. Der Mann am Feuer stochert ein wenig ungeduldig in dem brennenden Holz, das noch einen langen Weg vor sich hat, bis es glühen wird. »Das ist die beste Wanderung in der Nähe von Stockholm«, sagt er. »Wunderschön und friedlich. Mit dem Bus in die Wildnis fahren zu können, ist herrlich.« Die Frau neben ihm inspiziert die Flammen. »Komisch, dies Wildnis zu nennen. Ich komme aus Sundsvall, da ist Wildnis was anderes.«
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Brandheisse Wälder
Was sie meint, bleibt unklar. Vielleicht darf eine Feuerstelle nicht nur einen kurzen Spaziergang von einer Bushaltestelle entfernt liegen? Vielleicht sollte Wildnis weiter als eine Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus dem Stadtzentrum entfernt sein? Dass Urwald und Zivilisation stärker voneinander getrennt sein müssen – so wie in Sundsvall? Eine Schar Kormorane fliegt nach Süden und verlässt vermutlich eine ganze Barschbucht leergespeist. Tiefer im Nationalpark treffen wir auf eine Grenze – den Übergang zwischen grünem Wald mit seinem weichen Unterholz und einer von einer Katastrophe gezeichneten Landschaft: verkohlte Erde, Reisig und winzige Bäume. Der Brand im Tyresta-Nationalpark ist immer noch deutlich zu erkennen, auch wenn seit dem 1. August 1999, als hier ein großes Feuer ausbrach, viele Jahre vergangen sind. Wenn man zur Spezies gehört, die es liebt, wenn es brennt, dann ist der katastrophale Beginn des Lebens etwas Natürliches. Wenn es um Artenvielfalt geht, so wissen einige von uns, dass es neben Wäldern auch Weiden und Feuchtgebiete bedarf. Was aber den Wenigsten bewusst ist: Zudem werden Katastrophen benötigt. Es gibt Arten, die von Überschwemmungen profitieren, und andere, die gerne in Stämmen niedergewehter Bäume hausen. Und dann gibt Spezies es wie die Rußkäfer, die Feuer lieben.
Freigelegte Kiefernwurzeln bilden ein kompliziertes Muster.
Auf einer Anhöhe in dieser Landschaft aus wie Mikadostäbe übereinander gestapelten Stämmen steht ein enthusiastischer Lehrer und zählt die in kleinen Kolonnen vorbeischlendernden Schüler: rote Wangen, schwankende Rucksäcke, baumelnde Isomatten und Mobiltelefone in den Händen. »Als wir aus dem Bus stiegen, sagte ich, dass sie ihre Handys weglegen sollen. Dass wir das Hier und Jetzt genießen wollen. Aber egal, es scheint ihnen trotzdem Spaß zu machen.«, sagt er und schmunzelt belustigt. Zwei Mädchen wollen wissen, ob es noch weit ist. Sie sind erleichtert, als sie herausfinden, dass sie bald zurück sind. Auf die Frage, was das Beste in Tyresta war, antwortet die eine: »Das ist einfach cool! Eine echte Zombielandschaft.« Die jüngere Generation hat offensichtlich ihre eigenen Referenzen. Die Schulklasse schlendert weiter. Wieder herrscht Stille. Der Blick auf den See Stensjön mit seinen beiden Felsen, die sich im Wasser spiegeln, ist magisch. Mehr Natur kann es außerhalb Sundsvalls auch nicht geben, denken wir.
Die Weisheit der Biber
Zurück im vom Feuer verschonten Wald herrscht eine andere Luftfeuchtigkeit. Freigelegte Kiefernwurzeln bilden ein kompliziertes Muster wie die runzligen Handinnenflächen eines alten Menschen – eine gezeichnete Erinnerung daran, die meisten Dinge erlebt zu haben. Wir essen Schokolade auf einer Anhöhe an einem See. Auf der anderen Seite springt ein Mann ins Wasser. Aus der Ferne sieht es aus wie ein Ritual. Entschleunigung, ein paar stille Schwimmzüge. Trockene Espenblätter fallen knisternd zu Boden, ein Geräusch, das im Rest des Jahres nicht existiert. Kaltes Wasser trifft auf das steinerne Ufer, ein klirrender Laut. Felsen und Bäume sind von doppelt gestreiften Linien gezeichnet, die die Eishöhe des letzten Winters markieren. Eine Espe wird von einem Biber zernagt. Der Baum steht wie eine Skulptur, eine Installation in der Natur. Weiter geht es durch verzauberte Gebiete aus Moosen und Flechten. Eine Ringelnatter sonnt sich auf einem Felsen, der säuerliche Geruch von Wildschweinen liegt in der Luft, ein Fisch hüpft aus dem See und landet wieder unter der Wasseroberfläche. Neue Biberspuren tauchen auf – eine Reihe gefällter Bäume von nahezu mechanischer Präzision mit ihren Kronen im Wasser. In einem Nationalpark soll man die Natur in Ruhe lassen, sie sein lassen. Doch in den meisten Fällen ist der Mensch immer noch mit von der Partie, will sie ein wenig feiner gestalten, als sie es sich selbst wünschen würde. Deshalb werden Bäume weggeschafft, die der Biber liegen ließ. Und das, obwohl es Biberarten gibt, die fünf Millionen Jahre alt sind, deutlich älter als der Mensch, was dem Tier einen Vorrang im Hinblick auf die Naturgestaltung geben sollte. Biber mögen chaotische Milieus, während der Mensch aufgeräumte,
parkähnliche Anlagen bevorzugt. Eine Runenmalerei auf einem Felsen ähnelt einem Dreizack. Vielleicht lebte hier vor Tausenden von Jahren ein Fischer, als der See noch Teil des Ozeans war. Womöglich war dies sein Wohnzeichen?
Behütende Stille
Neuer Pfad. Ein bisschen wildere Natur. Es gibt Kaffee und Apfelkuchen an einer Schutzhütte in traumhafter Lage mit Blick auf den See. Das ist ein blauer Abschnitt zwischen allen Farben des Waldes. Drei Männer sammeln Pilze. Wie Kinder, die stolz ein Bild präsentieren, zeigen sie ihre Ernte. »Letztes Jahr waren da noch mehr«, sagt einer. »Aber für ein Sandwich reicht es«, sagt der andere und zeigt auf ein Dutzend gelbe Pfifferlinge. Dann verschwinden sie im Wald, der sie sofort in Stille hüllt.
Aus der Ferne sieht es wie ein Ritual aus. Entschleunigung.
Die Sonne geht im Südwesten unter und nähert sich den Baumwipfeln. Es ist früher Abend. Wir weichen vom Weg ab, gewinnen an Höhe und stehen jetzt zwanzig Meter über dem See. Eine eiszeitliche Mörane liegt vor uns wie der Rücken eines schlafenden Drachen. Könnte das der schönste Fleck im gesamten Tyresta-Nationalpark sein? Die Schatten werden in rasender Geschwindigkeit länger. Die Schüler krabbeln in die Zelte, wo sie sich vermutlich Gruselgeschichten von Zombies erzählen. Das junge Paar hat wohl eine Herberge zum Schlummern gefunden. Das Baby ist sicher zu Hause in seinem Bettchen. Und die Pilzesammler lassen sich vielleicht ihre Beute an einem Windschutz schmecken. Andere nehmen den Bus zurück in die Stadt – zwischen Urwald und Zivilisation gibt es keine Lücke mehr.