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Zwei von vier Klassiker-Wettbewerben liegen bereits hinter ihm – für Herausforderung Nummer drei muss Michael Tjelder sich nun aufs Fahrrad schwingen und 300 Kilometer um den Vättern-See fahren.
Erst an der Startlinie sehe ich ein, dass ein wenig Schlaf vor dem Wettkampf nicht geschadet hätte. Ein technisch mit allen Finessen ausgestatteter Radler aus Hudiksvall grinst über meine nachdenkliche Frage, wie es denn möglich sei, sich die ganze Nacht über wach zu halten. Wie sich herausstellt, sind er und seine Fahrradkollegen mitten in der Nacht in Norrland gestartet, haben ihr Zelt nach der Ankunft gleich beim Start aufgebaut und sind dann
für ein paar Stunden in einen wohligen Schlaf gefallen.
Als um 21.29 Uhr der Startschuss fällt, meine ich, irgendwoher die Melodie zu »The Lion sleeps tonight« zu hören. A-Wimoweh, A-Wimoweh … irgendwie muss ich das jetzt hinkriegen.
Der regenschwere Himmel, der tagsüber drohend über dem See gelegen hatte, war einem schönen, aber kalten Sommerabend gewichen. Die Strecke aus Motala hinaus geht leicht bergab und die Geräuschkulisse, die Hunderte Fahrradnaben im Ruhezustand erzeugen,
erinnert mich an Grillenzirpen.
Im Jahr 1966 stellte der Sportarzt Sten-Otto Liljedahl aus Motala – im Volksmund auch Fahrraddoktor genannt – zusammen mit dem Fahrradhändler Ewert Rydell die Richtlinien für den Wettkampf auf, der heute das weltgröß- te Fahrradrennen für Hobbysportler ist. Damals herrschte in Schweden noch Linksverkehr und die ersten Rennen wurden daher gegen den Uhrzeigersinn um den See bestritten. Erst 1974 wurde die Richtung gewechselt, nachdem es beim Rechtsverkehr zu viele Unfälle gegeben hatte. Heute ist die Vätternrunde eine Institution, die jedes Jahr über 20 000 Teilnehmer aus über 30 Ländern anlockt.
Auf der Webseite der Veranstalter habe ich gelesen, dass man an neun sogenannten Depots entlang der Strecke etwas essen kann – sogar unterschiedliche und mehr oder weniger originelle Gerichte. Die Statistik verrät, dass die Radfahrer während des Rennens 13 000 Portionen Lasagne, 160 000 Zimtschnecken, 1 200 Kilo Kaffee und
3 000 Kilo saure Gurken vertilgen!
Das einzige, was die Stille über den Wiesen bei Ödeshög durchbricht, ist das Blaulicht der Rettungswagen. Ich fahre an einem Mann vorbei, der gerade hingefallen ist und bei dem sich einige Knochen nicht mehr da befinden, wo sie eigentlich hingehören. Doch Sicherheit wird bei der Vätternrunde großgeschrieben – niemand darf ohne Helm und funktionierendem Vorder- und Rücklicht an den Start. Ich mache bei einem Depot halt. Saure Gurken, Zimtschnecken und Bananen werden während der dunklen Stunden meine Wegzehrung sein.
Komisch, dass einem die Nacht so auf die Stimmung schlagen kann. Es wird kälter und das Ziel scheint noch unendlich weit weg zu sein. Radfahren ist tatsächlich unwahrscheinlich langweilig und die Publikumshorden, die an den ersten Kilometern nach Motala die Strecke säumten sind in meiner Wahrnehmung schon nicht mehr richtig existent.
Dort saßen die Leute mit einem Bier in der Hand,
einige auch mit ihrem gesamten Abendessen am Straßenrand, die Kinder riefen sich Give me five zu und es gab kameradschaftliche Schläge auf den Rücken und Wärme. Irgendjemand hatte sogar hopp, hopp Armstrong gerufen. Doch jetzt – mitten in der Nacht und nur von Grillen umgeben – fühle ich mich einsamer als je zuvor.
In Jönköping muss man sich ein bisschen vor torkelndem Partyvolk in Acht nehmen, bevor einem dann vor dem Eisstadion des Jönköpinger Eishockeyvereins hv 71
heiße Würstchen mit Kartoffelbrei serviert werden.
Pünktlich beim Anstieg nach Fagerhult auf der westlichen Seite des Sees kündigen die ersten Sonnenstrahlen einen neuen Tag an. Fast falle ich dann selber vom Fahrrad, als ich versuche, mich mit Startnummer 2 382 zu unterhalten, der zum 15. Mal dabei ist. Er berichtet mir von einem Wettkampf, an dem es den ganzen Weg von Hjo nach Motala geregnet hat.
»Nicht so witzig«, sagt er lakonisch. Sollte das heute wieder passieren, fahre ich auf direktem Weg zurück zu meinem Wohn- wagen in Motala. Irgendwann muss ich mal eine Pause machen und werde in ein Zelt am Straßenrand eingeladen. Ich befinde mich in einem fast komatösen Zustand. Vor meinem inneren Auge sehe ich ein Bild
des Radprofis Francesco Moser, der 1977 gemeinsam mit seinen italienischen Helfern dem Schweden Gösta Fåglums den Streckenrekord abluchste.
Für diese Leistung brauchte er sechs Stunden und 23 Minuten. Nach einer Stunde weckt mich jemand.
Leider stelle ich fest, dass über die Hälfte der Strecke noch vor mir liegt.
Als es Zeit für die klassische Lasagne in Hjo ist,
sehe ich eine andere Fahrradlegende am Nebentisch
– den Olympia- sieger Bernt Johansson.
Ich fühle mich fast verpflichtet, hinzugehen und ihm für seine Last-Minute-Tipps in einer schwedischen Fahrradzeitschrift zu danken, die speziell an die gerichtet waren, die nicht ausreichend trainiert sind. Doch mir fehlen die Kräfte. Nach der Lasagne fühle ich mich etwas besser. Auch das schöne Wetter trägt sicher dazu bei, dass meine Beine wieder zum Leben erwachen und ich mir wieder ausmale, dass ich irgendwann das Ziel erreiche.
Überdosis Adrenalin über 300 Kilometer
Die unterschiedlichen Leistungsphasen der Teilnehmer zeigen sich deutlich, wenn wieder in regelmäßigen Abständen erschöpfte Radfahrer am Wegesrand liegen, die in der Vormittagssonne ein Nickerchen machen. Kurz nach Karlsborg kapiere ich endlich, welche Vorteile es hat hinten im Pulk zu fahren. Ein mitteilungsfreudiger Kollege aus Falun erzählt mir, dass sein Kumpel schon über alle Berge sei und wohl weniger als acht Stunden bis ins Ziel braucht. »Finde ich ziemlich langweilig. Es ist doch viel netter im großen Pulk zu fahren und sich die Zeit mit Unterhaltungen zu vertreiben«, sagt er.
Seit mehreren Jahren versucht er sich schon am Schwedischen Klassiker – bis jetzt leider aufgrund von Krankheiten und abgesagten Rennen ohne Erfolg. Doch immerhin liegt sein Wettkampfgewicht nicht mehr bei 123 Kilo, was er 1999 auf die Waage brachte, als er ein Ticket für den Wasalauf zu Weihnachten bekam.
Aus irgendeinem Grund sind die letzten Kilometer leichter als erwartet und ich schicke einen Dank an die höheren Mächte, dass ich kein neues 1981 erleben musste. Nach der Legende war das die schlimmste Vätternrunde aller Zeiten mit »kräftigen Winden und Sturm, beißender Kälte, peitschendem Regen in Kombination mit Schneeschauern. Viele gaben auf« stand im Jubiläumsbuch der Motala Zeitung.
Doch das hier war eine ganz gewöhnliche Vätternrunde mit neuen Rekorden bei den Anmeldezahlen, Startern und der Anzahl derer, die es bis ins Ziel geschafft haben.
Jetzt ist nur noch ein Wettkampf übrig, bevor ich den Schwedischen Klassiker komplett in der Tasche habe:
das Schwimmen in Vansbro. Das soll sogar der leichteste Wettkampf sein. Was für ein Glück.
In der nächsten Ausgabe entscheidet sich alles.
Wird Michael Tjelder es schaffen, auch den letzten Wettkampf erfolgreich zu Ende zu bringen?