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Eigentlich wollte NORR-Redakteur Philipp Olsmeyer an einem grauen Winterwochenende seinen Flur bunt streichen. Stattdessen beschließt er, mit Freunden in Sörmland zu wandern. In einer stillgelegten Zeche trifft er auf Kulturliebhaber, Multitalente und weit gereiste Gäste.
»Das ist so heftig im Wald. Viel besser als in Gamla Stan«, ruft Moa, als wir von der Landstraße abbiegen und das Schild mit der Aufschrift »Skottvågns Gruva« passieren. Die Stimmung im Auto hat sich in den letzten Minuten deutlich aufgehellt. Der Schneematsch, den die Scheibenwischer lange Zeit seufzend von links nach rechts geschoben hatten, ist aus dem Sichtfeld verschwunden. Stattdessen liegt ein diesiger Nebel über Straße und Bäumen. Bald tauchen die Gebäude des alten Grubengeländes auf. Auf der Wiese vor dem Förderturm stehen Kanonen und Metallskulpturen. Das Wirtshaus im alten Maschinenhaus schlummert vor sich hin. An der Holzfällerhütte, in der wir die Nacht verbringen wollen, werden wir schon nervös erwartet. »Jetzt aber mal los«, ruft Karin, unsere Fotografin, »gleich wird es dunkel.« Es ist 11 Uhr.
Wandern und Rock ‘n’ Roll – der Flur kann warten
Zeiten wie diese, in denen es schon dunkel wird, obwohl es noch gar nicht hell war, und in denen sich die Natur nicht entscheiden kann zwischen Herbst und Winter, Schnee und Regen, Grau und Braun, machen es uns nicht gerade leicht, sie zu lieben. Man kann sie ignorieren – auf dem Sofa, mit einer schönen Doku im Fernsehen. Oder man kann versuchen, sie effektiv zu nutzen. Ida und ich hatten eigentlich für dieses Wochenende Farbe und Kinderbetreuung organisiert, um endlich den Flur zu streichen. In Türkis. Doch dann kam die Mail von Gabriel. Ob wir Lust und Zeit auf »Wandern, Wirtshaus, Rock & Roll« hätten, so ganz spontan. In Åkers Bergslag, rund eine Autostunde südwestlich von Stockholm, gäbe es ein Wirtshaus in einer stillgelegen Zeche mit legendärem Weihnachtsbuffet und hochklassigen Livekonzerten. Man könnte einen Teilabschnitt des Sörmlandsleden wandern, durch Wälder und an schmalen Seen entlang, in der Sauna schwitzen und Glögg trinken, lecker essen und trinken und gute Musik hören. Klar haben wir Zeit – der Flur kann warten.
Auch Moa, eine befreundete Mutter aus der »Dagis« (Kita) unserer Kinder hat ihre Pläne verschoben, um mit dabei zu sein. Eigentlich wollte sie an ihrem kinderfreien Wochenende Weihnachtsgeschenke in Gamla Stan kaufen. Nun schleppt sie ihre Sachen vom Auto in die Baracke und schmeißt ihren Schlafsack auf die Pritsche. Es ist düster und kalt. Die Sitzecke mit rustikalem Tisch und die einfachen Etagenbetten sind das einzige Mobiliar der schlichten Waldarbeiterstube. Ida holt Holzscheite von draußen und füttert damit den kleinen Ofen. Als kurz darauf die Flammen lodern und sich unsere Klamotten im Raum verteilen, wirkt alles schon viel wärmer und wohnlicher.
Industriekultur in Skottvångs Gruva
Wir machen uns auf den Weg Richtung Sörmlandsleden. Inzwischen ist auch das alte Maschinenhaus aus dem Schlaf erwacht. Dumpf dröhnen uns von dort Bässe und Schlagzeug-Beats entgegen. Soundcheck für den Abend. Mit Orten wie Skottvångs Gruva, denke ich, ist es im Grunde genau wie mit unserer Hütte: Sie brauchen Menschen, die sie mit Leben füllen und das Feuer in Gang halten. Dafür gibt es den Grubenverein, der mit Führungen, Aktivitäten und historischen Nachbauten zeigt, wie in Skottvågn über 400 Jahre die Eisenerzförderung den Alltag bestimmte. Und es gibt Maria Bysted und Janne Holmberg.
2006 ließen die beiden ihr Stockholmer Leben hinter sich und übernahmen das Wirtshaus auf dem historischen Areal. Maria ist in der Nähe aufgewachsen, und der Gedanke, hier eine lebendige Kulturszene aufzubauen, ließ sie nicht los. Janne hatte durch seine Arbeit beim »Kulturhuset « in Stockholm beste Kontakte in der Musik- und Theaterszene – das wichtigste Kapital damals wie heute: »Wir suchen die Künstler aus, die zu uns passen. Und wir bekommen sie auch hierhin«, sagt Janne. Stefan Sundström hat hier schon gespielt und das Nationaltheater. Heute stehen die Ballroom Band und der international erfolgreiche Singer-Songwriter Christian Kjellvander auf dem Programm.
Wir folgen den rot-blauen Markierungen hinein in den Wald. Der Sörmlandsleden, Schwedens größtes Wanderwegsystem, macht hier an seiner 15. Etappe eine neun Kilometer Extraschleife, genannt »Stenhoggarmon«. Je weiter wir wandern, desto mehr wird der Kultur- zum Naturpfad. Anfangs begleiten uns Kunstinstallationen am Wegesrand. Ein Schild fragt: »Hast du die Kaffeemaschine ausgemacht?« Wir passieren Birkenwälder, die sich übergangslos in die weiß gesprenkelte Landschaft einfügen. Jeder unserer Schritte hinterlässt stempelartige Abdrücke im dünnen Schneematsch.
»So grün kann der Winter sein«
Ein Informationsschild markiert die Grenze zum Naturreservat Marviken. Hier verlässt man den zum Grubenareal gehörenden Wald und betritt einen Urwald aus hochgewachsenen Nadelbäumen, der sich bis ans Ufer des mittleren Marviken-Sees erstreckt. Schlangenartig windet sich der braune Weg durch den dichten Moosteppich, der in sanften Wellen Waldboden und Wurzeln, Felsen und umgekippte Bäume überzieht. »So grün kann der Winter sein«, denkt Moa laut, als wir kurz innehalten, um das sich uns bietende Bild zu genießen. »Besser als in Gamla Stan?«, frage ich. »Absolut.«
Kurze Zeit später stehen wir am Rande des Sees und schauen auf die dünne Eisschicht, die den schmalen See überzieht. »Eigentlich wollte ich ja Kanu, Wirtshaus, Rock’n’Roll’ machen«, verrät Gabriel. Aber angesichts der Wasserverhältnisse sei er nun doch ganz zufrieden mit dem Beschluss, wandern statt paddeln zu gehen. Unter anderen Umständen ist das Kanu in dieser Gegend allerdings eine Top-Alternative. Von Åkers Styckebruk, rund fünf Kilometer nördlich von hier, gelangt man über die Seesysteme Marviken, Klämmingen und Sillen bis nach Vagnhärad. Wie ein Riss ziehen sich die Gewässer, die in der Vergangenheit als Verbindung zwischen Meer und Mälaren dienten, durch die Landschaft.
Müde Paddler und Sörmlandsleden-Wanderer finden am mittleren Marviken einen Rastplatz mit Schutzhütte für die Nacht. Uns bleibt nur Zeit für einen kurzen Kaffee. Es dämmert, und wir wollen noch auf den Aussichtsturm. Die Holzkonstruktion steht auf jenem Hochplateau, dem diese Schleife des Sörmlandsleden ihre Bezeichnung »Stenhoggarmon« verdankt. Hier wurde einst der spezielle »Ställsten« für den Bau von Hochöfen aus dem Fels gehauen. Man kann sich vorstellen, dass der Blick von der Spitze des Turmes bei klarem Himmel spektakulärer ist als an einem trüben Winternachmittag wie diesem. Und dennoch hat das grau-grüne Panorama mit dem dünnen Nebelstreifen zwischen den Baumwipfeln seine eigene jahreszeitliche Schönheit.
Als wir die befestigte Straße erreichen, ist es fast dunkel. Die letzten drei Kilometer zurück nach Skottvågns Gruva sind der vielleicht aufregendste Teil des Ausflugs – der Fahrstil der jungen Landbevölkerung am Samstagabend ist berüchtigt. Dennoch erreichen wir bald darauf sicher unsere Hütte. Moa legt Feuerholz nach. Kerzen werden angezündet. In Skiunterwäsche rutschen wir in die Sitzecke, um auf den Tag anzustoßen – und auf die Nacht, die kommt.
Das Maschinenhaus läuft inzwischen auf Hochtouren. Die Tische sind gedeckt. Das Weihnachtsbuffet sieht fantastisch aus. Und auf der Bühne warten die Instrumente auf ihren Einsatz. Der Saal ist warm und voller Farbe. »Sieben Jahre machen wir das nun schon«, sagt Janne und wirkt selbst ein wenig überrascht von der Zahl. An Abenden wie diesem ist im Wirtshaus in der Regel jeder Tisch ausgebucht. Entsprechend viel gibt es zu tun. Und doch ist man bei aller Betriebsamkeit relativ entspannt. »Wir arbeiten schon lange zusammen und sind wie eine große Familie. Hier ist es wichtig, dass jeder jedem hilft. Man muss alles sein.«
Kein Wunder, dass die Grube Menschen mit vielen Talenten anzieht. Henrik zum Beispiel, der gerade ein Tablett mit Heringsgläsern in Richtung Buffet balanciert: »Unser Koch, Glasbläser, Feuerschlucker und Bassist.« Ein weiteres Multitalent treffen wir wenig später in der Glasbläserei. Ulf, Marias Vater, gilt als Mann für alle Fälle. Jetzt sitzt er zwischen Glaskunst und Blaswerkzeugen und versorgt die ankommenden Gäste mit Glögg. »Surgubbe« (dt. Sauertopf) steht auf seinem Hut – was zwar nicht passt, aber doch spüren lässt, wie wichtig Charakter und Originalität in Skottvågns Gruva sind. Zur Identität des Ortes gehöre es, so Janne, dass man der sein kann, der man ist. Als wir Ulf nach dem Geheimrezept für seinen Glögg fragen, meint er: »Ordentlich Alkohol. Ansonsten keine Experimente.«
Wenig später sind alle Gäste ins Wirtshaus weitergezogen. Der Saal ist voller Leben. Stimmen füllen den Raum. Teller wandern liebevoll gefüllt vom Buffet an ihre Plätze. Wir sitzen mitten im Treiben, frisch geduscht und noch ein bisschen matt von der frischen Luft und dem Kurzbesuch in der Sauna und lassen es uns gut gehen. Der enge Abstand zwischen den Tischen schafft Nähe unter den Gästen. Man ist irgendwie gemeinsam hier. Als ich mich in der Schlange zwischen Hering, Köttbullar und Käsekuchen erkundige, was die Leute denn gerade an diesen Ort treibt – vom Essen mal abgesehen –, nennen viele gerade die familiäre Atmosphäre als Grund.
Die Ballroom Band, die anschließend die Bühne betritt, um das satte Publikum mit einer Mischung aus Folk, Country und Rock’n’Roll in Fahrt zu bringen, ist ebenfalls Teil der Familie und hat selbst eine besondere Verbindung zur Grube: »Hier hat vor vier Jahren alles angefangen«, erzählt Sänger Martin. Auf einem »Efterfest« (dt. Party danach) hatte er den Liedermacher Pelle getroffen. »Nach fünf Liedern, ein paar Bieren und einer Gitarre stand fest, dass wir eine Band gründen.« Seitdem ist das Wirtshaus die Heimarena der Ballroom Band, zu der sie immer wieder zurückkehrt. Entsprechend viele Fans sitzen im Publikum. Robert zum Beispiel, der nur für den Konzertabend aus Värmland angereist ist. 420 Kilometer.
Heute unterstützt die Band außerdem den Singer-Songwriter Christian Kjellvander. »Wir wussten, dass Christian eingeladen war, und als wir das letzte Mal zusammen gespielt haben, passierte etwas Magisches auf der Bühne«, sagt Martin. Dieses Gefühl wiederholt sich auch heute. Das Maschinenhaus vibriert. Als Finale steht das gesamte Wirtshausteam auf der Bühne mit Gitarre, Bass und Akkordeon, und man spürt, es sind diese leidenschaftlichen Momente, für die Maria, Janne und ihre Mitarbeiter leben, hier draußen in Skottvågns Gruva.
Als die Musik verstummt ist und der Saal sich geleert hat, sammelt sich der harte Kern der »Skottvågn-Familie« um den Kamin: Die Musiker, die Gastgeber, die härtesten Fans, ein paar Einheimische und wir, die es nicht weit zu unserer Unterkunft haben, in der hoffentlich der Ofen noch in Gang ist. Es herrscht eine vertraute Stimmung, in der man sich viel zu erzählen hat, über Musik, gemeinsame Erfahrungen und Menschen, die man kennt.
Als ich das helle, warme Gasthaus schließlich verlasse, wirkt die Dunkelheit draußen schwärzer als sonst. Vorsichtig tastet sich das Licht der Stirnlampe den Weg hinauf zur Stube. Ein müder Holzfäller auf dem Weg heim vom Fest im Dorf. Ich blicke zurück auf den Tag, der in der nebeligen Landschaft begann und in einem rauschenden Kulturerlebnis endet. Als wären zwei Regisseure am Werk gewesen – ein Naturliebhaber und ein Genussmensch. Besser als ein schlapper Samstag zu Hause auf dem Sofa. Besser als der Weihnachtstrubel in Gamla Stan. Und besser als ein frisch gestrichener Flur in Türkis.