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Berge, Stille, Einsamkeit, die ersten Frühlingsboten und ein paar spezielle Abenteuer: Das erwartete unseren Autoren Gabriel Arthur und den Fotografen Stellan Herner, als sie mit dem letzten Flug der Saison in dem kleinen schwedischen Skiort Hemavan ankamen.
ALS DER HUBSCHRAUBER …
…hinter den Bergen verschwunden ist, kommt uns die Stille geradezu unwirklich vor. Zwei braune Holzhäuser, mit Klohäuschen und Schuppen daneben, liegen am Fuß eines Abhangs. Auf der anderen Seite der breiten Am hohen blauen Himmel schweben ein paar Wolkenstreifen, und im Tal rührt sich kein Lüftchen. Es ist still – merkwürdig still.Talschneise steigt das Gebirge wieder steil an. Das Tal setzt sich nordwärts fort, wendet sich dann nach rechts und bildet eine perfekte U-Form. Es heißt Södra Lapporten und ist weniger bekannt als Norra Lapporten bei Abisko, eines der meistfotografi erten Motive der schwedischen Fjällwelt – aber nicht weniger eindrucksvoll. Im Winter brausen manchmal Schneestürme durch das Tal wie Wildwasserfl uten. Das bedeutet Lebensgefahr für ungeübte Skiläufer. Gefährlich ist es auch für die Gebäude. Die Übernachtungshütten, die vom schwedischen Tourismusverband betrieben werden, lagen früher einige Kilometer weiter nördlich. Durch einen ungewöhnlich heftigen Sturm wurden sie zerstört. An ihrem neuen Platz scheinen sie nicht unbedingt geschützter zu liegen: Ringsum gibt es weder Felsblöcke noch Vegetation. Wir befinden uns hier ein paar hundert Meter oberhalb der Baumgrenze. Aber heute brauchen wir uns vor Stürmen nicht zu fürchten. Am hohen, blauen Himmel schweben ein paar Wolkenstreifen, und im Tal rührt sich kein Lüftchen. Es ist still – merkwürdig still.
VOR DREI STUNDEN …
…war ich noch im frühlingsmilden Stockholm. In den skandinavischen Ländern ist die Frühlingssonne fast etwas Heiliges. Temperaturen, die man in südlicheren Zonen als kühl empfindet, werden hier als Hitzewelle bejubelt. Niemand will dann im Haus bleiben. Die Leute drängeln sich auf den Caféterrassen und halten ihre Gesichter in die Sonne. Statt uns auch ins Café zu setzen, was verlockend wäre, laden der Fotograf Stellan und ich unsere Skiausrüstung samt Gepäck in ein Taxi und fl iegen in das kleine Fjälldorf Hemavan. Hemavan gehört zu den wenigen Skiorten mit eigenem Flugplatz. Das ist aber auch das einzige, was es mit Jetset-Treff punkten wie dem schweizerischen St. Moritz oder dem amerikanischen Aspen gemeinsam hat. Hemavan besteht aus ungefähr fünfzig rot gestrichenen Holzhäusern, einigen Hotels, ein paar netten Restaurants und einer rustikalen, aus Baumstämmen erbauten Bar. Das Dorf ist charmant und freundlich, aber nicht im geringsten luxuriös (auch wenn der Tourismuschef des Ortes etwas anderes behauptet). Und es ist einer der letzten Außenposten in der Wildnis. Unsere Reisebegleiter Johan und Sven holen uns am Flugplatz ab. In der Wartehalle ziehen wir unsere Skikleidung an und gehen dann wieder hinaus auf die Landebahn. Johan ruft die Helikopterfi rma an und sagt: »Ihr könnt jetzt kommen.« Wenige Minuten später sitzen wir im Hubschrauber, unterwegs nach Södra Lapporten und zu den Viterskalhütten.
IM SOMMER KOMMEN VIELE LEUTE …
…in diese Fjällregion. Die Viterskalhütten sind der südlichste Übernachtungsplatz am Kungsleden, dem bekanntesten Wanderweg Schwedens. Der südliche Teil ist weniger besucht als der nördliche bei Abisko, aber in der Sommersaison kann hier trotzdem so viel Betrieb sein, dass man draußen im Zelt schlafen muss. Im März und April kommen dann die Skifahrer. Als wir eintreff en, sind die Hütten verschlossen, die Gasbehälter abgeschraubt, und die Trinkwasserquelle ist unter einer zwei Meter hohen Schneedecke verschwunden. Vor zwei Wochen, am ersten Mai, sind die Hüttenwirte mit dem Motorschlitten weggefahren, um woanders den Sommer abzuwarten.
IM NORMALFALL IST ES ZIEMLICH EINFACH,…
…auf Skiern zu den Hütten zu gelangen. Man fährt mit dem Lift auf den höchsten Berggipfel in Hemavan, legt die Steigfelle an und läuft ein paar Kilometer in nördlicher Richtung. Dann kann man an der Rückseite des Berges abfahren und ist schnell bei den Hütten. Man muss allerdings den Weg kennen, denn hier gibt es ein paar Steilhänge, die mindestens einen Skifahrer schon das Leben gekostet haben. Man muss auch wissen, dass der Frühling eine riskante Zeit ist. Dass die Übernachtungshütten in den schwedischen Fjällen um den ersten Mai geschlossen werden, liegt daran, dass die Schneedecke einbrechen kann. Wenn die Temperaturen ein paar Tage lang über null liegen, kann der Schnee plötzlich so weich werden, dass er einen Menschen auf Skiern nicht mehr trägt. Noch weniger einen Schneescooter oder einen Hundeschlitten. Man sinkt dann bei jedem Schritt tief ein, wie in Treibsand.
Die Anreise mit dem Hubschrauber hat den Vorteil, dass wir eine Menge Gepäck mitnehmen können, also auch reichlich Lebensmittel und Getränke. Wir werden uns Gourmetmahlzeiten zubereiten können, die es in diesen einfachen Holzhütten sonst nicht gibt. »Sollen wir uns erst mal ein spätes Mittagessen gönnen?« fragt Stellan, als wir die Quelle freigeschaufelt und das Gepäck hineingetragen haben.
DRAUSSEN VOR DEM HAUS…
…bauen wir uns ein üppiges Smörgåsbord auf. Nach dem Essen schauen wir uns verschiedene Berge und Hänge durch das Fernglas an. Johan hat die meisten Gipfel schon bestiegen und verrät uns, dass es hier haufenweise gute Skitouren gibt. Weiter oben ist der Schnee immer noch kalt und fest. Der nächstgelegene Berg, Dulkotjåkke, ist nicht sehr hoch, man kann in ein paar Stunden oben sein.
Die einzige Spur, die wir unterwegs sehen, stammt von einem einsamen Vielfraß. Nach dem Aufstieg fahren wir auf verschiedenen Wegen ab, in langen, weichen Schwüngen und mit Höchstgeschwindigkeit. Noch immer hat die Großstadt mich und Stellan im Griff, auch wenn wir versuchen, uns zu entspannen und unsere Terminkalender zu vergessen. »Telefonieren könnt ihr nur da oben«, sagt Johan und zeigt auf einen Hang. »Unten bei den Hütten gibt es kein Mobilfunknetz.« Während wir anderen allmählich heimwärts streben, klettert Stellan noch einmal hinauf. Er bleibt eine Stunde weg. Als er dann in die Hütte kommt, berichtet er glücklich: „Ich hab nur ein paar kurze Gespräche geführt. Die übrige Zeit hab ich dort gestanden und die Berge angeschaut, sie sind so unglaublich schön.“ Wir machen Feuer im Kamin, essen ausgiebig zu Abend, öffnen einen Flachmann mit Whisky und beobachten, wie die Sonne über den Bergen langsam untergeht. In der Nacht höre ich, wie es im Schornstein heult. Das heißt, es kommt Wind auf.
DER NÄCHSTE TAG…
…ruft uns in Erinnerung, dass man in den skandinavischen Fjällen niemals Sonnengarantie hat. Unterhalb der Gipfel hängen schwere Wolken, ein grauer Deckel liegt über dem Tal, und es geht ein starker Wind. Deshalb beschließen wir, eine lange Skitour durch zwei Täler zu machen, um herauszufi nden, ob es einen geschützten Weg auf den höchsten Berg dieser Gegend gibt, Norra Sytertoppen. Der Höhenunterschied von den Hütten zum Gipfel beträgt ungefähr tausend Meter.
Als wir gerade aufbrechen wollen, kommt eine einsame Skiläuferin auf uns zu. Es ist Kajsa, Johans Frau, die sich trotz der beginnenden Schneeschmelze zu uns auf den Weg gemacht hat. »Ich hab einen Babysitter für die Kleinen gefunden, da kann ich heute und morgen mit euch zusammen sein«, sagt sie fröhlich. Sie erzählt, dass ihr Schwiegervater sie mit dem Scooter auf den Berg gebracht hat und dass sie dann auf der anderen Seite heruntergefahren ist. Das klingt ungefähr so harmlos, als hätte ein Stadtbewohner gerade die Abendzeitung geholt. Stellan und ich schämen uns ein wenig, weil wir unbedingt den Hubschrauber nehmen wollten. Im Laufe des Tages wird uns immer wieder klar, dass Johan, Kajsa und Sven diese Gebirgsgegenden als eine Art riesigen Vorgarten betrachten.
DER FRÜHLING…
…hat auf den Bergen in der Umgebung seine ersten Spuren hinterlassen. An den Südhängen kommen grauschwarze Felsblöcke und Steine unter dem Schnee hervor, so dass die Landschaft aussieht wie das Fell eines Dalmatiners. Als wir an einer schneefreien Stelle unsere Kaff eepause machen, hören wir Vogelgezwitscher! Schneeammern und Goldregenpfeifer sind schon aus dem Süden zurückgekehrt. Ein kleiner Lemming fl itzt zwischen den Steinen umher. Aber heute ist das Wetter schlecht. Wir laufen in einem Halbkreis um Norra Sytertoppen herum, ohne dass der Wind an irgendeiner Stelle nachlässt, doch wir beschließen, uns von ihm nicht unterkriegen zu lassen. Johan zeigt uns auf der Karte, dass sich oben auf dem Berg eine kleine Hütte für Rentierhüter befindet, und gibt die Koordinaten in sein gps ein: »Wenn es stürmisch wird, können wir uns dort unterstellen.« Je höher wir kommen, desto stärker wird der Wind, und bald ist er tatsächlich zum Sturm geworden. Wenn wir uns verständigen wollen, müssen wir Schulter an Schulter stehen und einander ins Ohr brüllen. Die Kapuzen fl attern und knattern uns um den Kopf. Wir haben jetzt die Wolkenschicht erreicht, die Sichtweite beträgt ungefähr fünf Meter, dahinter ist alles nur noch weiß. Wir drängen uns dicht aneinander wie Herdentiere, die sich gegenseitig Schutz gewähren. Unter solchen Bedingungen ist es schwer, eine Entscheidung zu treff en. Der Sturm betäubt die Sinne, die Kräfte schwinden, widersprüchliche Gedanken und Gefühle kämpfen gegeneinander: Auf der einen Seite stehen Neugier und die idiotische Angst, feige zu erscheinen, auf der anderen die realistische Einschätzung der Gefahr und die Einsicht in die eigenen Grenzen. Hört man zu sehr auf seine eigenen Befürchtungen, kommt man nie auf einen Berg hinauf. Hört man gar nicht auf sie, fällt man nur zu leicht von einem herunter. »Wir kehren um!« rufe ich schließlich. Danach bin ich stolz auf meine Entscheidung: dass ich auf den Gruppenzwang gepfiffen und mir selbst vertraut habe. Ich komme mir reif und erfahren vor. Ein paar Tage später hören wir übrigens, dass die Hütte vollständig vom Schnee zugedeckt ist. Wir hätten sie nicht einmal bei strahlendem Sonnenschein gefunden. Das Gefühl der Reife hält ungefähr einen Tag vor, dann bin ich wieder ich selbst.
JOHAN UND ICH …
…haben unsere Skier an den Rucksäcken befestigt. Wir sind an der linken Seite einer kleinen Steilwand hochgeklettert und dann schräg weiter aufgestiegen. Unser Ziel ist ein Felsvorsprung etwa fünfzig Meter weiter oben. Dort ist es flach genug, um die Skier anzuschnallen. Dann wollen wir einen Hang rechts von der Steilwand hinunterfahren, der verlockend aussieht und ein ordentliches Gefälle hat. Die Sonne scheint, aber hier sind wir auf der kalten Schattenseite. Leider haben wir nicht damit gerechnet, dass der Schnee am Hang über der Steilwand eine harte Eiskruste hat. Wieder hinunterzuklettern wäre ebenso gefährlich wie die Abfahrt auf Skiern. Ich atme ein paar Mal tief durch und fahre los.Ich muss mit dem Skischuh kräftig zutreten, um mit der Schuhspitze den vereisten Schnee zu durchstoßen, so dass eine zentimeterhohe Treppenstufe entsteht. Dann bewegen wir uns vorsichtig aufwärts, wie auf einer spiegelglatten Miniaturtreppe. Wir haben weder Eisäxte noch Steigeisen dabei. Sollte einer von uns ausrutschen, hieße das, dass er rasend schnell bis zur Steilwand rollen und dann etwa zehn Meter tief abstürzen würde. Die anderen schauen uns von unten zu. Johan wirkt konzentriert, scheint aber keine Angst zu haben. Ich dagegen habe Angst und versuche, konzentriert zu wirken. Ich überlege, warum ich mich in diese Situation gebracht habe. Es gibt einige Parallelen zu gestern – aber heute habe ich die falsche Entscheidung getroffen. Schließlich erreichen wir den Felsvorsprung, der mit Schnee bedeckt ist. Johan schnallt seine Skier an, um dieselbe vereiste Strecke hinunterzufahren, die wir gerade hochgeklettert sind. Eine falsche Bewegung würde bedeuten, dass er im Abgrund landet. Er fährt los, schlittert auf die Steilwand zu, findet wieder Halt und kriegt die Kurve zum Hang auf der rechten Seite. Dann sehe ich ihn mit eleganten Schwüngen abfahren. Dies ist ein klassischer »point of no return«. Wieder hinunterzuklettern wäre ebenso gefährlich wie die Abfahrt auf Skiern. Ich atme ein paar Mal tief durch und fahre los. Gleite seitwärts oben an der Steilwand vorbei und erreiche den Hang. Werde übermütig. Beschleunige das Tempo, fahre immer weitere Schwünge – und baue einen kräftigen Sturz, zehn Meter über einer zweiten kleinen Steilwand. Zum Glück ist der Schnee hier weicher, so dass ich nicht abrutsche. Als ich unten ankomme, sehen die anderen nachdenklich aus. Meine Handlungsweise kommt ihnen off enbar unlogisch vor. Das verstehe ich gut, denn das war sie auch.
NACH ZWEI ABENTEUERLICHEN…
…Tagen ist es an der Zeit, die Dinge ruhiger anzugehen. Endlich: Der Körper hat den Großstadtstress und das Adrenalin ausgeschwitzt. Der Winter hat sich nach Norden verzogen, die Temperaturen sind angenehm, obwohl es bewölkt ist. Unsere Pausen werden länger, ebenso wie unsere Gespräche, und die Klettertouren dafür kürzer. An vielen Stellen hören wir jetzt das Schmelzwasser in Rinnsalen und Kaskaden die Felsen hinab fl ießen. Wir verbringen eine Menge Zeit damit, den idealen Platz zu fi nden, wo wir direkt aus einem kleinen Bergbach trinken können. Das kalte Wasser schmeckt herrlich. Die Flechten und Moose um uns herum leuchten intensiv, trotz ihrer dunklen Farbtöne. Johan und Kajsa, die Kleinkindeltern, leisten sich den Luxus, auf der Hüttentreppe ein Buch zu lesen, jeder eins – »das erste Mal seit einem Jahr!« – , und Sven trainiert seine Hunde. »Endlich ist der Frühling da«, sagt Johan, und niemand hat etwas dagegen einzuwenden.