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Geschätzte 190 000 Seen gibt es in Finnland. Große und kleine, lange und kurze, runde und eher gestreckte. Einige davon bilden das Saimaa-Seengebiet – ein kleiner Ausschnitt nur aus den schier unendlichen Paddelmöglichkeiten Skandinaviens, aber dennoch mehr als genug für einen schönen Urlaub.
Seit einer halben Stunde gleiten unsere Boote über einen von ihnen, den Haukuvesi. »Wie viele Inseln es da gibt, möchte ich gar nicht erst wissen!«, ruft Katrin zu mir herüber. Vor uns liegen ein gutes Dutzend, und das allein auf diesem einen See. Vor dem Bug geht eine Insel leicht in die nächste über, da glaubt man plötzlich, eine Landzunge vor sich zu haben, obwohl sich doch nur Eiland an Eiland reiht. Vom kleinen Ort Oravi, 30 Kilometer nördlich von Savonlinna, sind Katrin und ich zu einer achttägigen Kajaktour gestartet. Wir werden kurz durch den Linnansaari-Nationalpark paddeln, später durch den Heinävesi-Nationalpark und weiter durch viel, viel Natur ohne ausgewiesenen Schutzcharakter, oft ohne einen Unterschied zu spüren. Ziel: das Kloster Valamo, 100 Kilometer entfernt im Norden. Jukka, der Chef des Kanuverleihs und der Jugendherberge von Oravi wird uns in acht Tagen dort abholen. »Paddeln viele Leute diese Strecke?« hatte ihn Katrin gestern gefragt. »Nee. Keiner eigentlich.« Punkt. Fertig. Gesprächig ist Jukka nicht.
Aber welcher Finne ist das schon? Karte und Kompass immer im Blick, tasten wir uns langsam voran. In den ersten Tagen sehen fast alle Inseln gleich aus: ihr Haupt gekrönt von Kiefern und Fichten, mal ein paar Birken oder Pappeln. Selten größere Erhebungen oder markante Felsen. Das Wasser hat beste Qualität, ganz unabhängig von seinem jeweiligen Farbton, und ist bedenkenlos trinkbar. Auch viele Fische fühlen sich da wohl. Und weil sich das seit Jahren nicht geändert hat, sind die Seen der Saimaa-Region auch heute noch Heimat einer ganz besonderen Spezies: der Saimaa-Ringelrobbe, einer von nur zwei Süßwasser- Robbenarten weltweit. 270 Exemplare soll es noch geben, eine Population, die zwar noch weit entfernt davon ist, stabil zu sein, die sich aber in den letzten Jahren stetig vergrößert hat. Als Paddler stehen die Chancen angeblich nicht schlecht, eines der seltenen Tiere zu Gesicht zu bekommen, haben wir gehört. So hoffen wir Tag für Tag und legen oft lange Phasen ein, in denen wir still an Uferzonen entlang paddeln, die wir als robbenfreundlich einstufen. Irgendwo wird sich vielleicht ein Tier sonnen und gar nicht mitbekommen, dass wir herankommen.
Adler-Kino frei Haus
Die erste freie Insel, die sich einen Tag später für eine Mittagsrast eignet, gehört einem Fischadler, er kreist über uns als wir näher kommen, dann sehen wir seinen mächtigen Horst im Wipfel einer Kiefer. Schöner Wohnen für Adler. Da haben Paddler nichts zu suchen, und so begnügen wir uns mit einem felsigen Buckel etwas weiter, der zwar keine Möglichkeit bietet, einmal die steifen Glieder auszustrecken und in bequemer Lage ein Nickerchen zu halten, aber immerhin ein Adler-Kino durchs Fernglas ermöglicht. Das Saimaa-Seengebiet ist über 4 000 Quadratkilometer groß, und bietet zwei ausgewiesene Nationalparks. Zwar genießt die Natur dort einen besonderen Schutz, doch verglichen mit vielen anderen Regionen auf der Welt wirkt fast das gesamte Seengebiet wie ein einziger riesiger Nationalpark.
So viel Natur und so wenige Menschen – wo kann man das noch erleben in Europa, wenn nicht in Skandinavien? Den ganzen Tag schon hatte ich geangelt, es zumindest versucht, doch trotz der hohen Fischdichte kein Glück gehabt. Jukka aus Oravi hatte mir einen feschen Köder aus Holz verkauft, der so professionell aussah, dass ich mir hohe Chancen ausrechnete, unser Abendessen regelmäßig durch Fisch bereichern zu können. Mehrfach hatte ich versucht mir vorzustellen, was passieren würde, wenn eine gefräßige Ringelrobbe sich unseren Köder schnappen würde. An das, was jetzt im warmen Abendlicht mitten auf dem Pyttyvesi-See passierte, hatte ich bisher keinen Gedanken verschwendet.
Wir legten mitten auf dem See eine kleine Pause ein, um durch das Fernglas ein Fischadlerpaar zu beobachten. Plötzlich reißt es an der Angel, hinter uns bricht Geschrei und Gekreische los. Als wir uns umdrehen, glauben wir unseren Augen nicht: Wir haben eine Möwe am Haken. Schnell entdecken wir, dass sie den Köderfisch zwar nicht verschluckt hat, sich die Haken allerdings in ihren Fuß gebohrt haben. Die Möwe zetert ganz fürchterlich und will davonfliegen, doch das macht alles nur noch schlimmer. Ich hole sie mit der Angel näher heran, und während Katrin versucht, den Vogel mit dem Paddel so sanft es geht davon abzuhalten, nach mir zu hacken, löse ich den Köder. Zum Glück hat sich nur einer von neun Haken in der Schwimmhaut eines Fußes verfangen. Noch bevor die Möwe begreift, wie ihr geschieht, ist sie frei und fliegt wütend, aber unbeschadet davon.
Ohne Mücken und Touristen
Schlimme Zustände hatten wir bezüglich der Mücken befürchtet. Wilde Geschichten über Moskitoplagen im finnischen Feuchtland gibt es zuhauf. Doch wir scheinen sonderbares Glück zu haben. Zwar haben wir unsere Reisezeit bewusst auf den Ende des Sommers gelegt, doch der erste Frost ist noch weit entfernt. Trotzdem sind uns bisher überhaupt kaum Mücken begegnet. Vielleicht haben sie sich mitsamt der Touristen verkrümelt. Wir sind jetzt auf dem Weg in den Kolovesi-Nationalpark. Hier soll es die höchste Dichte von Saimaa-Robben geben. Hier ist das Wasser besonders tief, tiefer als sonst üblich im Saimaa-Gebiet, in dem der Grund sonst durchschnittlich gerade mal sieben Meter unter der Wasseroberfläche liegt. Felswände steigen nun bis 40 Meter hoch fast senkrecht aus dem Wasser. Nach einer Weile paddeln wir an einer Hütte des Metsähallitus vorbei, dem finnischen Amt für Staatswälder. Hütten wie diese stehen Wanderern und Paddlern in vielen Nationalparks oder Naturschutzgebieten Finnlands zur Verfügung, oft kostenlos. Sie sind mit Pritschen und gusseisernen Öfen, mitunter sogar mit traditionellen Saunen ausgestattet. Diese Hütte hier scheint allerdings schon belegt zu sein, demonstrativ hat jemand ein großes Handtuch auf die Wäscheleine gehängt. Da wir genauso gern im Zelt schlafen und die Sonne noch hoch steht, paddeln wir entspannt weiter.
Am Abend steuern wir die Halbinsel Lappiniemi an, die einen Zeltplatz hat. Ähnlich liebevoll wie die Wanderhütten ist auch dieser Ort angelegt: es gibt einen schönen Steg zum Anlegen und im Wald mehrere Plattformen, auf denen man sein Zelt aufstellen kann. Nur wenige Schritte sind es zum Schuppen mit Brennholz, Säge und Axt, in dessen Nachbarschaft sich auch ein Toilettenhäuschen befindet. Kurz nachdem wir am nächsten Tag den Kolovesi-Nationalpark verlassen haben, erreichen wir die bekannten Felszeichnungen von Vierunvuori. Vor mehr als 5 000 Jahren wurde hier mit einer Farbe aus eisenhaltigem Lehm ein Elch auf den Fels gezeichnet. Ein Mann steht daneben, ein roter Punkt markiert das Herz des Tiers und legt nahe, dass es sich um eine Jagdszene handelt. In Zeiten, als man großen Tieren mit den vorhandenen Waffen nur sehr schwer beikommen konnte, wurden sie oft von einer größeren Gruppe von Jägern über Felsklippen getrieben und auf diese Weise getötet. Schon lange hatten wir uns gefragt, was wohl das Wort »Kanava« auf unserer finnischen Karte zu bedeuten hatte. Als wir einen Kilometer weiter um eine Kurve gepaddelt kommen, wissen wir endlich um die Bedeutung: Eine Stromschnelle blockiert den Weg, doch eine Kanava, eine Schleuse, macht das Hindernis passierbar.
Inselhopping mit Kajak
Die wahren Highlights unserer Kajaktour durch das Saimaa-Seengebiet eröffnen sich allabendlich: mit fast 15 000 Kilometern Küstenlinie und gut 14 000 Inseln, das haben wir inzwischen nachgelesen, sind die Möglichkeiten unerschöpflich. Jeden Abend aufs Neue nehmen wir ein unbewohntes Stück Land, eine kleine Bucht oder eine noch kleinere Insel in vorübergehenden Besitz. Auf einer Landzunge entdecken wir eine Terrasse, auf der frei stehende Kiefern ihre Nadeldächer schützend über das Lager ausbreiten und einen Tag später eine winzige Insel, die gerade groß genug ist, um unser Zelt und die beiden Boote aufzunehmen. Und auch das macht eine Tour hier so einzigartig: man muss die großartige Natur, das Wasser, die Wälder, die Luft, nur ganz selten einmal teilen. Am vorletzten Tag liegen ganze sieben Schleusen vor uns, mal verbunden durch künstlich angelegte Kanäle, mal durch flussartige Abschnitte, in denen das Wasser strömt. An den Schleusen von Varistaipale gibt es gleich vier Becken hintereinander, ein Schleusenwärter überwacht hier das Geschehen. Jedes Mal, wenn sich die massigen Tore hinter unserem Rücken geschlossen haben, müssen wir uns gut festhalten, um im brodelnden Becken nicht zum Spielball des Wassers zu werden, das äußerst unruhig ansteigt. 14,5 Meter Höhenunterschied werden in Varistaipale insgesamt überwunden.
Der Kanal, in den die Schleusen integriert sind, ist nur etwas länger als ein Kilometer, doch schaufelten hier von 1911 an 400 Männer vier Jahre lang, um den Kanal fertigzustellen, der vor allem für die Flößerei eine wichtige Bedeutung bekam. Zum orthodoxen Mönchskloster Valamo, unserem Ziel, ist es jetzt nicht mehr weit. Nach dem Abendessen, unserem letzten im Saimaa- Gebiet, liegen wir mit vollen Bäuchen zufrieden auf dem Steg und schauen über das stille Wasser, in dem sich die Kiefern des gegenüberliegenden Ufers spiegeln. Ein Eistaucherpaar gleitet vorbei. Noch lange könnten wir hier liegen und zusehen, doch zaghaft beginnt ein Frösteln heraufzuziehen, sich seinen Weg vom dunklen Wasser durch die Bretter des Stegs in unsere Körper zu suchen. Da locken die Schlafsäcke. Und morgen noch einmal die Schönheit des Saimaa-Seengebiets.