Wir sind wieder da. Bereits vor einem Jahr standen wir hier, auf dem einsamen Parkplatz am Ortseingang von Kilpisjärvi, im nordwestlichsten Zipfel Finnlands, bereit für ein mehrtägiges Winterabenteuer. Auch damals wollten wir auf einer hundert Kilometer langen Wanderung den höchsten Punkt Finnlands erreichen – und es war eine riesige Enttäuschung für uns, als sich das Wetter und eine Lungenentzündung unserem Ziel in den Weg stellten und uns zum Abbruch der Tour zwangen. Diesmal soll es klappen.
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Unser Ziel ist das Wildnisgebiet Käsivarsi am Dreiländereck zwischen Finnland, Schweden und Norwegen. Hier liegt neben Finnlands höchsten Gipfeln auch Finnlands höchster Punkt, der Halti (1 324 Meter). Höchster Punkt deshalb, weil der eigentliche Gipfel des Massivs (1 361 Meter) bereits in Norwegen liegt. Finnlands größte Erhebung ist also streng genommen nicht mehr als ein Punkt an einem Berghang.
Die Besteigung des Halti ist aber nur ein Motiv unserer Expedition. Als Geographen fasziniert mich und meine Freunde Carsten und Torsten seit jeher die Ursprünglichkeit von Lapplands Landschaft: die unberührte Natur, die Menschenleere, die Einfachheit der Hütten, die Weite. Zusammen haben wir hier bereits mehrere Wintertouren unternommen und es ist für uns jedes Mal eine Flucht aus der Zivilisation – hinein in die Freiheit, weit weg von allem. Im Gegensatz zu Nationalparks sind Wildnisgebiete wie Käsivarsi weniger gut erschlossen und bieten noch Platz für richtige Abenteuer. Zu dieser Jahreszeit, Anfang Februar, trifft man hier – wenn überhaupt – nur ein paar Rentierhirten, Eisangler oder eingefleischte Winterwanderer wie uns. Drei Tage Wanderung durch die baumlose arktische Tundra Lapplands und fünfzig Kilometer Wegstrecke liegen vor uns.
Übernachten werden wir in Schutzhütten. Fünf sogenannte »autiotupas« liegen auf dem Weg zum Halti. Sie sind frei zugänglich und bieten Schutz vor tiefen Temperaturen und rauer Witterung. Nur mit dem Nötigsten, wie einem Holzofen und einer Liegefläche, sind sie ausgestattet. Annehmlichkeiten wie Elektrizität oder Wasser lassen sie vermissen. Es ist genau diese Reduziertheit, die wir suchen.
Tag 1 – Nordlichtspektakel am Eissee
Ausgerüstet mit Pulka, Skiern und Schneeschuhen, gehen wir hinein in das Wildnisgebiet. Schon nach einigen Kilometern ist von dem Schneemobillärm, der Kilpisjärvi umgibt, nichts mehr zu hören. Es wird still. Es weht kein Lüftchen. Alles, was wir hören, sind der eigene Atem und das knarzende Geräusch, das die Skier erzeugen, wenn sie sich voller Kraft in den eisigen Schnee drücken. Hier auf den Hochebenen Lapplands gibt es weder hörbaren Flugverkehr noch Tiergeräusche oder fließendes Wasser. Wir fragen uns, wann wir das letzte Mal so eine Stille erlebt haben und kommen schnell zu dem Schluss, dass wir uns nicht erinnern können. Es sind die kleinen Dinge, die hier im Norden an Bedeutung gewinnen und den Ausstieg aus dem Alltag perfekt machen.
Ein Feuer im Ofen bringt mehr Sicht und die dringend benötigte Wärme.
Die Sonne ist längst einem dunklen lilafarbenen Himmel gewichen, als wir die erste Hütte am Ende eines zugefrorenen Sees erreichen. Es ist bereits so dunkel, dass in der Hütte kaum etwas zu erkennen ist. Ein Feuer im Ofen bringt mehr Sicht und die dringend benötigte Wärme. Nach etwa 30 Minuten knackt die Temperatur in der Hütte die Null-Grad-Marke. Es geht bergauf. Eine Stunde später herrschen angenehme 20 Grad. Geschmolzener Schnee dient dazu, Essen zuzubereiten und Tee zu kochen. Während wir uns drinnen stärken, verabschiedet sich draußen die Schönwetterperiode mit einem Nordlichtspektakel, das wir so nur selten gesehen haben. Die grünen Schleier sind so hell, dass sie sogar durch das kleine Fenster der Hütte gut zu sehen sind.
Ich beschließe, noch einmal in meine kalten Schuhe zu schlüpfen und das Schauspiel unter freiem Himmel zu betrachten. Ein erhabenes Gefühl durchströmt mich jedes Mal, wenn ich unsere Atmosphäre in solchen Farben erstrahlen sehe. Ein Anblick, dem ich wahrscheinlich niemals überdrüssig sein werde.
Tag 2 – Abschied von der Außenwelt
Am nächsten Morgen ist der Himmel bedeckt. Die Hütte hat sich wieder bis zum Gefrierpunkt abgekühlt und wir beschließen, so schnell wie möglich weiter zu ziehen. Die Sicht ist schlecht. Kontraste und Konturen verschwimmen zusehends. Wir laufen in einer Art Whiteout. Ein Jahr zuvor mussten wir aufgrund solcher Witterungsbedingungen umkehren. Damals waren wir zu langsam vorangekommen und konnten nur mit Mühe und Not mittels Karte und Kompass zur nächsten Hütte finden. Doch dieses Jahr sind die Markierungen besser gesetzt. Die Skier und Pulkas laufen gut und wir erreichen rechtzeitig in einem Tal unser Tagesziel – die kleine Hütte Meekonjärvi.
Wir heizen ordentlich ein und finden Erholung beim Kartenspielen und Teetrinken. Unser Domizil markiert zugleich jenen Punkt, ab dem die Verbindung zur Außenwelt gänzlich gekappt ist. Von nun an und für die nächsten Tage gibt es keinen Mobilfunkempfang mehr, geschweige denn mobiles Internet. Was sich anfänglich etwas beängstigend anfühlt, wird von uns jedoch sehr schnell als wohltuend empfunden. Statusmeldungen und Nachrichten werden irrelevant. Ab sofort konzentriert sich jeder von uns gänzlich auf den Trip, auf die anderen, auf die Natur und auf sich selbst – die perfekte Möglichkeit, allen geistigen Ballast abzuwerfen und den Blick für essenzielle Dinge zu schärfen.
Tag 3 – Finnlands höchste Hütte
Der nächste Tag überrascht uns mit einem wolkenlosen Himmel und einer fantastischen Weitsicht. Die Temperatur von minus fünf Grad wirkt geradezu frühlingshaft. Gegen Nachmittag entscheiden wir uns, die vorletzte Hütte zu überspringen und direkt die Halti-Hütte anzusteuern. Bei tiefstehender Sonne beginnen wir mit dem entsprechenden Aufstieg. Die Temperaturen sacken merklich ab und der Wind nimmt zu. Unsere Beine funktionieren, weil sie funktionieren müssen. Es fühlt sich an, als ob das Gehirn auf Energiesparmodus schaltet und nur noch für die Koordination von Händen und Füßen zuständig ist. Eine Liedzeile der färöischen Sängerin Akat setzt sich in meinem Kopf fest und begleitet mich wie ein Mantra: »The particles are frozen in the air. If you watch them closely, they are on their way somewhere.«
Gerade einmal zwei kurze Pausen legen wir ein, um etwas zu essen. Sobald der Körper länger als ein paar Minuten rastet, kühlt er spürbar aus. Doch die Szenerie, die sich uns bei den kurzen Stopps in ihrer Gänze zeigt, ist atemberaubend. Die Sonne überzieht das Fjäll, oder »tunturi«, wie es im Finnischen heißt, mit einem samtenen Hauch aus Blau und Lila. Kein Baum, kein Flugzeug und kein Mensch sind weit und breit zu sehen. Uns eröffnet sich eine schier unendliche Landschaft aus Schnee, Eis und Fels.
In der Dämmerung erreichen wir die Hütte. Von Weitem ist sie kaum zu erkennen, da sie von einem schiffsbugähnlichen Schneepanzer umgeben ist. Wir stemmen uns gegen die vereiste Tür, um sie zu öffnen. Als es gelingt, werden wir von einer kleinen Schneelawine begrüßt, die sich aus dem Ofen in die Hütte ergießt. Der Raum ist auf Außentemperatur abgekühlt und es gibt kein trockenes Feuerholz.
Während einer von uns die Hütte von Schnee befreit, schlage ich mich mit meinem anderen Begleiter zum weit entfernten Holzschuppen durch. Mittlerweile hat sich der Wind zu einem Sturm entwickelt. Schnee wird aufgewirbelt und erschwert die Sicht. Mit steifen Fingern hacken wir im künstlichen Licht unserer Stirnlampen einen Holzscheit nach dem anderen. Plötzlich kommt mir in den Sinn, dass wir bei einem Unfall keinen Notruf absenden könnten. Ich verdränge diese unangenehme Vorstellung und verliere mich in Gedanken an eine gut beheizte Hütte und die schöne warme Mahlzeit, die auf uns wartet.
Tag 4 – Freudenschreie auf dem Halti
Nach einer stürmischen und kühlen Nacht und dem Besuch auf der wohl frischsten Toilette, auf der ich je gesessen habe, machen wir uns hochmotiviert an den Aufstieg zum Halti. Die Bedingungen sind ideal. Ein leichter Nebelschleier liegt in der Luft, dennoch ist die Sicht nahezu klar. Es hat sich ein Halo um die Sonne gebildet, ein Lichtring, der entsteht, wenn die Sonnenstrahlen auf die Eiskristalle in der Luft treffen – eine dramatische Stimmung. Die Südflanke des Halti besitzt eine sehr angenehme Neigung, sodass man ohne Probleme und alpinistisches Können den Gipfel erreichen kann.
Mit steifen Fingern hacken wir im künstlichen Licht unserer Stirnlampen einen Holzscheit nach dem anderen.
Dann ist es vollbracht: Wir haben den höchsten Punkt Finnlands erreicht. Auch wenn wir uns nicht wirklich auf einem Gipfel befinden, so fühlt es sich doch wie einer an. Die 1 324 Höhenmeter empfinden wir auf 69 Grad nördlicher Breite als weitaus höher. Die ganze Planung und der Frust über den gescheiterten Versuch entladen sich in einem Freudenschrei. Wir sind überglücklich, und das nur, weil wir auf einem kalten Stückchen Fels in Lappland stehen, den die wenigsten Menschen überhaupt kennen. Von hier aus können wir bis zur norwegischen Küste schauen und die eisigen Ausläufer des skandinavischen Gebirges bewundern. Der Wind pfeift unerbittlich. Die aufgewirbelten Eiskristalle stechen wie kleine Nadeln auf der Haut und auch die Temperatur von minus 14 Grad lädt nicht unbedingt zum Verweilen ein. Nach dem obligatorischen Gipfelfoto auf dem zugeschneiten Grenzstein begeben wir uns schnell auf den Abstieg zur Pihtsusjärvi-Hütte.
Tag 5 – Einsamkeit als Leidenschaft
Als wir am nächsten Morgen weiterziehen, sehen wir am Horizont eine Gruppe Wanderer – die ersten Menschen nach drei Tagen Marsch durch die einsame Tundra. Um eine überfüllte Hütte am Abend zu vermeiden, beschließen wir, stattdessen eine andere kleine Hütte an der norwegisch-finnischen Grenze anzusteuern. Zunächst scheint der Entschluss ein Glücksgriff zu sein: Wetter und Stimmung sind gut und die ersten Kilometer laufen sich hervorragend. Wir wandern über ein wunderschönes System zugefrorener Seen und folgen den Spuren eines einsamen Polarfuchses.
Doch gegen Nachmittag trübt sich die Sicht langsam ein. Nur noch schemenhaft können wir die nächsten Bergrücken erahnen. Nun helfen bei der Navigation nur noch Karte und GPS. Jeden größeren Fels halten wir für die Hütte, die uns endlich Ruhe und Wärme spenden soll. Doch diese möchte einfach nicht erscheinen. Der Körper verfällt in den Energiesparmodus. Die Gespräche verstummen, bis endlich die erlösenden Worte zu hören sind: »Da ist sie«. Nach einem langen, anstrengenden Tag ist das letzte große Ziel erreicht. Neben Erleichterung ist es auch ein erhabenes Gefühl, das sich einstellt. Im Gästebuch der Hütte lesen wir, dass der letzte Besucher vor einem Vierteljahr hier war. Es scheint schier unmöglich, eine größere Ruhe und Ursprünglichkeit vorzufinden als an jenem Ort.
Ich denke an den alten Finnen, den wir vor einem Jahr hier kennenlernten. Er war so stark von der Einsamkeit und der Landschaft fasziniert, dass er jede freie Minute in der nahezu unberührten Natur des Fjälls verbrachte. Dieses leidenschaftliche Gefühl ist für mich in jenem Moment nachvollziehbarer denn je. Und ich weiß, es wird mich immer wieder zurück in solche entlegenen Regionen führen.