Die drei Trolle, die so emsig den Graben zwischen den Westfjorden und dem restlichen Island ausgehoben haben, waren damals übrigens derartig in ihre Arbeit vertieft, dass sie von der aufgehenden Sonne überrascht wurden und sich an Ort und Stelle zu Stein verwandelten. Noch heute schaut die versteinerte Trollfrau bei Drangsnes wehmütig aufs Meer hinaus.
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Drei Trolle gruben eine tiefe Schneise, um die Westfjorde vom restlichen Teil Islands zu trennen. So erklärt eine isländische Volkssage die zerklüftete Landschaft im Nordwesten Islands, die an ihrer schmalsten Stelle nur sieben Kilometer breit ist. Hätte mir jemand heute einen Spaten in die Hand gedrückt, hätte ich mit links gegraben. Meinen rechten Arm habe ich mir ein paar Wochen vor dem Trip nach Island beim Snowboarden gebrochen. Er steckt noch immer in einer Bandage. Trotzdem will ich in den nächsten Tagen, gemeinsam mit den Isländern Íngo, Erlendur und der Kanadierin Kimberley Dunlop, die besten Spots zum Snowboarden und Wellenreiten in den verschneiten Westfjorden kennenlernen.
Auf Island gibt es 15 aktive Surfer. Ingolfur Olsen, genannt Íngo, und Erlendur Þór Magnússon aus Reykjavík sind zwei davon. 2010 haben sie die »Arctic Surfers« gegründet, um Wasser- und Schneesportlern aus aller Welt die Möglichkeit zu bieten, Islands beste Wellen und Abfahrten gemeinsam mit lokalen Experten zu erleben. Erlendur ist Fotograf und Íngo eigentlich Zahntechniker. Da er aber viel lieber an Surfboard-Finnen als an Zahnspangen herumschraubt, hat er sein Hobby zum Beruf gemacht.
In Reykjavík verstauen wir unsere Wellenreiter auf dem Autodach und beladen den Wagen mit Snowboards, Skiern, Stand-Up-Paddle-Boards, Neoprenanzügen und einer ungewöhnlich großen Stückzahl an Thermoskannen. »Warte ab, dafür wirst du noch dankbar sein«, grinst Íngo zu mir rüber. Nach einem kurzen Proviant-Stopp in Borgarnes machen wir uns auf die sechsstündige Fahrt in die Westfjorde. Auf einer Raststätte in Staðarskali treffen wir Erlendurs Cousin Jonas Stefansson, kurz Jonní, einen Profi-Skifahrer aus der Stadt Akureyri. Er möchte es sich nicht nehmen lassen, uns in die Wesfjorde zu begleiten. Wir setzen unsere Tour fort und hören Musik von Sigur Rós und Íngos heimlicher Liebe, der isländischen Sängerin Emilíana Torrini. Kim strickt sich eine Mütze aus Schafwolle. Wir essen isländische Lakritze, und Kim und ich sorgen bei den Jungs für hochgradige Belustigung, als wir versuchen, das isländische Wort für Zimtschnecke, »Kanilsnúður«, korrekt auszusprechen.
Warme Quellen und eiskaltes Wasser
Je weiter wir in den Nordwesten vordringen, umso unwegsamer wird es. Die Straßen sind nicht durchgängig asphaltiert. Es geht auf Schotterpisten mit großen Schlaglöchern vorwärts. Eismassen türmen sich am Wegesrand. Der Wind rüttelt so unbarmherzig am Auto, als wolle er die Surfboards vom Dach reißen und uns in den Straßengraben fegen. Alles ist weiß, so weit das Auge reicht. Íngo steuert uns mit stoischer Ruhe weiter über den Bergpass. Kaum dahinter lässt der Wind plötzlich nach und die Sonne scheint. »Hier treffen ständig Hoch- und Tiefdruckgebiete aufeinander. Das Wetter in den Westfjorden ändert sich quasi mit jedem Augenzwinkern«, erklärt Íngo. Die Gegend mit ihren mächtigen Basaltplateaus zählt zu den geologisch ältesten Teilen Islands. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Insel sind in dieser zerklüfteten Landschaft keine vulkanischen Aktivitäten zu verzeichnen. Heiße Quellen hingegen finden sich hier an vielen Stellen.
Am Mjoífjörður biegen wir von der Hauptpiste ab und stehen kurz darauf vor einem geothermischen Pool. Ein Farmer hat hier ein Becken errichtet und jeder ist willkommen, ein Bad in der heißen Quelle zu nehmen. Mit drei Sprüngen sind wir in der überdimensionalen Wanne mit Blick auf den Fjord und die angrenzenden ver- schneiten Berghänge. »Wer traut sich, da drüben schwimmen zu gehen?«, fragt Jonní und zeigt auf den Mjoífjörður. Wir trauen uns alle und kühlen uns nach dem heißen Bad mit viel Geschrei im zwei Grad kalten Wasser ab.
Auf unserer Weiterfahrt passieren wir einige verwaiste Höfe. »Viele Menschen haben die Westfjorde verlassen«, erzählt Erlendur. »Nicht jeder kann mit der abgeschiedenen Lage umgehen und gerade viele junge Isländer wollen lieber in Reykjavík studieren, als auf dem einsamen Hof ihrer Eltern zu arbeiten.« Die rund 7 500 Menschen, die noch in den Westfjorden wohnen, verdienen ihr Geld meist mit Fischfang oder leben von den Erträgen aus Milch, Wolle und Fleisch. Den letzten Teil der Fahrt legen wir in der Finsternis zurück, und es dauert eine halbe Ewigkeit, in die vielen Fjorde hinein- und wieder hinauszufahren. Íngo erzählt mir isländische Sagen von Elfen. Am späten Abend erreichen wir endlich unser Ziel, das kleine Dorf Flateyri am Önundarfjörður. Die Jungs haben hier ein Haus gemietet, das wir als Basis für unsere Abenteuer nutzen wollen.
Paradies mit Puderzucker
Am nächsten Morgen sind wir alle absolut in Stimmung für eine Tour mit den Skiern und Snowboards. Die Sonne scheint, und es ist windstill. Wir fahren ins Neðri-Breiðidalur. Der Schnee glitzert und nahezu jeder Berg in Sichtweite lädt dazu ein, einen Aufstieg zu wagen. Von den meisten dieser Gipfel ist noch kein Mensch je zuvor auf Brettern hinabgesaust. Wir bekleben unsere Splitboards und Skier mit Tourenfellen und starten den Aufstieg auf eine 750 Meter hohe Kuppe, die wir für unsere erste Abfahrt auserkoren haben. Querfeldein durch den unberührten Schnee den Bergkamm hinaufzuwandern, bringt uns alle ins Schwitzen. Immer wieder legen wir eine Pause ein, um den Ausblick auf den verschneiten Fjord unter uns zu genießen. Je dichter wir zum Gipfel gelangen, umso aufgeregter werden wir. Wir befinden uns ganz allein inmitten einer magischen Puderzuckerwelt aus schneebedeckten Bergspitzen. In der Ferne ist das offene Meer zu sehen.
Wir befinden uns ganz allein inmitten einer magischen Puderzuckerwelt aus schneebedeckten Bergspitzen.
Der Spot ist optimal für eine rasante Tiefschneeabfahrt. Íngo und ich befreien unsere Splitboards von den Fellen und steigen in die Bindungen. Jonní klettert mit seinen Skiern noch etwas höher und präsentiert uns ein paar gekonnte Jumps über vereiste Felsen. Der Schnee ist extrem weich, und ich boarde in ausgedehnten Kurven den Bergrücken hinab. Der Fjord, der von oben noch so unendlich weit entfernt schien, kommt nun stetig immer näher. Zunehmend ragen schwarze Gesteinsbrocken aus dem Schnee, und ich muss mich darauf konzentrieren, diese mächtigen Hindernisse zu umfahren. Íngo ist als Erster unten, und auch ich erreiche einige Minuten später wieder unversehrt die Höhe des Meeresspiegels. Wir toben den ganzen Tag im Tiefschnee und klettern noch den einen oder anderen Grat hinauf, um uns nach dem schweißtreibenden Aufstieg an die verdiente Abfahrt zu machen.
In den gesamten Westfjorden finden sich viele Optionen für Ski- und Snowboardtouren. Gipfel wie der Sauratindar, Búrfell oder Kaldbakur eignen sich für relativ problemlose Aufstiege und rasante Abfahrten. Teilweise kann man hier Neigungen von bis zu 50 Grad hinabrauschen. Viele andere Gegenden sind allerdings derartig abgelegen, dass sie im Winter durch Schneemassen und unbefahrbare Wege extrem schwer zu erreichen sind. Auch andere Teile Islands wie die Region um Akureyri und Húsavík bieten sich für Skitouren an. »Wir testen häufig neue Gipfel. Es ist ein cooles Gefühl, dort zu sein, wo noch nie zuvor jemand war«, sagt Jonní. »Das Wichtigste ist allerdings, dass du das Wetter einschätzen kannst. Lawinen sind das größte Problem.«
Generell kann man das ganze Jahr über auf Island Ski fahren. Die besten Bedingungen herrschen jedoch von Mitte März bis Mitte Mai, da die Schneeverhältnisse zu dieser Zeit relativ stabil sind. Früher im Jahr hindert allein schon das fehlende Tageslicht an einer ausgedehnten Tour durch den Schnee. Im Sommer sind Gletscher wie der Langjökull oder der Snæfellsjökull zu empfehlen. Aber auch hier muss man die Wetterverhältnisse permanent im Blick haben und über eine extrem gute Orientierung im Gelände verfügen, um bei möglichen Gefahren umgehend reagieren zu können.
Nur das Wetter zählt
Als wir uns am späten Nachmittag wieder auf den Rückweg begeben, schlägt Íngo vor, die windstille Abenddämmerung für eine Tour mit den Stand-Up-Paddle-Boards auf dem Fjord vor unserer Haustür zu nutzen. Wir springen mit Board und Paddel über die Mauer und klettern über die Steine in den Önundarfjörður. Das Wasser ist spiegelglatt und die Luft klar. Wir paddeln langsam los und genießen die Stille dieses majestätischen Fjords. Ich spüre die Kälte der Berge auf der anderen Seite der Bucht in meinem Gesicht und kann das Eis riechen. Mit jedem Paddelschlag nähern wir uns dem gegenüberliegenden Ufer, das dennoch unerreichbar scheint.
In dieser Weite fühlt sich alles unwirklich an. Auf einmal wird Íngo unruhig. »Wir sollten umdrehen. Das Wetter ändert sich«, ruft er. Tatsächlich kommt ein leichter Wind auf, der mit jeder Minute kräftiger wird und die ersten Wellen auf dem eben noch so zahmen Gewässer formt. Auch das Tageslicht wird schwächer. Wir paddeln zügig zurück. Kurz bevor wir das Ufer erreichen, beginnt es zu schneien. Als ich aus dem Wasser steige, spüre ich meine Hände zwar nicht mehr, aber die eisige Kälte stört mich gerade überhaupt nicht. Ich bin immer noch ganz gebannt von der mystischen Stimmung auf dem Fjord. Ich muss an die Elfengeschichten denken, die mir Íngo gestern auf der Fahrt erzählt hat. Wenn es hier Fabelwesen gibt, dann waren sie ganz sicher eben mit uns auf dem Wasser.
Ich spüre die Kälte der Berge auf der anderen Seite der Bucht in meinem Gesicht und kann das Eis riechen.
Als ich am nächsten Morgen schlaftrunken zum Frühstückstisch schlurfe, sitzt Íngo schon mit einer Tasse Kaffe vor seinem Laptop. Draußen fallen dicke weiße Flocken zu Boden. »Wenn es schneit, muss man warten«, sagt er, »die Lawinengefahr ist zu groß.« Íngo erzählt mir, dass es im Winter 1995 ein schweres Lawinenunglück in Flateyri gab. Aus dem Eyrarfjal löste sich eine Lawine und begrub 45 Menschen unter sich, von denen 20 nicht gerettet werden konnten. Da der Verbindungstunnel nach Ísafjörður zu diesem Zeitpunkt noch im Bau war und die Straßen über Botnsheiði und Breiðadalsheiði in die Stadt durch die Schneemassen abgeschnitten waren, blieben die Menschen in dem kleinen Ort fünf Stunden auf sich gestellt, bevor Hilfe kam. Retter mussten mit Booten aus Holt nach Flateyri übersetzen. »Das Problematische an den Dörfern in den Westfjorden ist ihre extreme Nähe zu den steilen Bergen«, sagt Íngo. »Sie sind den Lawinen durch ihre Lage schutzlos ausgeliefert.«
Wir beschließen, die Snowboards und Skier heute im Haus zu lassen und uns stattdessen auf die Suche nach surfbaren Wellen nördlich von Flateyri zu machen. An einigen Buchten halten wir an und checken die Swell-Bedingungen. »Hier bricht heute keine Welle für uns«, sagt Íngo, nachdem er das Meer einige Minuten konzentriert beobachtet hat. Wir fahren ein Stück weiter Richtung Süden, um die Fjorde unterhalb von Flateyri nach surfbaren Wogen zu untersuchen. »Wenn man surfen will, muss man reisen«, sagt Íngo. Weiter südlich eignen sich Wellen zwar mit etwas gutem Willen zum Surfen, aber ganz optimal sind die Bedingungen hier ebenfalls nicht. Sie kommen in unordentlichen Sets kreuz und quer in die Bucht gerollt. Zudem nimmt der Wind mehr und mehr zu und es fallen immer dickere Schneeflocken vom Himmel. Wir haben uns mittlerweile in Richtung des größten Wasserfalls der Westfjorde, dem Dynjandi, begeben. Um dorthin zu gelangen, müssen wir einige schwierige Bergpässe überqueren. Mittlerweile sind Himmel und Erde zu einer einzigen weißen Wand verschmolzen. Die Straße vor uns ist maximal noch als dünner Strich zu erkennen. Draußen tobt ein waschechter Schneesturm.
Der Wind auf Island ist hartnäckig. Zehn Grad Celsius können sich bei Sturm schnell wie zehn Grad unter Null anfühlen. Wir können den Pass bei diesen Wetterverhältnissen unmöglich passieren und müssen uns geschlagen geben. »In den Westfjorden kommt man nicht immer dahin, wo man will. Man muss das Wetter respektieren«, sagt Íngo.
Stattdessen gehen wir ins Schwimmbad von Bolungarvík und rutschen um die Wette. In den 39 bis 40 Grad warmen Hot Pots treffen sich die Bewohner der umliegenden Ortschaften, um sich über den neuesten Klatsch und Tratsch zu informieren. Von Íngos Sitznachbarin erfahren wir, dass es hier seit vielen Jahren nicht mehr so hohe Wellen gab wie in diesem Jahr. Auf der Rückfahrt machen wir noch einen Zwischenstopp in Ísafjörður Die Fischereistadt ist mit ihren rund 3 700 Einwohnern das kulturelle Zentrum der Westfjorde. Kim und ich kaufen Wolle. Sie will mir auch eine Mütze stricken. Danach besorgen wir noch schnell die Zutaten für unser Abendessen.
Pflegehinweise für Schafwolle
Zurück in unserem Haus in Flateyri backen wir alle gemeinsam Pizza mit Fisch, Rosmarin, Olivenöl und Zitrone. Später bekommen wir Besuch von Þór, dem dreizehnjährigen Sohn einer Freundin von Íngo und Erlendur. Er erzählt uns, dass seine Mutter Elisabeth in Sœból in diesem Winter mal wieder eingeschneit ist. Die Straße, die zu ihrer kleinen Farm führt, ist nicht mehr befahrbar. Elisabeth ist die Letzte, die in ihrem Tal geblieben ist. Alle anderen sind nach und nach weggezogen. Þórs Mutter betreibt eine kleine Schaffarm und verkauft Lamm, das sich von salzigem Gras und Beeren ernährt. »Einmal die Woche kommt das Rettungsteam und holt Mama ab, damit sie Besorgungen machen kann«, erzählt mir Þór. Da sein Schulweg zu
weit ist, lebt er die meiste Zeit des Jahres bei seiner Schwester in Flateyri. Íngo und Erlendur haben Þór vor zwei Jahren das Snowboarden beigebracht. Seitdem ist es sein liebstes Hobby. Bis spät in die Nacht spielen wir Karten und erzählen uns von unseren Abenteuern. Kim strickt nebenbei an meiner neuen Schafwollmütze. Íngo erwähnt vor dem Schlafengehen noch, dass wir morgen eventuell früh raus müssen, um die besten Wellen des Tages zu erwischen.
Am nächsten Tag weckt uns Íngo tatsächlich in aller Frühe. Gestern Nacht war Vollmond, und heute Morgen weht ein leichter Wind aus Südwesten. Zum Wellenreiten ist diese ablandige Brise optimal und verspricht gute Wellen. Der Spot, den Íngo für uns ausgesucht hat, ist ein sogenannter »Beach Break«. Die Wellen brechen hier auf einer Sandbank, und es surft sich am besten bei Ebbe. Und Ebbe ist genau jetzt. In Windeseile düsen wir zum Strand unserer Wahl. Kim, Jonní und Erlendur schlüpfen bereits im Auto in ihre Neoprenanzüge.
So schnell bin ich heute nicht. Wenn ich normalerweise doch einigermaßen flink in meinen Anzug gleite, erscheint mir das Anziehen mit einem Arm und bei drei Grad Lufttemperatur heute als unüberwindbares Hindernis. Íngo leiht mir seinen selbstgestrickten Wollponcho, eine Art tragbare Umkleidekabine für eisige Tempe- raturen. Meine krampfhaften Versuche, mich einarmig unter dem Wollvorhang ins Neopren zu zwängen, versucht er aufzulockern, indem er mir Pflegehinweise für die Schafwolle gibt. »Wusstest du, dass man isländische Wolle nicht wäscht?«, fragt er, »man legt sie einfach einige Tage in den Gefrierschrank, dann ist sie wieder sauber.« Aber auch seine Ablenkungsmanöver helfen nicht. Alleine komme ich einfach nicht in den Anzug. Die Jungs ziehen mit vereinten Kräften, bis sich endlich auch mein rechter Arm in der 5,4 mm dicken Neoprenschicht befindet. Meine Hände und Füße sind zu diesem Zeitpunkt schon komplett eingefroren. Umso dankbarer bin ich für das heiße Wasser aus den Thermoskannen, das wir in unsere Handschuhe und die Neopren-Boots gießen. Es ist eine Wohltat, kurzzeitig etwas Wärme zu spüren. Jetzt kann auch mich nichts mehr aufhalten.
Unbeschreibliches Glück
Gemeinsam mit Jonní renne ich ins Wasser und wir begeben uns auf Wellenjagd. Erstaunlicherweise läuft das Paddeln mit meinem Arm besser als gedacht, und so komme ich relativ schnell voran. Ich setze mich auf mein Board mit Blick auf die verschneiten Berge und den schillernden Fjord und warte auf das nächste Set heran nahender Wellen. Es ist ganz still um mich herum. In meiner Nase spüre ich die eiskalte Luft. Es riecht nach Meer und Schnee. Ich bin komplett verzaubert von dieser Umgebung, sodass ich für einen Moment vergesse, warum ich hier draußen auf einem Brett sitze. Dann höre ich Jonní hinter mir rufen. Da kommt meine Welle.
Ich weiß, dass ich mit der Kraft in meinem rechten Arm sparsam umgehen muss. Ich bin zum Zerreißen angespannt, denn ich will diese Welle unbedingt surfen. Langsam paddle ich an und gebe dann alles. Die Woge packt mein Board, und ich reite die bislang kälteste Welle meines Lebens. Nur dass ich die Kälte in diesem Moment gar nicht wahrnehme. In dieser spektakulären Natur surfen zu dürfen, erfüllt mich mit einem derartigen Glücksgefühl, dass ich erst wieder in der eiskalten Realität lande, als jemand gefühlt einen Eimer Nägel über meinem Kopf auskippt. Ich bin vom Board ins Wasser gefallen und kurz untergetaucht. Als ich später zitternd ins Auto steige, erzählt mir Jonní, dass er bei seiner ersten Welle auf diesem Fjord auch Glücksgefühle hatte. »Ich würde hier bei absolut jeder Temperatur ins Wasser gehen, es kommt nur darauf an, wie gut die Wellen sind. Bei Minustemperaturen bekommt man allerdings Frostbeulen«, sagt er. Ich möchte etwas erwidern, kann aber meine Lippen vor Kälte zu keinem Wort formen.
Wir düsen in voller Neoprenmontur ins Schwimmbad von Bolungarvík. Íngo kennt hier die Bademeister, die uns mit einem freundlichen »Hæ!« begrüßen. Nicht einmal die Schulklasse, die dort gerade Schwimmunterricht hat, wundert sich sonderlich, als wir in unseren hautengen schwarzen Anzügen die Duschen stürmen. »Als Kind wusste ich nie so richtig zu schätzen, was es bedeutet, auf Island zu leben«, erzählt mir Íngo später auf unserer Rückfahrt nach Reyjkavík. »Erst als ich älter wurde und andere Länder sah, habe ich so richtig verstanden, was für ein unbeschreibliches Glück ich habe, hier auf Island leben zu dürfen und so viele magische Orte und traditionelle Sagen zu kennen.«